Mittwoch
Wie nett von Claire, denkt Marina, dass sie heute freiwillig so viel hilft. Es ist auch noch einiges im Haushalt zu erledigen, denn sie bekommen gleich Besuch. Aber Marina spürt, dass sie es auch tut, um ihr Gesellschaft zu leisten, um sie nicht allein zu lassen. Wegen gestern. Sie hatte versucht, nicht zu schreien, damit die Nachbarn und ihre Tochter nichts mitbekämen. Aber sie bekommen es mit. Immer. Und gestern ist Claire ja zu Hause gewesen. Wie hätte sie es nicht sehen sollen?
Je länger Marina sich mit ihrem Schicksal schon abgefunden hat, desto schwerer fällt es ihr, schöne Sache zu unternehmen, sich zu verabreden, Spaß zu haben. Spaß? Sie weiß ja gar nicht mehr, was genau das ist.
Da ist sie Claire schon dankbar, dass sie das manchmal übernimmt und jede Minute auch ihre Schwester klingeln müsste. Sie wohnt mit ihrer Familie in Beirut, entsprechend selten sehen sie sich. Auch wenn es nicht mehr ihrem Wesen entspricht, einfach mal unbeschwert zu sein, jetzt freut sie sich doch. Ein bisschen Ablenkung wird ihr guttun.
»Mama, ich räum noch eben das Geschirr weg, und dann bin ich gleich bei dir!«, ruft Claire aus der Küche, während Marina es sich bereits auf dem großen Sofa im Wohnzimmer bequem gemacht hat. Sie hört das Klappern des Geschirrs in der Küche, bevor ihre Tochter lächelnd zu ihr in den Salon kommt. »So, es dauert noch eine gute halbe Stunde, bis Tante Leyla kommt. Und ich finde, wir nutzen die Zeit und schauen uns mal alte Fotoalben an, so zur Inspiration. Ich denke nämlich, du solltest dringend mal wieder in Urlaub fahren.« Begeistert klopft Claire sich auf die Schenkel, und Marina ist nicht sicher, ob ihre Leichtigkeit echt ist. Leyla, die wie sie selbst aus dem Libanon kommt, hat sich ganz kurzfristig angekündigt. Eine Art Überraschungsbesuch. Offenbar hat sie einen billigen Flug im Sonderangebot gesehen und kurz entschlossen gebucht. Marina weiß, dass ihre Schwester etwas ahnt. Sie spürt, dass etwas nicht stimmt. Ob sie aber wirklich eine Vorstellung davon hat, was Yannis ihnen antut, das weiß sie nicht. Und sie möchte sie damit auch nicht belasten.
Sie sieht zu ihrer Tochter. Urlaub? Lust hätte sie schon, und genügend Geld hat sie auch zur Seite gelegt. Und was wäre mit Yannis? »Ich weiß nicht!«
»Dubai soll toll sein. Alle fahren gerade dorthin. Acht Tage, das ließe sich doch machen!« Claire steht auf und sucht im Sideboard unter dem Fernseher nach den Alben.
»Da doch nicht!«, korrigiert Marina. Ihre Tochter scheint heute etwas durcheinander. »Du weißt doch, dass die Fotoalben in der linken oberen Schublade sind!«
»Ach ja, klar!« Claire kehrt mit dem dicken Album, auf dem auf Arabisch Italia geschrieben steht, zurück zum Sofa, setzt sich neben Marina. Sofort bekommt diese einen versonnenen Gesichtsausdruck. »Schau hier, da waren wir in Rom, es war unsere erste Reise nach Europa.« Die Bilder zeigen sie und Yannis vor dem Kolosseum, im Forum Romanum. »Wir sind dort auch am Sonntag in den Gottesdienst gegangen, im Petersdom. Das war ein unglaubliches Erlebnis.« Sie schlägt das Album schon wieder zu und legt die Hand auf den Einband. »Ich wusste stets, dass es nicht für immer so sein würde, nicht immer so leicht und glücklich. Aber dass es einmal so werden würde – das hätte ich nicht gedacht.«
Claire legt ihren Arm um Marina. »Wem Gott Gutes zuteilwerden lassen will, den prüft er!« Marina nickt leise. »Ich mache dir einen Tee«, sagt Claire und verschwindet in der Küche, während Marina nachdenklich aus dem Fenster schaut. »Vielen Dank«, sie schaut Claire lächelnd an, als diese mit einem kleinen Teeglas zurückkehrt und es ihr reicht. Marina nippt an dem heißen Getränk und stutzt. »Mit Zucker? Der schmeckt so süß.«
Claire nickt. »Das ist Nervennahrung und gut für dich!«
»Marina schaut nachdenklich in das Glas und ist etwas überrascht. »Du weißt doch, ich nehme nie Zucker. Aber wenn du meinst.«
In dem Moment klingelt es an der Tür. Marina steht auf, um zu öffnen. Zu ihrer Überraschung steht nicht nur ihre Schwester vor der Tür, sondern auch deren Sohn Giorgios, den sie offenbar unangekündigt einfach mitgebracht hat. Nacheinander fallen sie sich zur Begrüßung um den Hals. »Marina, liebe Schwester«, ruft Leyla aus, »wir müssen das viel häufiger machen! Ach, und da ist ja Claire! Wie lange wir uns nicht gesehen haben!« Sie steuert lachend auf Claire zu, die seltsam zurückhaltend wirkt, während schließlich Cousin Giorgios ihr einen Wangenkuss gibt. »Liebe Cousine. Es ist ja eine Ewigkeit her! Sieben Jahre bestimmt, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben! Ich freue mich so, hier zu sein und über die alten Zeiten zu quatschen!«, sagt er mit einem Augenzwinkern. Er bemerkt nicht, wie Claires Lächeln gefriert.
Am selben Tag, ein paar Straßen weiter.
Yannis Stephanopoulos verschließt mit einem eisernen Schlüssel das mächtige Außentor zur Evangelismos-Kathedrale. Es ist spät geworden, wieder einmal. Der ganze Papierkram, um den er sich kümmern muss! Er ist halt der, der die Zahlen im Blick hat, der in der Gemeindeleitung für die ganz weltlichen Dinge verantwortlich ist. Rechnungen zahlen, Gehälter anweisen, Handwerker auftreiben, neue PCs anschaffen, Spenden verwalten. Es ist eigentlich zu viel für nur eine einzelne Person. Auf die anderen kann er nicht setzen. Die kümmern sich um Predigten und die Chorarbeit, halten Sprechstunden. Nein, er hält den Laden am Laufen. Und das heißt leider häufig auch, dass er der Letzte ist, der am Abend das Büro verlässt – und dann vollkommen übermüdet nach Hause schlurft. Zu seiner Frau und seiner Tochter, die überhaupt nicht zu schätzen wissen, was er alles für sie leistet. Was er ihnen alles ermöglicht! Sicher, ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Die Ehefrauen der Unternehmer in Alexandria können ihre Tage im Spa verbringen. Schönheitsoperationen oder Shopping-Trips nach Dubai gehören zum Standard. Da kann er natürlich nicht mithalten. Und er spürt, dass Marina eigentlich gerne dazugehören würde, zu dieser reichen Oberschicht, viele von ihnen Christen, manche Mitglieder ihrer Gemeinde, sodass Marina immer wieder diesen verschwenderischen Luxus vor Augen geführt bekommt, den sie selber sich nicht leisten können. Aber trotzdem! Sie führen ein gutes, ehrbares Leben! In dem sie sich keine Sorgen machen müssen darum, ob genug Geld da ist für Essen und Kleidung, für Kino und Reisen. Sorgen, die sich die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen in diesem Land jeden Tag machen muss! Undankbar, das sind sie! Seine Tochter, die schon wieder ein neues Handy will, seine Frau, die das Geld für zu viele und zu teure Klamotten rauswirft und sich noch nicht einmal richtig um den Haushalt kümmert! Das wird er sich nicht mehr gefallen lassen! Wenn er heute nach Hause kommt, wird er zeigen, wer der Mann im Haus ist!
Zunächst aber hat er noch etwas anderes vor. Er hat nach dem Anruf eben versprochen, kurz hinüberzugehen zum Café an der Corniche. Es sind nur zwei Straßen, zwei kleine Gassen. Es klang, als sei es dringend. Yannis Stephanopoulos trödelt nicht, das tut er eigentlich nie. Er geht schnell und entschlossen, zackig. Auch als er in die kleine Gasse eintritt, die die Selim Hasan Road mit der Corniche verbindet. Zuerst bemerkt er es gar nicht, aber dann erkennt er einen dunklen Schatten am anderen Ende der Gasse. Erst steht der Schatten einfach da, dann kommt er langsam auf ihn zu. Yannis hat ein mulmiges Gefühl. Aber als die Gestalt immer näher kommt, wirft plötzlich der Schimmer des Mondes ein blasses Licht auf das Gesicht der Gestalt. Seine Anspannung weicht, er atmet beruhigt aus. »Warum verdammt noch mal bist du hier? Was soll das überhaupt? Ich dachte, wir treffen uns im …«
Er hat den Stoß nicht vorausgesehen, der das Messer in seinen Bauch rammt. Mit einem Ausdruck ungläubigen Entsetzens schaut Yannis Stephanopoulos langsam an sich herunter, sieht die silbern gleißende Klinge, das Blut, das sein weißes Hemd tränkt. Er spürt seine Sinne schwinden, greift mit der rechten Hand nach der Person, die jetzt ruckartig die Klinge herausreißt, woraufhin der Schwall an Blut kraftvoll aus ihm herauspulsiert. Ihm wird schwarz vor Augen, er sackt zusammen. Sein nun lebloser Körper liegt auf der Seite, halb auf dem Bordstein, halb auf der Straße, die hier, zwischen den Hochhäusern und ohne Straßenlaternen, so dunkel ist, dass man ihn leicht übersehen kann. Ebenso wie die schattenhafte Gestalt, die sich fast ebenso lautlos entfernt, wie sie hergekommen ist, und im Dunkel der Nacht entschwindet.
Ich hätte ihnen heute noch gezeigt, wer der Herr im Haus ist, war das Letzte, was Yannis durch den Kopf ging.