Samstag, zwei Tage später

Wieder eine Beerdigung, wieder eine weinende Familie. Auch wenn es dieses Mal etwas anderes ist. Die Familie hat ausdrücklich um eine Beerdigung im privaten Kreis gebeten, und so sind nur ein paar wenige Personen, enge Wegbegleiter und Vertraute aus der Gemeinde, gekommen, um Yannis Stephanopoulos nur zwei Tage nach dem tragischen Mord die letzte Ehre zu erweisen.

Über Tote soll man ja nicht schlecht reden, aber Theo spürt, dass die hier Anwesenden mit anderen Gefühlen da sind als beim Tod Abuna Gabriels, der allseits geliebt und geachtet wurde. Yannis war kein guter Mensch, und das haben viele intuitiv gespürt. Er war nicht so herzlich wie Abuna Gabriel, nicht so hilfsbereit. Das merkte man sofort. Aber er hatte es natürlich trotzdem nicht verdient, auf so grausame Weise umgebracht zu werden.

 

Marina Stephanopoulos steht vor dem Eingang zur Kirche, in der gleich die Trauerfeier beginnen wird, die Augen

Neben ihr ihre Tochter Claire. Sie trägt keine Sonnenbrille. Ihre Lippen beben nicht. Sie hat die guten Seiten dieses Mannes, der ihr Vater gewesen ist, so gut wie nicht gekannt. Sie hat nur das Monster gekannt, den Schläger, den Sadisten. Wer sie dort stehen sieht, neben ihrer Mutter, zusammengesunken, kraftlos, der erkennt keine Trauer.

»Marina, Claire? Habt ihr einen Moment?« Mutter und Tochter drehen sich zu der Seite, von der sie eine Stimme sanft anspricht. Cousin Giorgios schaut die beiden durchdringend an, sagt zunächst kein Wort. Als suche er nach etwas in ihren Augen, in ihren Gesichtern. Er ist extra länger geblieben, um an der Beisetzung seines Onkels noch teilnehmen zu können. Und weil ihn der Abend, als sie gemeinsam aus waren, während woanders der Mord geschah, noch immer beschäftigt. Ihretwegen beschäftigt, das wird ihm immer klarer, als Mutter und Tochter ihn groß und stumm anschauen.

»Was ist?«, fragt Marina schließlich, während ihre Tochter den Cousin ihrerseits mit ihren Blicken fixiert.

Theo sitzt dort und bemerkt zunächst nicht, dass Giorgios sich ihr von der Seite nähert. Sie ist versunken in ihre Gedanken, versucht zu verstehen, was dieser Mord mit dem ersten zu tun haben könnte. Jacques ist und bleibt ihr Hauptverdächtiger. Seit dem Ausweisungsgesuch ist er untergetaucht, und Theo hat keine Idee, wo er sich versteckt halten könnte. Ob er noch in Alexandria ist? Gut vorstellbar, denn einer wie Jacques gibt nicht so schnell auf. Hat Yannis Stephanopoulos Jacques’ Forschungen vielleicht im Weg gestanden und er musste deswegen sterben?

»Kommissarin Costanda? Ich möchte mit Ihnen sprechen!«

Irritiert sieht Theo den Mann an. Sie kennt ihn nicht. »Entschuldigen Sie, wer sind Sie, und worum geht es denn?«

»Verzeihung, mein Name ist Giorgios, ich bin der Cousin von Claire Stephanopoulos, und es geht um den Mord an meinem Onkel. Aber es ist etwas komplizierter, und ich weiß nicht genau, welche Schlüsse ich daraus ziehen soll. Hätten Sie einen Moment?«

Er spricht in Rätseln. »Woraus Schlüsse schließen?«, fragt Theo.

»Hätten Sie nach dem Gottesdienst eine Viertelstunde Zeit? Dann erkläre ich es Ihnen. Claire und ich – wir waren den ganzen Abend zusammen …«

»Ja … Aber da ist etwas. Ich … Bitte lassen Sie uns nach dem Gottesdienst sprechen. Dann erkläre ich es ihnen!«

Theo versteht noch immer nicht, nickt aber, während der Mann, der angeblich Claires Cousin ist, sich nach vorne bewegt, dorthin, wo die Familie inzwischen Platz genommen hat. Da bemerkt Theo, dass Claire direkt hinter ihnen gestanden hat. Sie nicken einander kurz zu. Lag da Nervosität in ihrem Blick?

 

Es war ein schöner Gottesdienst, voller Mitgefühl und mit einer Predigt, die Theo naheging, beinahe zu wohlwollend für die gewürdigte Person, aber hatte sie etwas anderes erwartet?

Langsam bewegen sich die Trauernden in Richtung Ausgang, wo man durch das geöffnete Portal den hellen Innenhof schon erkennen kann. Theo nimmt Giorgios wahr, der sicher gleich zu ihr kommt. Da sieht sie, dass er sein Handy aus der Tasche zieht, kurz telefoniert und dann zum Seitenausgang geht, zu dem Bereich zwischen Kirche und Gemeindebüro. Was will er da? Theo schaut ihm nach, wie Giorgios gerade durch die Seitentür verschwindet, die vom Kirchraum abgeht und in eine Art Innenhof hinter der Kirche zu führen scheint, als Claire vor ihr auftaucht. »Frau Costanda«, spricht sie sie, an und Theo braucht einen Moment, um ihre Aufmerksamkeit weg von Giorgios hin zu Claire zu lenken. »Ja«, sagt sie mit etwas Verzögerung.

»Danke, dass Sie gekommen sind! Ich weiß, Sie ermitteln, aber Sie hätten deswegen nicht unbedingt an der

»Ich weiß«, sagt Theo. »Und ja, es war mir auch ein persönliches Bedürfnis, heute hier zu sein.«

Claire umfasst mit beiden Händen die von Theo, als plötzlich ein Schrei erklingt: »Hilfe! Helft! Er verblutet! Mein Gott!«

 

Unruhiges Gemurmel erhebt sich im Kirchenraum, ein Drängen und Schieben hinaus aus dem dunklen Innern beginnt. Theo versucht sich ebenfalls eilig einen Weg durch die Menschen zu bahnen, den Gang entlang, hinaus, dorthin, wo jetzt schon mehrere Schreie und lautes Rufen zu vernehmen sind. Sie drängt mit ihren Armen Gläubige auseinander, schlängelt sich hindurch, endlich am Eingang vorbei, über den Vorplatz. Und dann sieht sie es. Wie erstarrt bleibt sie an der einen Ecke des Platzes, der an das Gemeindehaus grenzt, stehen und blickt auf die immer größer werdende rote Pfütze aus Blut, die sich langsam dort ausbreitet.

Ein Mann presst seine Hände auf Giorgios’ Hals, aus dem in kleinen Fontänen das Blut pulsiert. Der Täter muss die Hauptschlagader getroffen haben. Die Hände des Helfers sind getränkt von Blut. »Ein Arzt! Ruft einen Arzt!«, tönt es aus der Menge, die sich um den Verletzten versammelt hat.

Theo erkennt, wie Doktor Nabil herbeieilt. Der Arzt war unter den Kirchgängern, und er beugt sich zu Giorgios hinunter. Er drückt ebenfalls an den Hals, versucht, den

Um sie herum werden verzweifelte Rufe ausgestoßen. Ein Mord! Auf dem Kirchengelände, am helllichten Tag! Es kann nur zwei oder drei Minuten her sein, dass der Mörder zugestochen hat! Jemand muss doch etwas gesehen haben? Ist er bereits weg und konnte das Gelände verlassen? »Riegeln Sie das Gelände ab!«, ruft Theo den Gemeindemitarbeitern zu. »Lassen Sie niemanden durch!« Sie weiß, dass die Chance, den Mörder noch zu erwischen, klein ist. Aber versuchen muss sie es. Und natürlich wird die Polizei alle Personen erfassen müssen, die sich derzeit hier aufhalten. Dann aber kreisen Theos Gedanken immer und immer wieder nur um die eine Frage: Was hat Giorgios mir sagen wollen?

Sie schaut auf und nimmt die klagenden und entsetzten Gesichter wahr. Dann jedoch fängt sie einen Blick ein, der anders ist, der nicht von Trauer, Wut, Entsetzen geprägt ist, sondern von … ja, von was? Ist es Teilnahmslosigkeit? Leere? Als der Patriarch sie erkennt, wendet er sich ab.

Genau diese kurze Szene erinnert Theodora daran, dass sie noch immer einen Fall zu lösen hat. Einen Fall, in dem es nunmehr drei Todesopfer gibt, darunter zwei tote Priester. Jetzt gibt es jemanden, der sterben musste, kurz bevor er Theo etwas hatte sagen können. Da muss es einen Zusammenhang geben! Was hat Giorgios gewusst, das ihn das

Hastig orientiert sich Theo und überlegt, was zu tun ist. Das Verbrechen ist soeben passiert, sie muss jetzt alles wahrnehmen, alles beobachten und sich einprägen, was ihr auffällt. Später wären die Spuren verwischt, Zeugenaussagen zu vage.

Theo bittet die Menschen zurückzutreten und schreitet selbst im Halbkreis um die Leiche herum. Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie der Krankenwagen sich nähert. Die Ecke ist eine der wenigen uneinsehbaren auf dem Gelände. Selbst wenn also jemand während des Gottesdienstes aus der Kirche herausgekommen oder hineingegangen ist, hätte er nicht gesehen, was sich hier hinten abspielt. Auch die Fenster des Gemeindebüros zeigen zur anderen Seite. Der Täter muss sich demnach bewusst hier platziert haben. Und dann erinnert sich Theo, dass Giorgios hinausging, auf sein Handy schaute, etwas tippte. Das Handy! Wo ist es? Sie kniet sich zu der Leiche, an die nun auch die Sanitäter herantreten, die von Doktor Nabil bereits gehört haben, dass sie das Opfer nur noch in die Gerichtsmedizin bringen können. Theo stellt sich kurz als ermittelnde Beamtin vor und bittet um einen Moment Geduld.

Sie durchsucht die Hosentaschen, schaut, ob es irgendwo zur Seite gerutscht ist. Auf Knien sucht Theo in einem immer größeren Radius und mit zusammengekniffenen Augen das Umfeld ab, konzentriert, um ja nichts zu übersehen. Kein Handy! Aber was ist das? Da schimmert etwas im Sonnenlicht. Ganz klein, genau in der Ecke. Ist es eine Glasscherbe? Ein Stein? Theo krabbelt näher zu dem