Alexandria, Anfang Dezember

Theodora sitzt allein in der ersten Reihe der Evangelismos-Kathedrale und betrachtet ruhig die Ikonenwand. Nur ein paar alte Frauen sind an diesem Nachmittag noch in der Kirche, entzünden neben dem Eingang Kerzen, küssen die Ikonen und beten.

Sie hatte geahnt, dass dieser Fall sie so sehr fordern würde wie noch keiner zuvor. Aber die wahre Tragweite, die Verstrickungen, die Erkenntnisse, die sie aus den vergangenen Monaten für immer in ihrem Leben mitnehmen wird, haben ihren Blick auf die Welt um sie herum verändert. Und haben sie verändert.

Theo greift in die Umhängetasche, die sie mitgebracht hat und die zu ihren Füßen an die Kirchbank gelehnt steht. Heraus zieht sie ein kleines Buch. Einen Bildband, wie sie ihn jedes Jahr ihrer Mutter zum Geburtstag schenkt. Aber dieses ist kein Geschenk an ihre Mutter, sondern eines an sie selbst. Es ist ein Bildband mit gedruckten Fotos aus der Zeit »davor«, bevor sich ihre Eltern getrennt haben. Ein

Theo lässt das Fotobuch zurück in die Tasche gleiten und schaut auf, betrachtet die Darstellung der Mutter Gottes in der Ikonenwand. Eine Frau wie sie, schwarzes Haar, hellweiße Haut. Was wäre, wenn es eine schwarze Frau wäre, auf die sie da blickt? Was würde das mit ihr machen? Ist es richtig, nach all dem, was sie jetzt weiß, was man jetzt weiß, diese Abbildung stehen zu lassen? Weiter anzubeten wie eine Götzin, denn das echte Göttliche ist ja ein anderes, hat ein anderes Antlitz? Müsste man nicht dieses Bild wie so viele andere auch ersetzen oder zumindest ergänzen?

Und warum betet sie zu einem Gott, einem männlichen Gott? Liegen die Anhänger des Isis-Kultes nicht viel richtiger, wenn sie die Frau, das Weibliche, das Mütterliche als göttliche Natur ansehen, die Leben spendet? In ihrer Kirche, in der Religion der meisten Einwohner ihres Landes, in ihrer Kultur ist die Frau das minderwertige Beiwerk des Männlichen. Und das soll sie anbeten?

Und was passiert jetzt mit dem Geheimbund, der sich geschworen hat, das Geheimnis zu wahren? Gewiss, einige der Anhänger sind bei der Explosion in der unterirdischen Halle ums Leben gekommen, aber andere leben. Wen werden sie jetzt anbeten, wenn die Überreste ihrer lebendigen

Theodora steht langsam auf, da sieht sie vorne rechts an der Ikonenwand den neuen Patriarchen. Er ist ein junger, schlanker Mann mit einem freundlichen Gesicht, dichtem schwarzen Haar und braunen Knopfaugen. Gerade als Theo sich umdrehen will, um zu gehen, hört sie, wie er »Frau Costanda?« ruft. Theo dreht sich um, der Patriarch lächelt sie an und kommt mit energischen Schritten auf sie zu. »Ich bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Man hört ja sehr viel von Ihnen.« Theo lächelt etwas gequält. Tatsächlich kann sie gerade kaum einen Schritt vor die Tür machen, ohne dass Menschen sie ansprechen. Ihr Gesicht war tagelang in allen Nachrichtensendungen zu sehen. »Ja, mehr, als mir lieb ist«, sagt sie freundlich. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, ich bin Patriarch Christos«, sagt er und reicht ihr die Hand. Als sie ihm die ihre gibt, streicht er mit seinem Daumen über ihren Handrücken. Theo erschrickt, schaut ihn fragend an. Seine dunklen Augen mustern sie ernst. Schließlich sagt Christos nur ein Wort:

»Amoun!«