Noch Montag

Spätestens als der Schuss fällt, reißt es auch noch den Letzten in der al-Naby-Daniyal-Straße aus dem Schlaf. Die Tumulte und Auseinandersetzungen waren schon vorher so laut, dass in einigen Wohnungen die Lichter angegangen sind. Nun treten Menschen auf Balkone und lugen an Fenstern vorsichtig in Richtung der Sankt-Markus-Kathedrale.

Von dort sind die Schüsse gekommen.

Wie ein dunkler Berg liegt die Kirche am Ende der Straße. Aus dem Innern ertönen Rufe, weitere Schüsse fallen. Dann fliegt die Hauptpforte der Kathedrale auf, und zwei vermummte Personen rennen auf die Straße, eine von ihnen dreht sich um, schießt im Laufen, scheint aber ihr Ziel zu verfehlen. Einer der Verfolger muss sich bis aufs Dach der Kathedrale hochgearbeitet haben, um von dort eine ganze Salve auf die Flüchtenden abzufeuern. Die Schüsse zischen durch die Luft, schlagen in Stein und Fensterscheiben ein, die scheppernd zu Bruch gehen. Doch die Männer laufen weiter, reißen die Türen eines wartenden

»Du lügst doch, da steckt doch mehr dahinter! Ihr

»Nein! Hören Sie! Sie irren sich! Wir sind immer hier, um die Kirche zu bewachen! Sie wissen doch, wie gefährlich die Lage in diesem Land sein kann!«

»Du lügst!«, brüllt nun der Polizist, drückt dem am Boden Liegenden sein Knie in den Rücken, worauf der Mann vor Schmerz aufschreit. Der Polizist holt zum Schlag aus, als Theo sich ihm von hinten nähert. »Halt!«, ruft sie laut. »Es reicht! Siehst du nicht, dass der arme Mann kaum Luft bekommt?« Mit geübten Schritten umkreist sie einmal den Festgenommenen. »Was sind das für Spiele hier?«, sagt sie mehr zu sich als zu dem Mann am Boden, zu dem sie sich nun hinunterbeugt und ihm fast in die Augen schaut. »Sie sagen, Sie hätten hier den französischen Forscher gesehen? Jacques Bernheim? Was sollte der denn nachts in eurer Kirche zu suchen haben?«

Der Ägypter schüttelt nur den Kopf. »Woher soll ich das denn wissen? Omar, mein Freund, der neben mir in der Kirche war, hat das gesagt. Er meinte, er habe den Mann aus der Zeitung erkannt. Lassen Sie mich endlich los!«

Theo richtet sich wieder auf und bedeutet dem Kollegen, den Mann loszulassen. »Das reicht für den Moment«, sagt sie an den jungen Polizisten gewandt. »Kenne ich Sie nicht?«

»Ich bin Basil«, erwidert der Polizist«, »wir haben uns an der Stanley Bay getroffen. Der tote Priester! Sie erinnern sich?« Theo nickt. »Was genau ist denn vorgefallen? Konnten Sie etwas sicherstellen?«

»Bislang lediglich eine Metallstange vor dem Altar, die

Durchdringend sieht er Theo an. »Wie hat es die Mordkommission eigentlich so schnell hierhergeschafft?«

Theo hält seinem Blick stand: »Polizeifunk. Schon mal gehört?« Sie sieht sich um, als gerade der letzte Verdächtige aus der Kirche hinausgeführt wird. »Dann werden wir uns mal mit diesem Franzosen unterhalten müssen. Vielleicht haben wir Glück und finden bei ihm noch ein bisschen was. Schon erstaunlich, warum sich ein französischer Archäologe Schlachten mit ägyptischen Geistlichen liefern möchte.«

»Na gut«, erwidert Basil, »eine Schlacht war es nicht, und es müssen ja keine Geistlichen gewesen sein.«

Theo zuckt nur mit den Achseln. »Da haben Sie natürlich recht!«

Aus dem Augenwinkel sieht sie, dass Fadi sich mit ihrem Wagen einen Weg an den Streifenpolizisten vorbeigeschlängelt hat und nun Anstalten macht, auszusteigen. Sie gibt ihm ein Handzeichen, dass er warten kann. Theo geht auf ihn zu und verlangt den Schlüssel. »Einsteigen! Ich fahre!«

»Echt jetzt? Wohin denn? Weißt du, wie spät es ist?«,

»Das erzähle ich dir unterwegs«, sagt sie und freut sich insgeheim erneut darüber, dass Fadi ihre Anweisungen so anstandslos akzeptiert.

Die meisten anderen ägyptischen Männer hätten zumindest einen Spruch gebracht, viele gar eine größere Diskussion angefangen. Sie drückt das Gaspedal durch, und das Auto schnurrt davon in Richtung Hafen.

Als sie dort ankommen, fehlt jedoch das Polizeiboot, mit dem sie zum Schiff des Franzosen übersetzen müssen. Genervt schüttelt Theo den Kopf. Sie kann es nicht leiden, zu warten. Und fragt sich, auf welchem Einsatz das einzige Polizeischlauchboot von ganz Alexandria eigentlich gerade unterwegs ist.

Mehr als dreißig Minuten später schippert das Boot endlich heran, Ahmed, der demonstrativ schlechtgelaunte Kapitän, schaut Theo aus müde-gelangweilten Augen an. »Meine Schicht ist in zehn Minuten vorbei, ab dann berechne ich Überstunden«, sagt er, als Theo und Fadi sich anschicken, auf das wackelige Schlauchboot zu steigen. Sie überlegt, ihm zu sagen, dass es ihr auch lieber gewesen wäre, schon eine halbe Stunde früher auf das Boot gebracht zu werden, entscheidet sich dann aber dagegen. Er kann ja auch nichts dafür, dass allein der Antrag für ein zweites Schlauchboot vermutlich Monate in der ägyptischen Bürokratie Patina ansetzen würde, bevor sich ein unterbezahlter Beamter erbarmte, ihn mal zu bearbeiten.

Als sie sich der mächtigen Jacht nähern, schaltet Ahmed die Scheinwerfer ein, Theo schaut auf den Namen des

Es dauert nicht lange, da gehen einzelne Lichter an Bord an und zwei Crewmitglieder erscheinen über ihnen an der Reling. Sie bedeuten ihnen, zum hinteren Ende der Jacht zu fahren, wo sie das Schiff vertäuen können und über die Treppe an Bord kommen. Schwungvoll zieht Theo sich an der Leiter hoch und streicht sich die Haare aus dem Gesicht.

»Guten Abend. Wir möchten mit Jacques Bernheim sprechen!«, sagt Theo, als auch Fadi an Bord ist, und hält ihren Dienstausweis vor das Gesicht des Crewmitglieds, das ganz offensichtlich aus dem Tiefschlaf gerissen wurde. »Wir haben ihn schon geweckt, er wird gleich hier …«

»Guten Abend«, unterbricht ihn eine Stimme, und hinter dem Stewart erscheint ein elegant gekleideter Mann Anfang fünfzig, den Theo sofort als den Eigentümer der Jacht erkennt. Anders als seine Crew sieht er so aus, als sei er noch gar nicht im Bett gewesen. Perfekt zurechtgemacht, frisiert, hellwach begrüßt er die Kommissarin mit einem Handkuss.

Unangenehm berührt zieht Theo nach zwei Sekunden ihre Hand weg. Ihr ist die Geste zu intim. Sie mag es nicht, von fremden Männern so begrüßt zu werden – auch nicht von Franzosen. Sie schaut sich um und betrachtet das

»In der Sankt-Markus-Kathedrale hat es heute Nacht einen Einbruch gegeben. Es kam zu einem Schusswechsel.«

»Das ist bedauerlich«, sagt Jacques Bernheim mit einem freundlichen Lächeln. »Und was habe ich damit zu tun?«

»Das genau wüssten wir gern von Ihnen«, erwidert Theo ebenso süß. »Es gibt Hinweise, dass die Angreifer in Richtung Hafen und von dort aus mit einem Boot möglicherweise hierher geflüchtet sind.« Sie schaut ihn lange und durchdringend an. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns hier mal etwas umsehen?«

Jacques schaut kurz nach unten, macht einen Schritt auf Theo zu und lächelt dann amüsiert. »Ich habe nichts dagegen, aber ich hätte es doch lieber, Sie machen das, wenn Sie einen Durchsuchungsbeschluss dabeihaben. Ich war nämlich gerade auf dem Weg ins Bett, wissen Sie …«

Theo kocht innerlich. Aber was hat sie erwartet? Sie würde erst ihre Hausaufgaben machen müssen, bevor sie hier erneut auftaucht. »Verstehe. Dann sehen wir uns …« Theo überlegt einen Moment. Morgen hat sie noch etwas Besonderes vor, von dem niemand etwas wissen muss. »Wir sehen uns Mittwoch! Kommen Sie bitte um elf Uhr in die Polizeibehörde. Und dies ist eine offizielle Vorladung!

Irritiert sah Bernheim sie an.

»Sie wissen schon, Autos!«, klärt sie ihn auf.

»Ja, natürlich«, erwidert er verwirrt.

»Bestens«, sagt Theo nicht ohne eine gewisse Schadenfreude. »Dann bringen Sie die Unterlagen morgen bitte gern mit ins Präsidium. Ich interessiere mich vor allem für einen Mercedes G-Klasse, anthrazit.« Sie zeigt ihm einen Zettel mit dem Kennzeichen.

Ohne ein weiteres Wort lässt sie Bernheim stehen. Sie hofft einfach, dass sie mit ihrem Verdacht richtigliegt.

Der Blick, mit dem Jacques sie ansieht, spricht Bände: Er ist irgendwie süffisant, provokativ, aber auch verächtlich. Der Mann wiegt sich in Sicherheit. Nun denn. Wenn er mit dem Überfall auf die Kirche oder womöglich mit dem Mord an dem Priester etwas zu tun hat, wird sie das schon herausfinden.

Jacques beendet die strenge Stille zwischen ihnen. »Dann wünsche ich ihnen viel Glück bei Ihren Ermittlungen. Wenn Sie sonst keine weiteren Fragen haben …« Er streckt ihr die Hand zum Abschied entgegen. Jetzt also kein Handkuss mehr. Sie ignoriert die Geste und dreht sich wortlos um.

»Können Sie mir garantieren, dass mir diese

Sie schaut auf die gelb erleuchtete Kulisse des nächtlichen Alexandria. Es wirkt so still und fast beschaulich um diese Zeit, wenn nicht mehr alle acht Spuren der Autobahnen vollgestopft mit Fahrzeugen sind. Sie hat eine Idee, wo sie morgen früh, nachdem sie wenigstens ein paar Stunden geschlafen hat, als Erstes hinfahren wird.