Zwei Wochen später

Die Nachmittagssonne taucht die Häuserfront an der Corniche Alexandrias in goldenes Licht. Die Fenster reflektieren die sinkende Sonne tausendfach, ebenso das Meer, das sich an den Wellenbrechern aus Betonklötzen bricht, die verhindern sollen, dass das Wasser immer mehr von der flachen Küste abträgt. Ins Meer hinein ragt der Engineers Club, der der Hochhausfront vorgelagert ist und von dem aus man den Blick schweifen lassen und die kilometerlange Küstenlinie Alexandrias zu beiden Seiten bestaunen kann.

 

Der Engineers Club selbst ist ein Bau der 1970er Jahre. Gesichtslose Architektur, gefertigt aus Beton und lieblos in die Landschaft gepflanzt. Der Innenminister hat diesen Ort ausgesucht, um die Beteiligten der Geschehnisse zu befragen.

Vierzehn Tage sind vergangen, seit sie im Krankenhaus aufgewacht ist, vor drei Tagen konnte Jacques als Letzter entlassen werden. Momentan sitzt er noch in einem

Wie so oft, lag die Lösung eigentlich so nah.

Sajida Lina ist gekommen, die Ehefrau des ersten Mordopfers, Abuna Gabriel aus der Nicholas-Kirche. Ihr Blick zeugt von der Resilienz und Entschlossenheit, dem Schicksal zu trotzen, die Theo von Anfang an beeindruckt haben. Begleitet wird sie von ihren beiden Söhnen und ihrer Hausangestellten Amal, die ihr anscheinend eine gute Freundin geworden ist.

Neben Lina sitzt Jacques, bewacht von zwei Polizisten, die jeweils zu einer Seite hinter ihm stehen, um ja aufzupassen, dass er nicht flieht – wobei das in dieser Umgebung, dem Engineers Club mit seinen wenigen Ein- und Ausgängen, den hohen Mauern und dem Meer, das ihn umgibt, kaum ein realistisches Szenario wäre. Zu seiner Seite sitzt Amira, die fragend in die Runde schaut.

Marina und ihre Tochter Claire sind da. Marina macht inzwischen zweimal die Woche eine Therapie, um das Geschehene zu verarbeiten und um selbstbewusster zu werden. Ihre Tochter konnte sie überzeugen, dass sie es schaffen muss, nach vorne zu schauen. Dass sie aber dafür Hilfe braucht. Sie selbst hat ein ganz anderes Naturell. Danach gefragt, woher sie die Kraft dazu nähme, antwortete sie: »Der Mann, der mein Vater war, hat Jahre meines Lebens, hat meine Kindheit zur Hölle gemacht. Ich habe nicht vor, ihm noch mehr Jahre zu opfern, indem ich mich schlecht fühle und immer und immer wieder das Erlebte durchlebe.«

Und schließlich sind da die beiden Polizisten Basil und Elias.

Nicht nur Alexandria, ganz Ägypten steht noch unter dem Eindruck dessen, was geschehen ist. Mitten in der Stadt klafft ein Loch, dort, wo sich ein zuvor unbekannter Raum für möglicherweise rituelle Bräuche befunden hat, der mit sich weite Teile des darüber liegenden al-Savvas-Klosters zum Einsturz gebracht hat. In Zeitungen, im Fernsehen, in Online-Medien wird seither wild spekuliert, was sich dort zugetragen hat. Manche vermuten, dass Schmuggler dort

Doch diejenigen, die noch leben und die am besten Auskunft über das Geschehene geben könnten, sie schweigen beharrlich. Aus diesem Grund hat das Innenministerium sie alle an diesen Ort zitiert.

 

Theo ist die Letzte, die sie noch einmal zu der Explosion in den Katakomben vernommen haben und die jetzt aus dem großen Raum hinausgeht auf die Außenterrasse, dorthin, wo sie die anderen gebeten hat noch einen Moment zu warten. Eine Stunde lang hat sie eben Ausreden und Ausflüchte erfunden, Unwissenheit vorgetäuscht. Sie hat lange mit sich gerungen, ob sie doch reinen Tisch machen und

Die illustre Gesellschaft bildet nun einen Kreis, auf dessen Mitte zu Theodora sich langsam bewegt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, mit gesenktem, ernstem Blick. Die Sonne steht nun schon so tief, dass sie nur noch knapp über dem Horizont schwebt. Das Licht wird durchbrochen von dem kühlen Schein der Neonleuchten, die langsam, eine nach der anderen, angehen. Es ist angenehm mild draußen. Jetzt, Ende November, wird es nach Sonnenuntergang so frisch, dass man sich einen leichten Pullover oder eine Jacke überziehen muss, aber noch wärmen die letzten Sonnenstrahlen sie ein wenig. Theo trägt ein schwarzes Oberteil mit langen Ärmeln, eine eng anliegende Jeans und Schuhe mit Absätzen. Fast könnte man meinen, sie wolle heute noch ausgehen. Aber ein Fest ist diese

 

Die anderen ahnen nicht, was jetzt passieren wird, warum Theo sie in Wirklichkeit gebeten hat, sich nach den Vernehmungen hier zu versammeln. Sie erinnert sich, wie sie ganz zu Beginn des Falls überlegt hat, ob sie ihn überhaupt annehmen solle, ob sie die Richtige sei, den Mord an Abuna Gabriel aufzuklären. Jetzt spürt sie in sich die Bestätigung wachsen, die Überzeugung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Jetzt würde sie die Katze aus dem Sack lassen.

»Guten Abend, seien Sie gegrüßt! Wie schön, dass wir uns hier in dieser großen Runde treffen, nach allem, was passiert ist«, eröffnet sie ihre Ausführungen und schaut ernst in die Runde. »Was wir erlebt haben, dessen Bedeutung geht weit über diesen Kreis und über einen normalen Kriminalfall hinaus. So viel ist geschehen, dass wir erst einmal verstehen müssen.« Sie macht eine Pause, geht im Kreis auf und ab, sieht jeden der Besucher einzeln an. »Aber auch wenn vieles weiterhin unklar ist, so kann ich ein Rätsel heute Abend dennoch lösen.« Alle hier spüren den Moment der Spannung. »Denn die Frage, wer Abuna Gabriel, Yannis Stephanopulos und Giorgios Stephanopoulos ermordet hat, ist für mich noch offen.«

Ein Raunen geht durch die Menge. Manche der Gäste scharren unruhig mit den Füßen.

»Aber wieso?«, poltert der junge Polizist Basil nach ein paar Augenblicken als Erster. »Es war der Archäologe, der vor nichts haltmachte, um zu seinem Ziel zu gelangen.«

»Ja, zugegeben«, stimmt Theo nickend zu, »lange habe auch ich gedacht, dass Monsieur Bernheim ein Mörder sein könnte. Aber ist er es wirklich?« Gespannt sehen die Gäste zu ihr.

»Natürlich, es würde schon irgendwie passen«, fährt sie fort. »Da ist dieser französische Abenteurer, Pardon, Archäologe, der nach Ruhm strebt, dafür bekannt ist, skrupellos zu sein. Er ist davon überzeugt, das Grab der Kleopatra liege irgendwo unter einem der alten Gotteshäuser in Alexandria, und beginnt zu suchen. Die Priester in den Kirchen bemerken das und versuchen, das uralte Geheimnis – aus welchen Gründen auch immer«, Theo schaut demonstrativ unwissend, »um jeden Preis zu wahren. Und als Jacques an seinen Nachforschungen gehindert wurde, merkte er zunächst, dass er auf der richtigen Fährte war. Und dass er die, die ihn in seiner Suche behinderten, aus dem Weg schaffen musste. Zunächst Abuna Gabriel, später Yannis Stephanopoulos und schließlich – Cousin Giorgios.«

»Ja, so könnte es gewesen sein.« Theodora macht wieder eine lange Pause. »Aber vielleicht auch nicht.« Theo lässt ihren Blick erneut schweifen. »In dieser Abfolge von Ereignissen gibt es drei Umstände, beziehungsweise Indizien, die ich mir nicht erklären konnte und die nicht in diese zugegeben ansonsten plausible Theorie passten.«

»Was denn?«, fragt Lina neugierig und rutscht auf ihrem Stuhl an die vordere Kante.

»Da ist zunächst einmal der missglückte Anschlag auf

»Wissen wir denn überhaupt, ob es wirklich ein Attentat war?«, wirft Amira ein.

»Nun, nehmen wir einmal an, es war so, wie die Familie es geschildert hat. Also ein Anschlag. Dann kann Jacques dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden. Denn er befand sich zu diesem Zeitpunkt nachweislich noch gar nicht in Ägypten. Und warum sollte er zunächst versuchen, Yannis umzubringen, wenn er doch erst viel später bei einer seiner Erkundigungen in der Sankt-Nicholas-Kirche zufällig auf Gabriel trifft, den er als Erstes aus dem Weg räumt. Nein, sosehr ich auch darüber nachdachte, mir fiel nicht ein, wie dieses Ereignis in das Bild passen könnte.«

»Sie sprachen von drei Dingen, die Sie sich nicht erklären können!«

»Ja, genau. Dann, zweitens, habe ich am Tatort des dritten Mordes etwas entdeckt, das Fragen aufwarf. Wir fanden diese braun getönte Kontaktlinse. Warum lag sie da? Warum eine? Und warum eine getönte?« Theo schaut in die Runde und erntet fragende Blicke. »Eine weiche Kontaktlinse zu verlieren, ist gar nicht so einfach. Das passiert nicht einfach so. Mich machte das stutzig, und ich habe die Linse untersuchen lassen. Und siehe da: Diese Linse hatte gar keine Sehstärke. Der Träger hatte sie aus rein kosmetischen Gründen im Auge. Oder aus taktischen.« Theo spürt, wie sie den Anlauf zu ihrem kleinen Triumpf genießt.

»Vielleicht stand das ja nicht im Zusammenhang mit

»Ja, vielleicht. Aber auch hier: Nehmen wir einmal an, es bestünde ein Zusammenhang. Dann wäre die einzige Erklärung die, dass der Täter seine Augenfarbe verändern wollte.«

Die Stille auf der Terrasse ist angespannt. Die Anwesenden haben sich von Theo in ihren Bann schlagen lassen und möchten nun wissen, wie es weitergeht. Noch scheint keine Lösung greifbar. »Und ja, natürlich kann man das alles abtun. Dass es gar keinen Angriff gegeben hat, dass die Linse einfach nur so da lag.«

»Und drittens?«, fragt vorsichtig Amira in Richtung Theo.

»Die dritte Sache, die überhaupt nicht in das Bild passte, war das letzte Opfer selbst, der Mord an Giorgios Stephanopoulos.« Wieder macht Theo eine lange Pause. »Der dritte Mord hat alles verändert. Er ergibt keinen Sinn und kann nicht, wie die ersten beiden, erklärt werden. Giorgios Stephanopoulos war kein Priester, arbeitete nicht in der Gemeinde. Im Gegenteil: Er kam aus Beirut! Was sollte er mit Jacques Bernhein zu tun gehabt haben? Er war nicht von hier, und das war auch für jedermann erkennbar.«

Theo blickt reihum in die fragenden Gesichter der Anwesenden.

»Und das lässt nur einen Schluss zu: dass die Morde eben nicht im so offensichtlichen Zusammenhang mit dem archäologischen Abenteuer von Jacques Bernheim stehen. Und schon gar nicht spontan geschahen, weil die Opfer irgendjemanden überrascht haben. Sondern, dass es sich

»Bleiben wir noch einen Moment beim dritten Mord. Der war so anders – und ich fürchte, er hatte auch mit mir zu tun.«

Alle schauen sich fragend wechselseitig an.

»Der Mord fand tagsüber statt, in einer Umgebung, die für den Mörder gefährlich war. Überall waren Menschen, er arbeitete nicht im Schutz der Dunkelheit, konnte jederzeit ertappt werden. Warum also dieses Risiko? Es kann nur zwei Erklärungen geben. Die erste: Es handelt sich um einen ganz anderen Fall. Die Morde haben nichts miteinander zu tun. Eher unwahrscheinlich. Die zweite: Der Cousin musste auf diese so andere Weise sterben, weil es schnell gehen musste und keinen weiteren Aufschub duldete. Gefahr im Verzug, so sagt man wohl.«

»Aber warum?«

»Weil er etwas gesehen oder gehört hat, das für den Mörder höchst entlarvend gewesen sein könnte – und er im Begriff war, es mir zu sagen. Daher, fürchte ich, bin ich in diesem Fall so etwas wie der Auslöser gewesen. Und das bedeutet, dass er sofort und ohne Zögern getötet werden musste. Aber was, was könnte er gesehen oder gehört haben? Er kam zu mir und sagte, er müsse mit mir reden. Ich sagte, gerne, nach dem Gottesdienst. Dann jedoch erhielt er einen Anruf, verließ die Kirche und wurde draußen vor dem Eingang ermordet.«

»Was wissen wir von ihnen, der Frau und der Tochter des Priesters, der sie immer wieder schlug. Wo haben sie gelebt, bevor sie hierher nach Alexandria kamen? Sie sagten, im Libanon, in Beirut. Und da seien Sie, Claire, auch zur Welt gekommen.« Sie fixiert die junge Frau mit ihren Blicken.

»Nur, dass das gelogen war. Es war nicht einmal besonders schwierig, das herauszufinden. Denn natürlich ist Ihr wahrer Geburtsort vermerkt in Ihrem Pass und damit auch in der Datei zu Ihrer Aufenthaltsgenehmigung. Sie wurden geboren in einem Dorf namens Baskinta!«

Claire schaut still zu Boden.

»Baskinta, ein Städtchen in den Jibal, in den Bergen des Libanon. Ich habe das mal recherchiert. Es hat fünfzehntausend Einwohner, 70 Prozent Maroniten, 30 Prozent orthodoxe Christen. Ein einsamer Ort, und einer der höchstgelegenen des Libanon.«

Theo dreht sich um, bleibt stehen und schaut Mutter und Claire intensiv an.

Sie schaut die Kommissarin resigniert an, hält zwei, drei Sekunden inne und sagt dann: »15. April 1998