Montag
Theo war klar, dass die Beerdigung von Abuna Gabriel ein Großereignis werden würde. Aber dass es praktisch das ganze Schatby-Viertel vereinnahmt und der Verkehr dort praktisch zum Erliegen kommt, hätte sie nicht gedacht. Der Himmel hat sich früh am Morgen zugezogen. Durch das Grau der dichten Wolkendecke fällt ein ungewöhnlich gedimmtes Licht auf die Häuserschluchten der »Meeresbraut«. An diesem Tag ist es schon deutlich kühler, und so trägt der ein oder andere eine leichte schwarze Jacke. Auf der Straße drängen sich Menschen jeden Alters. Sie sind gekommen, um den Sarg zu begleiten, um ihre Trauer zu bekunden und der Familie beizustehen. Einige wenige sind jedoch nur hier, um ihren Unmut zu bekunden, Rache zu fordern. Für sie steht fest, dass Muslime hinter der Ermordung stecken. Gegen 15 Uhr soll der Priester auf dem Friedhof zur letzten Ruhe gebettet werden, aber es zeichnet sich schon jetzt ab, dass es später werden wird, so langsam, wie der Trauerzug voranschreitet.
Die Witwe, ihre Söhne und Töchter gehen am Kopf des Zuges, gestützt von Angehörigen und Freunden. Frauen weinen laut um den Verstorbenen und halten sich Taschentücher vor das Gesicht. Einige heben Bilder mit seinem Porträt in die Höhe. Als der Trauerzug endlich auf dem Friedhof ankommt, ist es halb fünf. Die Männer stellen den Sarg ab. Ein Priester spricht ein Gebet. Dann wird der Sarg ins Grab hinabgelassen.
Theo ist außerhalb des Friedhofs auf dem Bürgersteig stehen geblieben und beobachtet die Trauergemeinde aus der Entfernung. Sie erschrickt, als ein Ball vor ihre Füße fällt. Ein kleiner Junge kommt von der anderen Straßenseite herübergelaufen. Er hebt ihn auf, entschuldigt sich und läuft davon.
Als Theo sich wieder dem Geschehen auf dem Friedhof zuwendet, bemerkt sie eine Frau, die so wie sie die Beerdigung aus der Ferne beobachtet. Sie trägt einen schwarzen Schleier und eine schwarze Sonnenbrille. Sie fällt Theo auf, weil sie sich immer wieder umblickt, als fühle sie sich verfolgt.
Theo beschließt, sich ihr zu nähern. Mit verschränkten Armen macht sie ein paar vorsichtige Schritte auf die Frau zu. Als die Frau sich erneut umsieht, treffen sich ihre Blicke – das heißt, Theo vermutet es, denn wegen der Sonnenbrille kann sie es nicht sicher sagen. Aber im nächsten Moment wendet die Frau sich abrupt um und geht davon.
Theo geht ihr nach. Als die Frau sich umsieht und feststellt, dass Theo noch immer da ist, beginnt sie zu laufen. Theo flucht. Sie kann die Frau zwischen den Passanten auf der Straße an dem schwarzen Schleier ausmachen. Sie beginnt ebenfalls zu laufen, schubst immer wieder Menschen zur Seite, die ihr im Weg stehen. Immer schneller läuft die Frau, und Theo hat Mühe, Schritt zu halten. Weshalb flieht sie? Theo läuft auf der belebten Straße so schnell sie kann. Die andere ist flink, weicht den Passanten geschickt aus. Doch Theo kommt ihr näher. In diesem Moment hält weiter vorn ein Taxi am Straßenrand, und ein Fahrgast steigt aus. Die Frau sieht das Auto. Mit einem Sprung ist sie auf der Straße. Sie reißt die Tür auf und steigt ein. Im nächsten Moment fädelt sich das Taxi in den Verkehr ein und braust davon.
Theo bleibt im Gewühl auf dem Bürgersteig stehen, sie keucht, stemmt ihre Hände in die Hüften, versucht wieder zu Atem zu kommen. Wer könnte die Frau gewesen sein? Weswegen ist sie davongelaufen?
Nachdenklich geht Theo zurück zum Friedhof. Die Trauergesellschaft ist dabei, sich aufzulösen.
Es ist 16 Uhr, als Jacques Bernheim sich an diesem Montag für seinen Tauchgang bereit macht. Neben ihm sein Mitarbeiter Toni, der ihn begleiten wird. Sie streifen die Neoprenanzüge über, führen die Arme durch die Schlaufen des Tauchrucksacks mit den Sauerstoffflaschen. Schwimmflossen, Taucherbrille, Schnorchel. Die Handgriffe sind Routine geworden, denn seit Tagen gehen sie regelmäßig hinunter auf den Grund der Hafenbucht.
»Viel Glück!«, rufen sich Jacques und Toni gegenseitig zu, dann klettern sie die Leiter hinunter und steigen in das kleine Schlauchboot, das an der Seite der 34-Meter-Jacht festgemacht hat. Von dort aus lassen sie sich mit einer Rolle rückwärts ins Wasser fallen.
Glück – das brauchen sie. Obwohl Jacques sonst nichts gern dem Zufall überlässt, nicht bei seinen Großprojekten und nicht in seinem Leben insgesamt.
So wie damals, als er seine Doktorarbeit schrieb, oder besser schreiben ließ, von einem jungen, aufstrebenden Archäologen, dem er über zwei Jahre viel Geld dafür zahlte. Wie er die mündliche Verteidigung der Arbeit absolvieren sollte, darüber machte er sich damals keine Gedanken, denn allen Personen in der Prüfungskommission war klar, welche großzügigen Gelder aus der Stiftung seiner Familie, der er inzwischen vorsitzt, in die Universität flossen.
Oder wie vor drei Jahren, als er sich anschickte, den großen Obelisken von Umm Durman zu finden. Längst kannte er den Ort, an dem er im Wüstensand vergraben lag, denn er hatte über Jahre heimlich hinter den Kulissen viel Zeit und Geld in die Suche und dann auch in die Prüfung der Echtheit des steinernen Kolosses gesteckt. Erst dann kündigte er offiziell an, nach dem Monument suchen zu wollen, um schon nach kurzer Zeit – nach zehn Tagen! – die Weltöffentlichkeit mit dem Sensationsfund zu überraschen, nicht ohne den Medien ausführliches Bild- und Textmaterial zur Verfügung zu stellen.
Niemals würde er sich öffentlich zu einem Projekt äußern, bevor nicht garantiert war, dass er am Ende als großer Entdecker und erfolgreicher Archäologe dastehen würde. Und so hält er es auch in diesem Fall, seinem neusten und bislang größten Projekt. Kein Wort darf nach außen dringen, bevor er nicht hundertprozentig lokalisiert hat, wonach er sucht. Offiziell hat er verkündet, es gehe bei seinen Tauchgängen um eine Kartografierung des antiken Alexandria, was nicht einmal gelogen ist, aber auch nur die halbe Wahrheit erzählt.
Woher stammt dieser Ehrgeiz? Woher dieses Verlangen, der Erste, der Beste zu sein? Jacques weiß es sehr gut. Im Grunde will er nicht der Welt etwas beweisen, sondern immer noch seinem alten Herrn. Sein Vater hat eine der größten Privatsammlungen altägyptischer Kunst in Frankreich zusammengestellt. Er hat sich als Hobbyarchäologe betätigt, ist geachtet im ganzen Land, ein Berater wichtiger Politiker. Auf seinen Sohn hat er immer mit einer gewissen Verachtung herabgeblickt. Er hält ihn, Jacques, für einen Blender, einen Schwächling.
Doch das hat Jacques nicht verdient! Er wird ihm und aller Welt schon noch zeigen, was in ihm steckt. Er wird allen beweisen, dass er seinem Vater gleichkommt. Ach was, er wird ihn übertreffen an Ruhm und Ehre. Indem er etwas vollbringt, das ihn unsterblich macht, seinen Namen für immer an die Seite anderer großer Entdecker und Archäologen stellt, neben Howard Carter und Heinrich Schliemann. Jacques Bernheim – als Entdecker von Kleopatras Grab!
Jacques blickt auf die Taucheruhr an seinem Handgelenk. Seit zwanzig Minuten sind sie nun schon unten. Leider war die Suche mal wieder ergebnislos. Obwohl ihr sündhaft teurer Kernspinresonanz-Magnetometer ihnen Signale gegeben hatte, die ihn hoffen ließen, gab es hier außer sandigem und teils steinigem Meeresboden nichts zu entdecken. Es ist an der Zeit aufzusteigen. Er gibt Toni ein Signal, und wenig später gleitet er in dem nachtblauen Wasser nach oben, der Naht zwischen Wasser und Luft entgegen, die von unten aus gesehen wirkt wie eine wallende, wogende Decke aus Licht.
Als sie wieder an Bord klettern, steht die Abendsonne schon tief und taucht die Stadt im Hintergrund in ein oranges Licht.
»Etwas gefunden?«, fragt eine Frauenstimme, während Jacques sich aus dem Neoprenanzug pellt.
Er sieht über die Schulter zu Amira, seiner engsten Mitarbeiterin. »Ich bin mir nicht sicher. Wir müssen noch mal alles mit den bisherigen Karten abgleichen.«
Amira nickt. Sie ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Spätzeit des alten Ägypten. Ihre Artikel, die in den vergangenen Jahren in den einschlägigen Fachzeitschriften erschienen sind, haben große Beachtung gefunden. National Geographic hat erst unlängst darüber berichtet, wie sie im römischen Amphitheater von Alexandria eine verborgene Kammer entdeckt hat, in der einzigartige Skulpturen zum Vorschein kamen. Dabei galt dieser Ort bereits als komplett erschlossen.
Amira – genauer Dr. Amira al-Fotouh – ist Anfang dreißig. Untypisch für eine Archäologin, liebt sie elegante Kleidung und hochhackige Schuhe und trägt ihr langes schwarzes Haar meist offen. Sie ist in Kairo geboren, Kind christlich-arabischer Eltern, die nach Frankreich auswanderten, als sie sechs Jahre alt war. Ihr Vater ist Historiker, hat zunächst an der American University in Cairo gelehrt und dann an der Sorbonne eine Professur für Middle East Studies erhalten.
Doch während ihr Vater sich mit der Gegenwart beschäftigt, der Gesellschaft und Politik des Nahen Ostens, ist Amira von jeher fasziniert von der Vergangenheit, von der Geschichte und Kultur des alten Ägyptens. Der Louvre mit seinen Schätzen und Zeugnissen aus der Zeit der Pharaonen war ihr der liebste Ort in Paris. Sie las über das Mysterium der Pyramiden, die in der unwirtlichen Wüste ohne all den technischen Schnickschnack von heute mit unvorstellbarer mathematischer Präzision entstanden.
Es war vor allem eine Figur, die sie von Anfang an mehr als jede andere faszinierte: Kleopatra. Aus dem Louvre kannte sie das Gemälde des italienischen Malers Alessandro Turchi, der den Doppel-Selbstmord von Antonius und der Pharaonin als gemeinsamen Liebestod inszeniert: im Vordergrund der bleiche tote Antonius, hingestreckt wie eine Christusgestalt nach der Kreuzabnahme, dahinter Kleopatra, dem Tode nahe, gestützt von zwei Dienerinnen, der weiße Busen entblößt, in den soeben die Schlange ihr tödliches Gift gesenkt hat.
Amira ist sich schon damals bewusst gewesen, dass dies eine idealisierte Darstellung nach der Mode des 17. Jahrhunderts war. Ein paar Räume weiter im Louvre fand sich hingegen eine sehr viel realistischere Darstellung auf einer Stele aus dem 1. Jahrhundert vor Christus. Hier sieht man Kleopatra gekleidet als altägyptische Königin, die der Göttin Isis Opfergaben darbietet. Darunter in griechischer Schrift: »Für die göttliche Königin Kleopatra Philopator wurde dieses Heiligtum der Isis erbaut.« Wer war sie also, diese Kleopatra, eine Frau, die mit ihren Reizen den Männern Tod und Verderben bringen konnte, die sich inszenierte als von den Göttern erwählte Königin?
Schon früh hat Amira sich der Forschung gewidmet, die sich auf die Suche nach dem Grab der Königin konzentriert. Deshalb hat Jacques sie vor ein paar Jahren kontaktiert, als er ebendiese Suche zu seinem Lebensziel erklärte.
Jetzt tritt sie neben ihn, betrachtet die wenigen Fundstücke, die er dieses Mal mit nach oben gebracht hat.
Jacques, der sich ein Handtuch um die Hüfte geschlungen hat, bemerkt ihren Blick. »Nichts Besonderes. Ein paar Scherben und eine kleine metallene Statue. Das Übliche«, stellt sie fest. »Und was machen deine Recherchen?«, erwidert Jacques.
Amira setzt sich in einen der Sessel, die hier mittschiffs stehen. Sie lächelt. »Ich war heute in der Sankt-Markus-Kathedrale. In einem unbeobachteten Moment habe ich die Wände neben der Krypta abgeklopft. Ich habe mehrere Hohlräume ausmachen können. Aber wir müssen das mit Röntgen untersuchen. Mit den Sonar- und Kernspingeräten kommen wir da nicht weit.«
Jacques nickt. »Ja, wir müssen überlegen, wie wir es am besten anstellen.« Er setzt sich ebenfalls, sieht sie fragend an. »Und? Hat dich jemand beobachtet? Ist dir jemand verdächtig vorgekommen? Nach dem Vorfall in der Sankt-Nicholas-Kirche werde ich den Verdacht nicht los, dass wir beobachtet werden. Dass uns jemand verfolgt.«
»Nein, nichts«, sagt sie und lächelt. »Vielleicht war das in der Sankt-Nicholas-Kirche nur ein Missverständnis. Eine Verwechslung.«
»Ich weiß nicht recht«, sagt er und lehnt sich in seinem Sessel zurück.
Bisher haben sie noch keinen Treffer erzielt. Aber die Suche geht weiter. Morgen wieder an Land. Warum nur haben ihn in der Sankt-Nicholas-Kirche die Priester aufgehalten? Haben sie gewusst, dass er kommen würde? Sie haben so getan, als ginge es um allgemeine Sicherheitsbestimmung, aber er hat sehr genau gesehen, dass schon wenig später andere Besucher anstandslos hineingelassen wurden.
Ernst blickt er auf die Stadt, auf den Betondschungel jenseits der Corniche, der das moderne Alexandria ist. Er ist fest entschlossen, ihr das größte aller Geheimnisse zu entlocken. Und nichts und niemand wird sich ihm in den Weg stellen.
Claire Stephanopoulos sitzt auf der Holzbank im Flur des Gemeindehauses und fühlt sich klein und unsicher. Die Knie, wie es sich gehört, von dem langen Kleid verdeckt und zusammengedrückt. Sie knetet vor Anspannung die Hände. Ihre außergewöhnlich hellblauen Augen blicken nervös nach links und rechts. Lange hat sie überlegt, ob sie diesen Schritt machen soll. Als sie am Telefon mit der Sekretärin sprach, die ihren Vater Yannis natürlich gut kannte, wusste sie auch nicht, was sie sagen sollte. »Es ist wegen einer privaten Sache. Ich, ich …«, druckste sie herum. »Ich möchte das lieber nur mit dem Patriarchen besprechen«, hat sie schließlich gesagt. Die Sekretärin hat ihr einen Termin angeboten.
Und nun sitzt Claire hier, starr mit gerade durchgedrücktem Rücken. Ihre Gedanken rasen. War es richtig, herzukommen? Soll sie sich schnell eine Geschichte ausdenken, die sie Patriarch Petros auftischen kann, um den eigentlichen Grund nicht offenbaren zu müssen, der sie zu dem Schritt veranlasst hat? Oder sollte sie lieber auf der Stelle gehen? Vielleicht wäre es das Beste! Sie könnte sagen, ihr sei schlecht, oder sie habe etwas vergessen. Irgendeine Ausrede, und der Patriarch wäre wahrscheinlich auch froh, wenn er früher Feierabend machen kann. Einfach alles lassen, wie es ist! Schweigen, nichts sagen, keinen Ärger machen! Ja, sie würde jetzt einfach aufstehen und …
»Frau Stephanopoulos, bitte.«
Claire zuckt zusammen. Die Sekretärin hat die Tür geöffnet und sieht sie streng an. An Fortlaufen ist nicht mehr zu denken. Willenlos steht sie auf, geht an der Sekretärin vorbei ins Vorzimmer. Im nächsten Moment steht sie in der Tür zum Büro von Petros dem Zweiten, der an seinem Schreibtisch sitzt, einen Füllfederhalter in der Hand, vor sich eine Mappe mit Dokumenten. Die Sekretärin schließt die Tür.
»Ja?«, fragt Petros der Zweite und sieht auf. »Claire Stephanopoulos?«
Sie nickt.
Der Patriarch legt seinen Federhalter beiseite und weist auf den Besucherstuhl. »Komm näher, mein Kind, und nimm Platz.«
Sie tritt vor, setzt sich. Der Schreibtisch des Patriarchen ist riesig, aus dunklem Holz, darauf mehrere Mappen. Claire schaut nach links, wo an der Wand ein großes Kreuz mit einer Jesusfigur hängt. Gegenüber auf der anderen Seite des Raumes auf einer Art Anrichte befindet sich eine Statue der Madonna mit dem Kind.
Der Patriarch mustert sie derweil, wie sie in ihrem Kleid mit den geschlossenen Schuhen und dem gebügelten Oberteil vor ihm sitzt, er bemerkt, wie sie die Umgebung, den Raum um sie herum genau betrachtet. Nach einer Weile des Schweigens fragt er schließlich: »Was führt dich zu mir?«
Claire hat den Blick auf die Hände in ihrem Schoß gerichtet, wagt nicht, aufzuschauen. Sie räuspert sich. »Ich … Nun, es ist …« Sie schafft es nicht, es will ihr nicht über die Lippen.
Petros lächelt freundlich. »Na, ich sehe doch, dass dir etwas auf der Seele brennt«, sagt er mit freundlicher Stimme. »Mir kannst du vertrauen.«
Da platzt es aus ihr heraus. »Es geht um meinen Vater.«
»Yannis.«
»Ja.«
»Ich kenne ihn gut. Ein vorbildlicher Seelsorger, eine Stütze der Gemeinde. Was ist mit ihm?«
Nun gibt es kein Zurück mehr. »Er schlägt und misshandelt uns. Meine Mutter und mich.« Wie ein saurer Drops sind die Worte in ihrem Mund explodiert. Einfach so. Das, was sie noch nie jemandem gesagt hat – nun ist der Raum erfüllt von dieser Wahrheit.
Es folgt eine lange Stille.
»Warum erzählst du mir das?«, fragt der Patriarch schließlich.
»Es … es wird immer schlimmer. Er wird immer gewalttätiger. Und ich weiß nicht, mit wem ich sonst sprechen soll.«
»Nun, du solltest das innerhalb der Familie besprechen.«
»Besprechen? Aber wie bitte soll ich es besprechen, wenn es doch mein Vater ist, der dieses Leid verursacht. Und wer würde mir glauben? Solche unschönen Dinge möchte die Verwandtschaft nicht hören. Darüber wird auch heute noch geschwiegen.«
»Was ist mit deiner Mutter?«
»Meine Mutter ist ja selbst Opfer seiner Misshandlungen. Sie leidet genauso wie ich – oder sogar noch mehr!«
»Nun, das ist bedauerlich, aber dennoch bleibt es nun mal eine private Angelegenheit. Abuna Yannis ist ein Priester unserer Gemeinde, und ich habe darauf zu achten, dass er sich als Priester keine Fehltritte erlaubt. Aber was er in seinem Privatleben tut, geht mich nichts an. Das musst du verstehen.«
»Verstehen? Ich komme zu Ihnen und bitte um Hilfe, und Sie, Sie …« Claire umklammert die Lehnen ihres Stuhls. »Sie schicken mich einfach weg? Ich sage ihnen, er schlägt uns, und Sie sagen, das ist privat? Soll ich Ihnen sagen, wie er es macht? Mit Gürteln, mit Besen, mit der Hand, mit Schuhen. Wollen Sie meine blauen Flecken sehen?« Sie krempelt einen Ärmel ihrer Bluse hoch. Der Arm ist voll mit Blutergüssen. »Und wollen Sie wissen, was er noch mit mir tut?«
Patriarch Petros verzieht keine Miene, schaut sie nur schweigend an.
Claire springt auf. »Was sind Sie nur für ein Mensch? Und Sie wollen unser Patriarch sein? Sie sollen sich um die Menschen in Ihrer Gemeinde kümmern, sie beschützen! Was für eine Kirche ist das, wenn Sie Hilfesuchende einfach wegschicken und Ihre Augen verschließen, wenn Sie …«
»Mein Kind!« Der Patriarch hat sich ebenfalls erhoben. »Mein Kind«, wiederholt er leiser und hebt begütigend die Hände. »Beruhige dich. Die Kirche ist mit den Friedfertigen und Frommen. Finde Schutz beim Herrn, im Gebet. Er wird dir die Kraft und die Weisheit geben, mit den Prüfungen, die das Leben uns allen auferlegt, fertigzuwerden. Wer auf den Herrn vertraut …«
In Claires Ohren beginnt es zu rauschen. Sie sieht, wie der Patriarch seinen Mund bewegt, doch sie hört seine Worte nicht mehr. Ihr ist schwindelig. Sie muss hier weg. Sofort. Es kostet sie große Anstrengung, sich umzudrehen. Dann ist sie bei der Tür, draußen auf dem Korridor. Sie beschleunigt ihre Schritte, eilt dem Ausgang zu. Sie fühlt sich bestärkt in der Erkenntnis, dass ihr niemand helfen wird. Dass sie sich selbst helfen muss.