Noch Freitag
Der Professor hört gar nicht auf, seinen Kopf zu schütteln. »Die Bibliothek von Alexandria, Herodot, die Anfänge des Christentums. Die Madonna. Alle Bilder, alle Büsten, das kulturelle Fundament der Kirche, gegründet auf falschen Tatsachen. Auf der falschen Hautfarbe! Auf der falschen Identität! Im Pantheon, in Filmen, in fast allen Kirchen dieser Welt hängen die falschen Bilder, stehen die falschen Skulpturen!« Nachdenklich schaut er sich um. »Und mehr noch: Es herrschen die Falschen über die Gläubigen! Die Kirchen und ihre Macht gründen sich auf einer Hierarchie, einer Weltsicht, in der das Weiße, das Männliche ihren Anspruch begründet, zu führen. Dem Patriarchat! Es sind weiße Päpste und Kardinäle, hellhäutige Kirchenmänner selbst hier in Ägypten, die für sich die höchsten Weihen in Anspruch nehmen. Dabei gerät ihre Macht ohnehin ins Wanken. Die afrikanischen Gemeinden fordern mehr Einfluss, denn sie verzeichnen die höchsten Zuwächse an neuen Christen, während der Westen zunehmend unchristlich wird. Frauen fordern Rechte in der Kirche ein, die sie bisher nie hatten. Die weißen Herren aber wollen ihre Macht nicht abgeben! Aber welch Argument wäre es, wenn selbst der Gegenstand der Anbetung in fast einer jeden Kirche eine Schwarze wäre. Und zwar eine schwarze Frau! Es wäre das Ende des klerikalen Patriarchats!«
Man kann es nicht sehen, aber als sie spricht, klingt es, als ob die Hohepriesterin lächelt. »Deshalb vereinbarten die Kirche und der Bund von Crata Repoa, dass dieses Geheimnis genau das bleiben sollte. Ein Geheimnis. Bewahrt für alle Zeit.«
»Aber das hätte doch in irgendeiner Quelle erwähnt werden müssen. Unzählige Menschen haben zu jener Zeit Kleopatra gesehen. Alleine als sie öffentlich in Rom einzog«, entfährt es Theo. Sie spürt, wie wieder die Angst in ihr aufsteigt. Warum erzählen sie ihnen all dies, wenn sie ihr Geheimnis um jeden Preis bewahren wollen? Theo bemerkt, wie aus den drei weiteren Zugängen zu der Halle leise noch weitere Männer in Kutten eintreten. »Jacques!«, flüstert sie. Seine Augen zucken unruhig nach links und rechts, jetzt sieht auch er den Aufzug der Kult-Anhänger im Halbdunkel des großen Raumes. Theo drückt sich fester an ihn. Jetzt versteht sie auch, warum die Wächter des Wissens so bereitwillig Auskunft geben. Es gab nie den Plan, sie lebend hier rauskommen zu lassen. Natürlich nicht! Sie hatten sich auf ihre Ankunft vorbereitet!
»Unser Bund hat eine Verfassung, auf die wir schwören, wenn wir uns um Aufnahme bewerben«, sagt die Hohepriesterin. »Wir geloben, das Geheimnis zu wahren, notfalls mit unserem Leben.« Sie macht eine lange Pause. »Und so soll es nun sein. Darauf sind wir schon lange vorbereitet. Habt ihr euch nicht gefragt, warum wir euch erlaubt haben, bis hierher zu gelangen?« Die Hohepriesterin fixiert sie mit ihrem Blick, mit einem Finger deutet sie auf eine Kabelschnur, die sich kaum sichtbar an der Wand in der Halle entlangzieht. Theo folgt dem Blick. Das sind Sprengladungen!
»Wir sind bereit, unseren Schwur zu halten und unser Leben zu geben. Ich fürchte, eine andere Wahl habt auch ihr nicht.« Die Oberste zieht einen Sender aus ihrem Umhang. Der Fernzünder für die Sprengladung.
Theo drückt Jacques, der vor Schreck wie gelähmt zu sein scheint, so fest sie kann in den Oberarm. »Jacques«, sagt sie zunächst, um dann zu schreien: »Jacques!«
Die Hohepriesterin hält den Sender vor ihre Brust, den Daumen auf dem Auslöser, und sagt nur ein Wort: »Amoun!« Just in dieser Sekunde ertönt ein lauter Knall, ein Schuss, der sie am Arm trifft, sodass ihr sofort Blut über die nackte Haut strömt und sie den Zünder auf den staubigen Boden fallen lässt.
»Jacques, Amira, Theodora!« Ein lautes Rufen durchschneidet die Stille. Es ist Professor Hamdy, der am Eingang der Halle steht, in seiner Rechten ein Revolver. Er ist es, der geschossen hat! Fast muss Theo schmunzeln. Der Professor war immer wieder für eine Überraschung gut. Ihm hätte sie so eine Waffe als Letztes zugetraut. Und nun war er auch noch ein guter Schütze! Er hat ihnen gerade das Leben gerettet. »Schnell, raus hier! Beeilt euch! Wir haben nicht viel Zeit.« Theo reagiert sofort, zerrt an Jacques’ Oberarm und holt ihn aus der Erstarrung zurück ins Hier und Jetzt. Beide rennen so schnell sie können auf Amira zu, die sich von den erschrockenen Priestern, die sie festgehalten haben, losreißen konnte. »Beeilt euch!«, schreit Theo. Zu dritt laufen sie los, hinein in die Dunkelheit des Ganges, durch den sie gekommen sind. Der Professor ist ihnen offenbar bereits voraus. Etwa hundert Meter vor ihnen nimmt Theo den hüpfenden Schein seiner Taschenlampe wahr. Knapp hinter ihnen hört Theo aber auch das Keuchen und die Schritte ihrer Verfolger. Professor Hamdy dreht sich um und schießt mit seinem Revolver ein paarmal in das Dunkel. Es ist unmöglich, ihre Umrisse wahrzunehmen. Da niemand aufschreit, keinerlei Tumult zu hören ist, hat er wohl nicht getroffen. Sicher kann er sich jedoch nicht sein. »Weiter!«, schreit der Professor.
Es ist nicht mehr weit. Sie haben es fast geschafft, denkt Theo. Da vorne sieht sie schon das Loch, das zur Krypta führt. Sie nehmen noch mal alle Kraft zusammen, rennen, hechten sich förmlich hinaus aus diesen endlosen Gängen. Dann verliert sich alles in Dunkelheit. Ein ohrenbetäubender Knall ertönt, eine Druckwelle erfasst sie alle und schleudert Theo auf die gegenüberliegende Wand der Krypta, in die sie es gerade noch geschafft hat.
Eine Weile nimmt sie nichts wahr, hört nur das durchdringende Piepen in ihrem Kopf. Vielleicht hat es ihr Trommelfell zerfetzt? Von außen dringen keinerlei Geräusche zu ihr. Sie bleibt einfach liegen, hat den Geschmack von Staub am Gaumen. Sie spürt, wie weiter Sand und kleine Steine auf sie niederprasseln. Ob das ganze Gebäude gleich in sich zusammenfällt? Wie ein Kartenhaus? Und sie und den Professor und die beiden Wissenschaftler unter sich begräbt, ebenso wie die letzte Ruhestätte der Kleopatra? Theo versucht, den Schutt zur Seite zu räumen. Sie schaut auf ihre Hände, bemüht sich, die Finger zu bewegen, die Beine. Ja, das klappt! Zum Glück also nichts gebrochen. Sie sieht Blut an ihrem linken Ellenbogen, ein paar kleinere Schnitte, aber sie kann ihren Körper bewegen, auch wenn alles schmerzt. Außerdem fällt es ihr schwer zu atmen, so dicht ist die Luft durchsetzt von den Partikeln, die wie eine grauweiße Nebelwand den gesamten Raum durchdringen. So sehr durchdringen, dass sie gerade einmal dreißig, vielleicht vierzig Zentimeter weit sehen kann. Theo hört eine Stimme, das muss Amira sein, die ebenfalls gerade zu sich kommt. Sie kann sie nicht sehen, aber sie scheint nicht weit weg von ihr zu sein. Sie ruft ihren Namen, »Amira! Professor!«. Es schmerzt, sprechen schmerzt. Aber sie hört eine Antwort, »Ja!«. Das ist Amiras Stimme. Dann vernimmt sie nicht weit entfernt Professor Hamdy. »Ich bin auch hier.« Erleichterung überkommt sie, nicht alleine zu sein in all dem Schutt und der Zerstörung.
Der Staub setzt sich langsam. Theo erkennt, dass der Eingang zu dem unterirdischen Labyrinth verschüttet ist. Wenn sie ihnen eben noch dicht auf den Fersen waren, so können ihre Verfolger ihnen nun nichts mehr anhaben. In der Ferne kann Theo die Sirenen der Polizei- und Krankwagen hören, die sich nähern. Demnach ist Hilfe bereits unterwegs. Was für ein Glück sie hatten, denkt sie, als sie das Ausmaß der Zerstörung sieht. Ein Stück weiter vorn, und sie hätten es wohl nicht überlebt, denn dort ist die Decke zum Kirchenschiff eingebrochen und hat alles unter sich begraben. Theo kneift die Augen zusammen und blickt auf den Berg aus Schutt und Schotter – und sieht erst jetzt, dass ein Körper dort eingeklemmt feststeckt. Reglos, vollkommen grau von den feinen Partikeln, bis auf das Rot des Blutes, das sich unter dem Körper sammelt und von den schweren Verletzungen des Mannes zeugt. Es ist Jacques, der nicht so viel Glück im Unglück hatte wie sie und Amira, sondern halb begraben wurde von den einbrechenden Geröllmassen.
Theo ruft seinen Namen, versucht, sich zu ihm hinüberzurobben über all die Steine und die Trümmer. Doch sie schafft es nur langsam, ihre Beine tragen sie nicht, und ihre Arme schmerzen und bluten. Da bemerkt sie, wie von der Kante des Loches, das über ihnen den Blick in den Hauptraum der Kirche freigibt, mehrere Männer mit Taschenlampen hinunterleuchten. Erleichterung durchströmt Theo. Die Tränen rinnen ihre Wangen hinab, ohne dass sie sie aufhalten könnte. Sie schmeckt Salz und Staub auf den Lippen. »Hierher!«, ruft Theo. »Wir haben einen Verletzten! Helfen Sie ihm!« Kraftlos rudert Theo mit den Armen, möchte noch mehr sagen, bekommt jedoch keinen Ton mehr heraus. Da erblickt sie über sich ein vertrautes Gesicht, einen Mann, der ihr die rettende Hand entgegenstreckt. »Danke, Fadi!«, sagt Theo noch. Sie hatte ihm so unrecht getan! Er war es nicht, der sie verraten hat! Ihre Worte verklingen zu einem Hauchen, die Bilder vor ihren Augen beginnen sich zu drehen, ihr Mund ist ganz trocken. »Kommen Sie … Bitte!« Und dann wird alles schwarz.