Sonntag

Normalerweise ist der Sonntag in der arabischen Welt ein gewöhnlicher Arbeitstag. Entsprechend lärmend geht es bereits am Morgen am zentralen Tahrir-Platz zu. Doch trotz all dem Gehupe in den wie immer völlig verstopften Straßen ist das Läuten der Glocken der Evangelismos-Kathedrale trotzdem bereits zu hören. Theo hat sich entschlossen, an diesem Tag den Gottesdienst zu besuchen. Sie möchte hören, ob Patriarch Petros in seiner Predigt womöglich auf den Mord an Abuna Gabriel zu sprechen kommt und wie ganz allgemein die Stimmung in der Gemeinde ist.

Schon von weitem sieht sie die Schlange am Eingangsportal. Alle Gottesdienstbesucher werden abgetastet, müssen ihre Taschen öffnen und vorzeigen. Schwer bewaffnete Polizisten stehen daneben. Das ist immer so, aber seit dem Mord und dem ominösen Bekennerschreiben im Internet sind die Kontrollen verschärft worden. Entsprechend angespannt ist die Stimmung.

Auf dem Weg nach vorn küsst Theo die aufgestellten Ikonen. Sie sind nach orthodoxem Glauben ein Fenster zur himmlischen Wirklichkeit, durch das die Besucher die Gegenwart Gottes erfahren. Links, in der dritten Reihe, findet Theo noch einen freien Platz. Sie hat sich ein kleines Kissen mitgebracht. Zwei Stunden auf einer harten Holzbank stellen keine geringe Herausforderung dar.

Mit dem Einzug des Priesters und der Messdiener beginnt die Messe. Die Gemeinde singt das Eingangslied. Die meisten Menschen in der Kirche haben an diesem Morgen noch nichts zu sich genommen. Wer wahrhaft glaubt, fastet vor der Kommunion. Theo folgt dem Ritus, der ihr von Kindesbeinen an vertraut ist. Sie hört den Eröffnungslobpreis, antwortet auf die Gebetsrufe des Diakons, wendet den Kopf zum Einzug mit dem Evangeliar, hört die Epistel und die Worte aus dem Evangelium, und wann immer die Dreifaltigkeit Gottes erwähnt wird, bekreuzigt sie sich.

Schließlich betritt der Patriarch, Petros der Zweite, die Kanzel. Er trägt das Koukoulion, die rundliche Kopfbedeckung orthodoxer Patriarchen, um seinen Hals hängt die Panagia, eine Ikone der Gottesgebärerin Maria. Oben

»Liebe Gemeinde! Wir sind die Kirche Christi, die an der Seite der Unterdrückten, Gequälten und Ausgebeuteten steht und den Friedensstiftern und Friedfertigen hilft. Wir sind die Kirche der Armen, der Entrechteten, der Witwen und Waisen, die Kirche des Friedens, die für die Errettung aller Menschen betet. Wir beten auch für gerechte Herrschaft, wie schon der heilige Basilius sagte: ›Gedenke, o Herr, jeder Herrschaft und Gewalt, unserer Brüder im Palaste und des ganzen Heeres. Erhalte die Guten in Deiner Güte und mache die Bösen durch Deine Güte gut.‹

Heute wollen wir in unseren Gedanken und Gebeten ganz besonders an die Jungfrau Maria denken. An Maria und an die Rolle der Frau, wie sie in der Bibel erscheint. Frauen in der Bibel sind selbstbewusste Dienerinnen, klug, umsichtig, mutig, dabei stets demütig und bescheiden. Sie kümmern sich um die Kinder, um Arme und Kranke. Sie sind gute Zuhörerinnen und gute Ratgeberinnen, und als solche sind sie ihren Männern treu ergebene Gefährtinnen. Wie weit aber sind wir heute davon entfernt! Frauen sind Präsidentinnen, Ingenieurinnen, Managerinnen. Sie wollen gleichberechtigt sein. Das ist modern, das ist zeitgemäß. Nun, das Bestreben der Frauen ist durchaus verständlich. Aber was in unserer heutigen Welt zunehmend fehlt, ist die Bereitschaft, zu dienen, zu helfen, füreinander da zu sein. Was fehlt, sind die weibliche Tugenden, die wir uns im Miteinander wünschen, die wir brauchen, um uns geborgen zu fühlen. Dienen als Dienst am Mitmenschen, selbstlos, ohne auf Lohn zu hoffen. Das bedeutet nicht, schwach zu sein,

Theo ist verärgert. Sie hat das Gefühl, als habe Petros seine Worte speziell auf sie gemünzt – die Frau, die in eine Männerdomäne eingebrochen ist. Sie ist aber auch überrascht – dass Petros den Mord an Abuna Gabriel mit keinem Wort erwähnt hat. Offenbar will die Kirche den Fall nicht aufbauschen und möglichst schnell wieder zur Tagesordnung übergehen. Deswegen wohl auch die rasche Beerdigung am heutigen Nachmittag.

Dem Fortgang der Messe folgt Theo nur halbherzig. Ihre Gedanken sind bei dem Fall, bei Abuna Gabriel. Als schließlich die Pforten der Ikonenwand verschlossen werden, erhebt sie sich und strebt mit den anderen Gottesdienstbesuchern dem Ausgang zu. Als sie gerade die hinterste Bank erreicht hat, hört sie eine Stimme hinter sich.

»Theodora?«

Theo dreht sich um. Vor ihr steht ein Mann im Priestergewand. Erst auf den zweiten Blick erkennt sie in ihm Yannis Stephanopoulos. Als sie mit ihrer Mutter zurück nach Alexandria gekommen ist, wohnte er in ihrer Nachbarschaft. Theo war vierzehn, Stephanopoulos Ende zwanzig. Er war Theo von Anfang an unsympathisch. Ein arroganter Kerl, der gern mal seine Muskeln spielen ließ. Als sie hörte, dass er als Spätberufener Priester geworden war, konnte sie es nicht glauben.

»Guten Tag, Hochwürden«, sagt sie jetzt mit leichtem Spott in der Stimme.

Stephanopoulos lächelt süßlich. »Würden Sie bitte kurz

»Natürlich«, sagt sie verwundert. Sie will noch fragen, worum es geht, doch Stephanopoulos hat sich bereits umgedreht und ist losmarschiert. Theo folgt ihm hinaus.

Draußen schlägt ihnen die Mittagshitze entgegen. Der Weihrauchduft wird abgelöst von Autoabgasen. Sie überqueren den hellgepflasterten Platz vor der Kathedrale und gehen zu dem Nebengebäude, in dem sich die Büros der Gemeinde befinden.

Stephanopoulos führt sie in den ersten Stock, ins Büro des Patriarchen – ein großer Raum mit Bleiglasfenstern, die das Sonnenlicht von draußen nur gedämpft hereinlassen. Petros hat ihnen den Rücken zugekehrt. Er legt soeben das Sticharion, das liturgische Gewand, ab.

Als Stephanopoulos sich räuspert, hält Petros inne und sieht zurück über die Schulter.

»Ah, Theodora, mein Kind, wie schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Setzen Sie sich!«

Er hängt das Gewand an einen Kleiderständer, dann deutet er auf einen der Besucherstühle, die vor seinem breiten Schreibtisch stehen.

Stephanopoulos zieht sich zurück und Theo setzt sich.

»Danke. Das war eine interessante Predigt heute«, sagt sie. Sie ist noch immer verärgert und muss sich einfach Luft verschaffen.

Der Patriarch schaut sie einen Moment verwundert an, dann faltet er die Hände vor sich auf dem Schreibtisch, wiegt den Kopf. »Nun, meine Worte sind natürlich immer cum grano salis zu verstehen. Wir erleben schwere Zeiten,

»Mit den schweren Zeiten meinen Sie den Mord an Abuna Gabriel?«

Der Blick, den der Patriarch ihr zuwirft, macht deutlich, dass er es nicht gewohnt ist, unterbrochen zu werden.

»Ja, gewiss«, sagt er schließlich. »Ich muss Ihnen ja nicht erzählen, wie groß die Gefahr einer Eskalation ist. Für viele steht bereits fest, dass Abuna Gabriel Opfer eines muslimischen Anschlags geworden ist.«

Theo nickt. »Deswegen müssen wir so schnell wie möglich die Wahrheit herausfinden.«

Der Patriarch schaut sie eindringlich an. »Sie sind Ägypterin, ich Grieche. Sie wissen besser als ich, was Wahrheit in diesem Land wert ist.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.«

Der Patriarch greift zu einem alten, schweren Telefon auf seinem Schreibtisch und drückt eine Direktruftaste. »Schicken Sie Angelos herein.«

Kurz darauf öffnet sich die Tür, und herein kommt ein schmächtiger, kleiner Mann, vielleicht Anfang fünfzig, mit schütterem Haar und scheuem Blick.

»Angelos wird alles gestehen. Sie haben Ihren Mörder gefunden.«

Theo schaut den kleinen Mann an. Sie braucht einige Sekunden, bis sie begreift. Energisch wendet sie sich zum Patriarchen um. Ihre Miene verfinstert sich. »Was soll das werden?«

Der Patriarch hebt nur die Hände. »Fragen Sie Angelos.«

Theo ist sprachlos. Einen Moment ist sie wie gelähmt.

»Sie haben den Priester ermordet?«

Der Mann senkt den Blick, nickt.

»Wie?«

»Mit einem Messer.«

»Mit wie vielen Stichen?«

»Mit zwei Stichen. Oder waren es drei? Ich erinnere mich nicht so genau.«

»Und dann, was haben Sie dann getan?«

»Dann habe ich ihn ins Wasser geworfen.«

»Aha. Und warum haben Sie ihn ermordet?«

»Es ist eine alte Fehde. Wir sind wieder einmal in Streit geraten. Ein Wort gab das andere, und dann habe ich mich vergessen …«

Theo schnappt nach Luft. Sie hat schon viel erlebt in diesem Land. Überall stößt man auf Korruption – bei Behörden, bei Unternehmen, nicht zuletzt bei der Polizei, aber dass die Kirche sie verleiten will, eine Ermittlung mittels einer Lüge zu beenden, das hätte sie sich nie vorstellen können!

Wütend wendet sie sich an Patriarch Petros. »Wenn Angelos der Mörder ist, bin ich die auferstandene Mutter Teresa!«

Sie spürt, wie ihre Wangen glühen, ihr Puls rast. »Wie haben Sie diesen armen Mann dazu gekriegt, sich opfern zu wollen? Sie wissen, was es hieße, würde ich dieses Schauspiel mitmachen! Vielleicht würde er nicht einmal mehr den Prozessauftakt erleben! Und wenn, sein Gesicht wäre in allen Medien, das Bild eines kranken Extremisten. Ihm

Der Patriarch sieht nur auf seine gefalteten Hände und schweigt.

»Wieso tun Sie das?« Sie hat die Hände in die Hüften gestemmt.

Der Patriarch erhebt sich. Die Audienz ist offensichtlich beendet. »Überlegen Sie es sich«, sagt er. Dann, mit fast flehender Stimme: »Bitte!«

Theo betrachtet den Patriarchen mit seinem ehrfurchtgebietenden Bart, und ihr wird klar, was den Geistlichen antreibt – es ist Angst, nackte Angst.

»Tut mir leid, da muss ich nicht überlegen«, sagt Theo. »Wir tun unsere Arbeit, und wir werden den Mörder finden. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe noch zu tun.« Damit wendet sie sich ab und geht zur Tür, vorbei an dem völlig verdutzten Angelo. »Sto epanithin! – Auf Wiedersehen!«, sagt sie, ohne sich noch einmal umzusehen, und verlässt den Raum.

 

Zur Polizeistation ist es nicht weit, fünf Minuten zu Fuß, wenn sie zügig geht. Der Spaziergang würde ihr guttun, um nachzudenken über das, was sie da gerade erlebt hat. Was hat der Patriarch mit solch einer Inszenierung bewirken wollen? Ja, man hätte einen Schuldigen, und mit etwas Glück würde sich die Lage zwischen Muslimen und Christen tatsächlich beruhigen, bevor Schlimmeres passiert. Oder glaubt er, dass die Polizei nicht energisch genug ermittelt, dass die Ermittlungen früher oder später im Sande verlaufen werden? Nun, die Befürchtung ist leider nicht

Plötzlich quietschen Reifen. Ein Wagen kommt wenige Zentimeter neben ihr im letzten Moment zum Stehen. »He, pass doch auf!«

Theo sieht erst den Wagen, dann den Fahrer entgeistert an. Sie war in Gedanken einfach auf die Straße gelaufen. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Hinter dem Auto staut sich bereits der Verkehr, ein heftiges Hupkonzert setzt ein. Theo löst sich aus ihrer Erstarrung und tritt mit Gesten der Entschuldigung zurück auf den Bürgersteig. Wie konnte sie das denn nicht gemerkt haben?

Als Theo fünf Minuten später die Tür zu ihrem Büro öffnet, ist sie entschlossen, Fadi vorerst nichts von der versuchten Vertuschung durch den Geistlichen zu erzählen. Dafür kennt sie ihn noch nicht gut genug. Es wäre fatal, wenn er mit der Information hausieren ginge.

»Marhaba«, grüßt sie.

Fadi sieht von seinem Schreibtisch auf. »Salam«, sagt er. »Und? Irgendwas Neues von der griechischen Gemeinde?

Theo hat sich gesetzt. Sie wagt keinen Blickkontakt, als sie antwortet: »Nein, nichts. Der Patriarch hat den Mord in seiner Predigt mit keinem Wort erwähnt. Offenbar will er die Gemeinde nicht unnötig beunruhigen. Ich gehe heute Nachmittag zu der Beerdigung. Vielleicht kann ich da noch mit einigen Gemeindemitgliedern sprechen.«

Theo sieht ihn überrascht an. Warum eigentlich nicht, denkt sie und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Na gut. Wie wäre es mit dem Griechischen Club an der Zitadelle?«

»Na, dann los! Sollen wir ein Taxi nehmen?«

»Nein, ich bin heute Morgen mit dem Wagen hergefahren und habe den hier abgestellt, bevor ich zum Gottesdienst wollte. Ich fahre!«

Fadi folgt Theo hinaus ins Freie, auf den rappelvollen Parkplatz im Innenhof der Polizeistation. Sein Blick fällt auf einen riesigen alten, dunkelroten SUV, der ziemlich genau in der Mitte des Parkplatzes steht und auf den seine neue Kollegin nun zielstrebig zugeht. Theo bemerkt seinen fragenden Blick.

»Das ist ein Dodge Durango. Amerikanische Marke!« Theo öffnet die Tür zu dem hohen Wagen und schwingt sich hinauf in die Fahrerkabine, während sie sich am Innengriff der Tür festhält. Fadi tritt an die Beifahrertür und blickt sie an, noch immer mit großen, überraschten Augen. »Was? Hast du gedacht, ich fahre so ein kleines Mädchenauto? Einen Fiat 500 oder einen 2-CV? Ich hab den in einer Gebrauchtwagenanzeige gesehen und dachte, das ist genau das Richtige für eine durchsetzungsstarke Frau.« Sie lächelt verschmitzt und bedeutet Fadi mit einer Kopfbewegung, endlich einzusteigen. Der Motor des Dodge brummt laut auf, als Theo den Zündschlüssel umdreht, und mit

 

Bis zur Qaitbaj-Zitadelle am Hafen ist es nur gut eine Viertelstunde Fahrt. Über die Salah-Salam-Straße, vorbei am Tahrir-Platz, gelangen sie zur Corniche, die sich hier in Richtung Westen an der weitgeschwungenen Hafenbucht entlangschmiegt, der »Mina al-Scharqija«. Theo lässt das Fenster hinunter, lässt sich den Fahrtwind um die Nase wehen und betrachtet das strahlende Blau des Wassers, auf dem unzählige Fischerboote und kleine Jachten dümpeln. Auf Arabisch trägt die Stadt den Beinamen »Arus al-Bahr«, Meeresbraut. Es ist diese Nähe zum Meer, die Alexandria einzigartig macht unter allen Städten Ägyptens.

Am Ende der Bucht, am Qaitbaj-Kreisverkehr, nimmt sie die erste Ausfahrt und steuert ihr großes Gefährt in eine gerade so passende Parklücke. Von hier ist es noch ein kleiner Fußmarsch bis zur äußersten Spitze des Hafenbogens, wo sich der Griechische Club befindet, direkt daneben die mächtige Zitadelle. Theo blickt auf diese gewaltige Festungsanlage. Hier stand einst der legendäre Pharos, der Leuchtturm, eines der sieben Weltwunder der Antike. Etwa hundertfünfzig Meter soll er hoch gewesen sein. Ein Metallhohlspiegel reflektierte tagsüber das Sonnenlicht, nachts wurden Pechfeuer entzündet, deren Licht von der Spitze des Leuchtturms mehr als fünfzig Kilometer weit zu sehen war. Der Pharos fiel im 9. Jahrhundert einem Erdbeben zum Opfer. Der Mameluken-Sultan al-Aschraf verwendete die Trümmer rund siebenhundert Jahre

Im Restaurant setzen Theo und Fadi sich an einen der einfachen Holztische auf der Terrasse, die sich über einem kleinen Sandstrand erhebt.

»Kalimera, was kann ich Ihnen bringen?«

»Was ist denn der Fang des Tages?«

»Wir haben frische Dorade.«

»Dann einmal Dorade bitte, mit Reis.«

Der Kellner sieht Fadi an.

»Für mich das Gleiche.«

Als der Kellner gegangen ist, wendet Theo sich Fadi zu, stützt die Ellenbogen auf den Tisch und faltet die Finger ineinander, so wie sie es auch gern bei ihren Befragungen im Büro macht.

»Nun, es ist wohl an der Zeit, dass wir uns mal einander vorstellen, oder?«

Fadi lächelt. »Klar. Besser spät als gar nicht.«

»Ich arbeite in der Regel alleine. Ich bin es nicht gewohnt, mit jemandem gemeinsam zu ermitteln.«

»Da sind wir schon zwei. Ich arbeite zum ersten Mal mit einer Kollegin zusammen.«

»Schweres Schicksal, wenn man als ägyptischer Mann mit einer Frau ein Team bildet, was?«, scherzt Theo.

»Dann bin ich wohl kein typischer ägyptischer Mann. Team ist Team, würde ich sagen.«

Theo lächelt. »Du stammst aus Kairo?«

»Ja.«

»Heliopolis.«

»Oh, noble Gegend. Und warum bist du dann nach Alexandria gekommen? Von der glitzernden Metropole in die Provinz?«

»Ich wurde kurzfristig hierherbeordert.«

Theo wird hellhörig. »Was heißt kurzfristig?«, fragt sie scheinbar beiläufig.

»Ich weiß nicht mehr genau, wann mich mein Chef informiert hat. Vor einer Woche vielleicht, oder zwei.«

Theo nickt. Entweder er sagt die Wahrheit, dann hatte seine Versetzung nichts mit dem aktuellen Fall zu tun, oder er ist ein sehr guter Lügner. Noch hält sie beides für möglich.

Die Ermittler schweigen, während der Kellner den Fisch serviert.

»Und, Fadi, hast du Familie?«

»Nein, noch nicht. Und du?«

Sie schüttelt den Kopf, und ihr wird klar, dass allein das schon Antwort genug ist. Theo wurde Ende des Jahres dreißig. Wer da noch keine Familie hat, mit dem stimmt etwas nicht. Bislang hat ihr niemand Vorwürfe deswegen gemacht. Aber Theo hat schon gemerkt, wie ihre Mutter langsam nervös zu werden beginnt. »Keine Familie – und bislang wird es geduldet.«

Fadi nickt. »Meine Eltern bemühen sich auch, mir nicht zu sehr reinzureden. Aber die Blicke sind eindeutig … Und manchmal taucht meine Mutter wie zufällig mit einer entfernten Cousine auf, die gerade auf der Suche nach einem Mann ist … Na, so was in der Art. Da unterscheiden

Theo nickt. »Und sonst?«, fragt sie.

»Wie sonst?«

»Na, Hobbys zum Beispiel? Machst du Sport, gehst du gern ins Kino?«

Fadi zuckt mit den Schultern. »In Kairo war ich im Gezira Sporting Club. Da bin ich dreimal die Woche morgens vor der Arbeit schwimmen gegangen. Hier habe ich es jetzt ein paarmal geschafft, morgens joggen zu gehen. An der Corniche. Hat was. So was ist in Kairo nicht möglich. Und du?«

»Ich …«

Sie bricht ab, als sie eine gigantische weiße Motorjacht bemerkt, die sich gemächlich einen Weg zwischen den Fischerbooten hindurch bahnt, die im Vergleich zu der Jacht jetzt wirken wie die sprichwörtlichen Nussschalen. Die Crew ist im grellen Glitzern des Meeres nur schemenhaft zu erkennen. Als sie nahe genug am Hafenrand angelangt ist, stoppt die Jacht die Motoren, und am Bug wird der Anker zu Wasser gelassen.

Auch Fadi hat das Manöver bemerkt. »He, ist das nicht die Jacht von diesem Franzosen? Jacques Bernheim? Ich habe die im Internet gesehen.«

»Ja«, sagt Theo und beginnt, ihre Dorade zu zerlegen. Ihre Miene hat sich verfinstert. »Da drüben in der Stadt kann die Hälfte der Bevölkerung sich kaum genug zu essen kaufen. Wie müssen die Menschen sich fühlen, wenn sie diesen Luxus sehen.«

Theo geht über die Bemerkung hinweg. »Bernheim war in den letzten Tagen häufiger im Fernsehen«, fährt sie fort. »Er macht in der Stadt auf eigene Kosten Ausgrabungen. Dabei ist er offenbar gar kein richtiger Archäologe, sondern bloß ein Abenteurer, der gern seinen Reichtum präsentiert, um sich wichtigzumachen.«

Fadi zuckt mit den Schultern. »Das sehe ich anders. Waren nicht viele der Archäologen, die unsere Altertümer wiederentdeckt haben, solche Abenteurer aus Europa oder Amerika? Unsere Tourismusindustrie ist ihnen jedenfalls zu großem Dank verpflichtet.«

Theo sieht erneut zu der Jacht. »Das mag für die Zeit zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts stimmen. Aber was will denn so einer wie dieser Bernheim jetzt noch finden? Es gibt doch kaum noch ein Haus, kaum noch einen Stein, von dem nicht bekannt ist, ob einst Alexander der Große oder Cäsar daran vorbeigegangen ist.«