Noch Montag
»Bravo, Professor! Das haben Sie exzellent zusammengefasst!«
Theo und Professor Hamdy drehen sich erschrocken um und versuchen, die beiden Gestalten in der Dunkelheit auszumachen, die sich langsam auf sie zubewegen.
»Guten Tag, Herr Professor, Frau Kommissarin, entschuldigen Sie, wenn wir womöglich stören«, sagt Amira al-Fotouh und weist mit einer Handbewegung auf Jacques Bernheim, der neben ihr steht. »Aber das, was Sie gerade erklärt haben, zur Crata Repoa, es ist alles richtig.«
»Einen Moment«, ruft Theodora ein wenig schrill. »Kann mich mal bitte jemand aufklären! Jacques, wo kommen Sie denn her? Und Amira, wieso wussten Sie …«
Professor Hamdy macht eine beschwichtigende Geste. »Verzeihen Sie, Theodora, dass ich Sie angeflunkert habe. Ich habe Jacques Unterschlupf gewährt, ja.«
»Sie haben mich angelogen?« entfährt es der Kommissarin.
Der Professor hebt die Brauen. »Es tut mir leid«, entgegnet der Professor.
Dass er in der Bibliothek Unterschlupf gefunden hat, überrascht sie nicht wirklich. Aber dass er nun gemeinsam mit Amira hier auftaucht, hat sie nicht erwartet. »Und Sie, Amira?« Jetzt dreht sich Theodora ein wenig zu der Assistentin.
»Ich habe entschieden, auszusteigen aus Crata Repoa. Als Jacques ermordet werden sollte! Das konnte ich nicht! Das war falsch! Und damit hängt mein Leben nun am seidenen Faden. Ich muss ebenfalls untertauchen. Und ich wusste, dass Jacques hier, bei Professor Hamdy ist.«
Theodora ist zu perplex, um noch mehr zu erwidern. Sie überlässt Professor Hamdy die Bühne, der offenbar ebenso überrumpelt ist – zumindest von Amiras Auftritt – wie sie selbst. Hamdy macht einen Schritt auf die beiden zu und blickt Amira an: »Jetzt bitte eins nach dem anderen. Erklären Sie, was Sie wissen!«
Amira holt Luft, die Stirn gerunzelt. Sie hat beschlossen, sich zu erklären. Und sie weiß, dass das gefährlich ist, denn sie hat bereits ein Gelübde abgelegt und geschworen, die Geheimnisse zu wahren, die ihr anvertraut wurden.
»Ich bin eine Bewerberin. Zumindest gewesen«, fängt sie an. »Ich habe die ersten Prüfungen durchlaufen und bestanden, um irgendwann in die höchsten, die innersten Geheimnisse der Crata Repoa eingeweiht zu werden.«
Sie blickt in die fragenden Gesichter der Kommissarin und des Professors. Theos Gedanken rasen. Sie hat sie die ganze Zeit belogen, hinters Licht geführt? Hat sie auch ihren Auftraggeber, den französischen Forscher, in Wahrheit ausspioniert für eine geheime Gruppe, die das, was er suchte, um jeden Preis im Verborgenen belassen wollte? Aber ja! Das ergibt Sinn! Sie war es, die den geheimnisvollen Hinweis auf das Grab der Kleopatra in Kom el-Dikka gefunden hat! In den Katakomben, in denen eigentlich schon jeder Stein zweimal umgedreht wurde. Aber klar! Amira musste das alles inszeniert haben! Ebenso wie diese Grabkammer, die sie angeblich gefunden hatten! Alles gestellt, alles Fake! Und wer außer ihr hätte das so perfekt organisieren und durchführen können!
»Bitte, fangen Sie von vorne an. Ich kann das noch nicht verstehen«, fordert Theo die Wissenschaftlerin auf. Vielleicht ist es ganz gut, dass sie nicht mehr offiziell als Polizistin ermittelt.
»Ich stamme aus einer alten christlichen Familie aus Kairo. Wobei, die Religion spielte eigentlich keine besonders wichtige Rolle in unserem Leben. Wir gingen sonntags zum Gottesdienst, ja. Aber davon abgesehen waren meine Eltern eher modern eingestellt und nicht besonders gläubig. Zumindest dachte ich das. Wir waren vier Geschwister zu Hause, meine drei Brüder und ich. Irgendwann fing meine Mutter an, mir Hieroglyphen beizubringen. Die alte ägyptische Schrift. Meinen Brüdern aber nicht. Ich fragte sie, warum, und sie sagte nur ›Als Vorbereitung‹. Mehr erfuhr ich nicht. Wir lasen dann das Buch der Toten, ich musste wichtige Beschwörungssprüche auswendig lernen. Ebenso den Ablauf von Ritualen aus der Antike. Und meine Mutter war es auch, die mich immer wieder mit der Geschichte von Königin Kleopatra konfrontierte.«
»Und da haben Sie sich nicht gewundert oder sich gefragt, was das soll?« Gebannt hört Theo der Wissenschaftlerin zu. Das war spannender als jeder Krimi.
»Aber natürlich habe ich das. Zumal meine Mutter eine sehr strenge Lehrerin war. Es war wie Unterricht in der Schule. Ich wurde abgefragt und durfte keine Fehler machen. Immer, wenn ich fragte, wofür das gut sein solle, sagte mir meine Mutter nur, dass ich das an meinem achtzehnten Geburtstag erfahren würde.«
»Und?«
»An meinem achtzehnten Geburtstag – wir lebten ja damals in Paris – reiste ich mit meiner Mutter nach Kairo. Wir fuhren zum Kloster der Sankt-Georg-Kathedrale in der Altstadt, in der eine Gruppe von Nonnen angeblich ein Erbe bewahrt, das bis in die frühesten Anfänge des Christentums zurückreicht. Ich erinnere mich, wie wir vor dem berühmten, mächtigen Tor des Klosters standen, das mehr als sieben Meter in die Höhe ragt, und wie es sich langsam öffnete. Ein gewaltiges Spektakel.« Amira macht eine kurze Pause. Sie muss sich sammeln. »Wir durchschritten die große, hohe Halle, an deren Seite in einer Nische ein Schrein mit den Ketten des heiligen Georg zur Schau gestellt wurde, die er der Legende nach während seiner Folter trug.« Amira setzt sich langsam auf einen der Stühle. »Eine der Nonnen führte uns dann hinunter in den Keller des Gebäudes, in einen Raum voller Hieroglyphen und Zeichen, der vom Schein unzähliger Kerzen erhellt war. Dort eröffnete mir meine Mutter, dass ich vorgesehen sei, Teil einer geheimen Gemeinschaft zu werden, die eines der größten Geheimnisse der christlichen Religion zu wahren geschworen habe. Und dass ich als eine der wenigen Auserwählten zu der Gruppe von Frauen gehören werde, aus deren Kreis eines Tages die neue Hohepriesterin gewählt werde. Natürlich nur, wenn ich die Prüfungen zu allen Graden erfolgreich durchlaufen würde.«
»Hohepriesterin?«, fragt Theo dazwischen.
»Ja, es muss stets eine Frau sein!«, erwidert Amira.
»Die göttliche Isis!«, wirft Professor Hamdy ein, dem fast seine Lesebrille aus der Hand zu fallen droht, so ergriffen ist er von diesem Bekenntnis.
»Ja, richtig, wir sehen in Isis das höchste Göttliche. Es ist kein Vater, kein männlicher Gott, der für uns aller Dinge Ursprung ist. Sondern das Weibliche, eine Frau, und nur an Frauen kann dieses große und einzigartige Geheimnis übertragen werden. Es gibt zwar auch männliche Mitglieder. Tatsächlich sind sie klar in der Mehrheit. Aber das oberste Amt kann stets nur von einer Frau ausgeübt werden.«
»Welches Geheimnis, Amira, das Grab der Kleopatra?«
»Es ist nicht nur das, denn davon haben wir Bewerberinnen bereits erfahren. Aber was es ist, die tiefer liegende Wahrheit, die kenne auch ich noch nicht.« Achselzuckend sah sie vom Professor zur Kommissarin. »Das letzte Geheimnis wird einem erst offenbart, wenn man den höchsten Grad erreicht hat. Ich habe es bis zum fünften Grad geschafft. Und fortan gelte ich als Verräterin. Als Bedrohung, und natürlich hängt mein Leben nun am seidenen Faden.«
»Aber was ist mit dem Mord an dem Priester? Mit dem Mordversuch an Jacques? Waren Sie das dann?«, sagt Theo schließlich in die drückende Stille. Sicher, sie hätte die Gelegenheit gehabt. Aber wäre sie dazu in der Lage? Hätte sie die Kraft?
»Nein, ich war es nicht, ich habe ihm reinen Herzens das Leben gerettet! Und deswegen bin ich hier. Deswegen erzähle ich all dies. Einen Mord an Jacques – dazu war ich nicht bereit«, fährt Amira fort. »Der Bund wollte, dass einer von uns beiden Bewerberinnen Jacques umbringt. Und ich wollte und konnte das nicht tun. Aber die andere Bewerberin offenbar schon. Ich habe ihn gerettet und mich selbst damit in große Gefahr gebracht.«
»Also sind Sie quasi ausgestiegen? Eine Abtrünnige?«, fragt der Professor. Amira nickt langsam und still.
»Noch kurz etwas anderes«, sagt Theo nachdenklich, während sie ein paar Schritte auf und ab geht und sich mit Daumen und Zeigefinger ans Kinn fast, »ich bin da ja keine Expertin, aber haben die Kirchen nicht eigentlich eine ablehnende Haltung Geheimbünden gegenüber? Denn hier müsste es ja so sein, dass der Bund ein Geheimnis hütet und die Kirche sie dabei unterstützt?« Sie schaut die anderen an. »Ich denke da an die Freimaurer zum Beispiel. Die wurden ja von der Kirche als Feinde angesehen. Ebenso wie der Illuminatenorden, die Rosenkreuzer und Tempelritter.«
»Ja und nein«, antwortet der Professor. »Sie haben Recht, dass etwa mit Blick auf die Freimaurer die Kirche eine recht ablehnende Haltung hatte. Nach der Gründung der ersten Großloge der Freimaurer im Jahr 1717 in London verurteilte Papst Clemens XII. die Vereinigung, die dann jahrhundertelang als ›kirchenfeindlich‹ galt. Der alte Kirchenrechtskodex von 1917 verbot dann die Mitgliedschaft und drohte mit einer automatischen Exkommunikation. Weiterhin wurde es verboten, Bücher über Freimaurerei zu besitzen oder Anhänger kirchlich zu beerdigen. Ähnliches galt auch für die anderen Orden. Dies ist bei Crata Repoa jedoch anders. Das war oder ist ein eher kleiner Bund, der sich nicht in christlicher Tradition versteht, sondern in der Tradition alter, antiker Mythologie und Religion. Und das ist tatsächlich die spannende Frage. Ich verstehe, dass der Geheimbund ein Geheimnis des alten Ägyptens bewahren will. Aber warum hat die Kirche ein Interesse daran, dass das Grab nicht gefunden wird? Nur, damit eine archäologische Fundstätte unentdeckt bleibt? Das ist doch ungewöhnlich! In anderen Fällen schlachtet die Kirche alte Grabstätten und Schreine für ihre Zwecke ohne Skrupel aus.«
»Es stimmt schon, da ist noch mehr. Aber ich sagte bereits, dass ich nicht weiß, was es ist. Wenn einer der Prüfer das Thema berührte, hieß es nur, das Geheimnis müsse bewahrt werden, um die Macht der Kirche nicht zu gefährden«, sagt Amira. »Was immer das konkret bedeutet.«
»Und was erwarten Sie jetzt von uns?«, fragt Theo etwas sarkastisch. »Erbitten Sie jetzt ebenfalls Asyl hier in der Bibliotheca?«
Amira hebt etwas ratlos die Schultern. »Nun, ich muss ebenfalls untertauchen, genauso wie Jacques! Der Bund weiß bestimmt längst, dass ich es war, die den Mord an Jacques durch die andere Bewerberin vereitelt hat. Sie werden spätestens morgen merken, dass ich nicht zu der nächsten geplanten Prüfung erscheinen werde. Mein Leben ist nichts mehr wert. Und da ich wusste, dass Jacques hier bei ihnen Unterschlupf gefunden hat, finde ich den Gedanken naheliegend …«
Amira tritt näher an Theo und den Professor heran. »Ja, ich habe Sie belogen. Aber nur in Ihrem Schutz kann ich überleben. Und vielleicht können wir gemeinsam etwas ausrichten.«
Niemand weiß so recht, was er dazu denken soll. Wer kann wem noch trauen?
»Ich glaube ihr!«, wirft Jacques ein. »Ich glaube dir, dass du dich gegen den Bund entschieden hast«, fügt er leiser hinzu. »Dass du mich die ganze Zeit nur benutzt hast, möchte ich mir im Moment nicht vorstellen.«
»So war es auch nicht!«, erwidert Amira fast flehend.
»Das werden wir aber hier und jetzt nicht klären können«, geht Professor Hamdy energisch dazwischen, während er seine Hände beschwichtigend vor sich auf und ab bewegt. »Ich habe Ihnen hier bei mir Unterschlupf gewährt, Jacques, aber so kann es ja nicht weitergehen. Sie beide können sich ja hier nicht für immer verstecken!«
»Nur, was können wir denn tun?«, wirft Jacques ein.
»Wir sind konfrontiert mit einem Polizeipräsidenten, der aller Wahrscheinlichkeit nach jenem Geheimbund angehört, der das Geheimnis des Kleopatra-Grabes bewahren will und der in jedem von uns – in Ihnen, Jacques, in Theodora und in mir – inzwischen eine Gefahr sieht.«
»Wenn wir das der Presse erzählen, halten die uns für übergeschnappt. Und Jacques und Amira können ohnehin vorerst nicht in der Öffentlichkeit erscheinen. Hinter Jacques ist das ägyptische Innenministerium her und hinter Amira die Crata Repoa«, sagt Theodora.
»Wir haben eigentlich nur eine Möglichkeit«, murmelt Professor Hamdy vor sich hin, während er langsam auf und ab geht, »wir müssen herausfinden, wer alles zur Crata Repoa gehört und wo sich der Bund trifft, um dann zu überlegen, wie wir den Geheimbund auffliegen lassen können.« Er blickt Amira an. »Können Sie uns das sagen?«
»Nein!« Amira schüttelt den Kopf. »Man hat mir immer die Augen verbunden, mich an einem Treffpunkt in der Stadt abgeholt und von dort dann in eine Art geheimes unterirdisches Labyrinth gebracht. Die Priester haben nie ihr Gesicht gezeigt, und wenn andere Bewerber anwesend waren, mussten mir sofort wieder die Augen verbunden werden. Ich weiß leider nicht mehr.«
»Beschatten«, sagt Theo klar und bestimmt und schaut die beiden Männer an, »wir müssen den Polizeipräsidenten beschatten. Um herauszufinden, wen er trifft und wo! Er ist der Einzige, von dem wir nun sicher wissen, dass er dazugehört!«
»Ich weiß nicht, wie lange soll das dauern? Vielleicht trifft sich der Bund in den nächsten Wochen gar nicht. Die können sich ja auch eine Weile über Messenger oder Mail abstimmen. So kommen wir nicht weiter«, wirft Jacques ein.
»Guter Punkt«, antwortet Theo, der die Anwesenheit des Franzosen auf irritierende Art gefällt, »dann wird es schwierig. Aber mein Gefühl sagt mir, dass es nicht so ist. Denkt doch mal, wie gefährlich es ist, falls ein Mailaccount gehackt wird? Nein, je länger ich drüber nachdenke, umso sicherer bin ich: Die verschicken keine Nachrichten. Keine Spuren! Nichts Schriftliches! Man trifft sich irgendwo, vielleicht auch einfach ganz zufällig auf der Straße, ein kurzer Plausch fast im Vorbeigehen. Etwas, das unverfänglich ist. Oder eben an einem Ort, der absolut sicher ist. Von wo nichts nach außen dringen kann. Und ich glaube, gerade weil sie von uns wissen, müssen sie sich treffen! Der Zeitpunkt war nie besser! Sie können nicht einfach nichts tun!«
»Wahrscheinlich haben Sie recht«, bemerkt Professor Hamdy. »Also, wie sollen wir es machen? Sie sind die Polizistin, wir beide haben mit Beschattungen keine Erfahrung.«
»Ich übernehme das. Das Gute ist, dass wir in dem dichten Verkehr von Alexandria erst mal auch nicht auffallen. Wir mieten einen Wagen mit getönten Scheiben. Davon gibt es genug hier in der Stadt, das ist erst einmal nicht weiter verdächtig. Das Auto darf nicht zu groß sein, vielleicht ein Ford. Mit Autos kenne ich mich aus.« Theo zwinkert verschmitzt.« Wir bezahlen auf keinen Fall mit Kreditkarte, sondern bar. Wir sind jetzt auf deren Radar, wir wissen nicht, was schon alles von uns überwacht wird. Das gilt im Übrigen auch hierfür, Professor.« Theodora zückt ihr Handy. »Und Sie?«
»Ich habe meins gar nicht mit von Bord genommen«, grinst Jacques.
Auch Amira zeigt ihres vor. »Seit zwei Tagen ausgeschaltet«, ergänzt sie.
»Okay«, sagt Professor Hamdy nachdenklich, ganz so, als könne er noch immer nicht ganz glauben, in was er da hineingeraten ist.
»Klar ist, wir wissen nicht, wie lange es dauern wird. Das heißt: Jacques, Sie bleiben hier im Büro der Bibliothek. Professor, ich besorge den Wagen und stehe morgen früh um fünf Uhr an der großen Kreuzung am Ende der Hauptstraße. Seien Sie dort, ich sammle Sie ein, und dann positionieren wir uns vor dem Polizeipräsidium. Amira, Sie bleiben erst mal hier.«
Einen Moment lang schweigen alle vier, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. »Dieser Fall ist um einiges gefährlicher, als ich für möglich gehalten habe«, sagt Theo schließlich und vergisst für einen Moment, dass es nicht mehr ihr Fall ist. Denn jetzt will sie das Rätsel erst recht lösen.