Alexandria, Anfang Dezember
Theodora sitzt allein in der ersten Reihe der Evangelismos-Kathedrale und betrachtet ruhig die Ikonenwand. Nur ein paar alte Frauen sind an diesem Nachmittag noch in der Kirche, entzünden neben dem Eingang Kerzen, küssen die Ikonen und beten.
Sie hatte geahnt, dass dieser Fall sie so sehr fordern würde wie noch keiner zuvor. Aber die wahre Tragweite, die Verstrickungen, die Erkenntnisse, die sie aus den vergangenen Monaten für immer in ihrem Leben mitnehmen wird, haben ihren Blick auf die Welt um sie herum verändert. Und haben sie verändert.
Theo greift in die Umhängetasche, die sie mitgebracht hat und die zu ihren Füßen an die Kirchbank gelehnt steht. Heraus zieht sie ein kleines Buch. Einen Bildband, wie sie ihn jedes Jahr ihrer Mutter zum Geburtstag schenkt. Aber dieses ist kein Geschenk an ihre Mutter, sondern eines an sie selbst. Es ist ein Bildband mit gedruckten Fotos aus der Zeit »davor«, bevor sich ihre Eltern getrennt haben. Ein paar der Bilder lassen sie die kindliche Unbeschwertheit, das Gefühl der Geborgenheit spüren, das sie kannte, als sie acht, neun, zehn Jahre alt war und die Welt um sie herum noch in Ordnung schien. Vater, Mutter, Freunde, ein heiles Zuhause. Und Bilder aus der Zeit, als all das nicht mehr in Ordnung war. Als ihre Mutter und sie alleine waren, in einem Land, das nicht fremd, aber dennoch nicht Heimat war, ärmer, einsamer, haltloser als zuvor. Kurz: unglücklich und auf einem ganz schlechten Weg – dem nämlich, dass sie diesem Gefühl mit einem Streik sich selbst gegenüber begegnete. Einfach nichts mehr zu essen. Bilder aus dieser Phase ihres Lebens sind auch in diesem Buch, und es fällt Theo noch immer schwer, sie sich anzusehen. Aber sie hat verstanden, als sie die Panik gespürt hatte, als die Fassade brach, als die Selbstbeherrschung sie verließ, dass der Schein, den sie nach außen trägt, die Brüche der Vergangenheit in ihrem Inneren nicht überstrahlen kann. Dass auch diese Bilder, diese Zeit, dieses Unglück ein Teil von ihr ist, sosehr sie auch wegschauen möchte. Dass auch Angst, Unsicherheit, Selbstzweifel Teil von ihr sind, sosehr sie auch versucht, all das durch eine Fassade von Stärke und Selbstbewusstsein zu überspielen. Und dass sie zulassen, anerkennen, üben muss, dass das so ist. In den vergangenen Nächten haben sie Albträume aus dem Schlaf gerissen, in denen sie die Szene in dem unterirdischen Labyrinth noch einmal durchlebt hat. Die Panik in ihr aufstieg und sie schreiend aufgewacht ist. Das ist ihr vorher noch nie passiert. Als es in der Nacht zu gestern wieder geschah, da hat sie den Entschluss gefasst. Den Entschluss, sich ihren Ängsten, ihrer Unsicherheit und auch ihrer Vergangenheit zu stellen. Nicht mehr wegzusehen, sondern die Bilder von früher zu ertragen. Nicht mehr nachts schreiend aufzuwachen, sondern darüber zu sprechen. Sie hat einen Termin mit der Polizeipsychologin ausgemacht. Es hat sie viel Überwindung getroffen, aber Theo ist entschlossen, den Termin in der kommenden Woche wahrzunehmen. Sie ist bereit, sich ihren Dämonen zu stellen.
Theo lässt das Fotobuch zurück in die Tasche gleiten und schaut auf, betrachtet die Darstellung der Mutter Gottes in der Ikonenwand. Eine Frau wie sie, schwarzes Haar, hellweiße Haut. Was wäre, wenn es eine schwarze Frau wäre, auf die sie da blickt? Was würde das mit ihr machen? Ist es richtig, nach all dem, was sie jetzt weiß, was man jetzt weiß, diese Abbildung stehen zu lassen? Weiter anzubeten wie eine Götzin, denn das echte Göttliche ist ja ein anderes, hat ein anderes Antlitz? Müsste man nicht dieses Bild wie so viele andere auch ersetzen oder zumindest ergänzen?
Und warum betet sie zu einem Gott, einem männlichen Gott? Liegen die Anhänger des Isis-Kultes nicht viel richtiger, wenn sie die Frau, das Weibliche, das Mütterliche als göttliche Natur ansehen, die Leben spendet? In ihrer Kirche, in der Religion der meisten Einwohner ihres Landes, in ihrer Kultur ist die Frau das minderwertige Beiwerk des Männlichen. Und das soll sie anbeten?
Und was passiert jetzt mit dem Geheimbund, der sich geschworen hat, das Geheimnis zu wahren? Gewiss, einige der Anhänger sind bei der Explosion in der unterirdischen Halle ums Leben gekommen, aber andere leben. Wen werden sie jetzt anbeten, wenn die Überreste ihrer lebendigen Göttin Isis auf Erden doch unwiederbringlich zerstört wurde?
Theodora steht langsam auf, da sieht sie vorne rechts an der Ikonenwand den neuen Patriarchen. Er ist ein junger, schlanker Mann mit einem freundlichen Gesicht, dichtem schwarzen Haar und braunen Knopfaugen. Gerade als Theo sich umdrehen will, um zu gehen, hört sie, wie er »Frau Costanda?« ruft. Theo dreht sich um, der Patriarch lächelt sie an und kommt mit energischen Schritten auf sie zu. »Ich bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Man hört ja sehr viel von Ihnen.« Theo lächelt etwas gequält. Tatsächlich kann sie gerade kaum einen Schritt vor die Tür machen, ohne dass Menschen sie ansprechen. Ihr Gesicht war tagelang in allen Nachrichtensendungen zu sehen. »Ja, mehr, als mir lieb ist«, sagt sie freundlich. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, ich bin Patriarch Christos«, sagt er und reicht ihr die Hand. Als sie ihm die ihre gibt, streicht er mit seinem Daumen über ihren Handrücken. Theo erschrickt, schaut ihn fragend an. Seine dunklen Augen mustern sie ernst. Schließlich sagt Christos nur ein Wort:
»Amoun!«