Inspektor Bassar

 

 

„Möchten Sie noch ein Stück Zucker in Ihren Tee, Herr Inspektor?“ Das dunkelhaarige Mädchen nahm eine goldene Zuckerzange, hob einen Würfel aus der Porzellandose und ließ ihn in Bassars Tasse fallen. Der Zucker schlug mit einem zarten Klirren gegen den Boden der kleinen Porzellantasse und es war für einen Moment das einzige Geräusch. Dann war eine weitere Minute verstrichen und der große Zeiger der Wanduhr gab ein Ticken von sich.

„Danke“, sagte Bassar und führte die dampfende Tasse an die Lippen. Er fühlte sich, als würde er aus Puppengeschirr trinken.

„Verflucht.“ Heißer Tee tröpfelte ihm auf den Schoß. Hastig stellte er die Tasse ab. „Ich meine, Verzeihung.“

Das Mädchen zeigte keine Regung. Ihr Vater hingegen lachte quietschend auf. Bassar war nicht sicher, wer von beiden ihn mehr beunruhigte.

„Wir … mein Vater und ich, wir freuen uns sehr über Ihren Besuch, Herr Inspektor“, begann das Mädchen. Trotz ihres sachlichen Tons bot sie einen kummervollen Anblick, wie sie so in ihrem schwarzen Trauerkleid dasaß, die Hände gefaltet und die schmalen Schultern gestrafft. Gleichzeitig zeugten ihre Augen von kühler Autorität. „Ich vermute, dass Neuigkeiten über den Brand Sie veranlasst haben, uns zu besuchen. Was können Sie uns also sagen? Haben Sie den Täter, den Brandstifter?“

Bassars Blick irrte zu Alois Spiegelgold hinüber, der ein imaginäres Wesen auf seiner Schulter streichelte. Nach kurzer Überlegung richtete der Inspektor sich an das Mädchen. Was er jetzt sagen musste, würde schwierig werden. „Fräulein Spiegelgold, es gab keinen Brandstifter. Jedenfalls … keinen von außerhalb.“

Das Mädchen schwieg. Bassar fiel auf, wie sie die Finger in die Handflächen grub, doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.

Verflucht. Bassar hasste es, den Überbringer schlechter Nachrichten zu spielen. Hätte er früher, als junger Mann, gewusst, dass die Aufgabe eines Inspektors zum Großteil aus solchen Botengängen bestand! Vielleicht hätte er eine andere Laufbahn eingeschlagen.

Bassar zog ein Protokoll aus seiner Manteltasche, damit das Mädchen sehen konnte, dass er nur das sagte, was er sagen musste. „Der Brand ist im Lagerraum ausgebrochen. Die neuen Buchlieferungen, nach Ihren Angaben am Vorabend eingetroffen, fingen zuerst Feuer. Danach …“ Er tat, als suche er im Protokoll, obwohl er die Geschichte auswendig kannte. „Danach breiteten sich die Flammen in die Regale aus, erreichten den ersten Stock und bald darauf den zweiten. Noch ungeklärt ist, wie das Feuer entstand. Aber Sie haben ausgesagt, dass sich nur Ihr Vater in den Lagerräumen aufhielt.“

„Es war zwei Uhr morgens“, sagte das Mädchen. „Ich weiß nicht, wer sonst im Geschäft hätte sein können. Sie haben gesagt, dass die Türen nicht aufgebrochen worden sind. Also ist jemand mit einem Schlüssel hineingekommen.“

„Sie haben Ihren Vater am nächsten Morgen in den Trümmern gefunden, richtig?“

Das Mädchen nickte. Bassar nickte ebenfalls. Merkte sie denn nicht, worauf er hinauswollte?

Er atmete tief ein und räusperte sich, um seiner Stimme einen geprüfteren Ton zu verleihen. „Fräulein Spiegelgold, Sie müssen verstehen, dass ich auf der Suche nach Antworten bin. Ist Ihnen eventuell … schon früher aufgefallen, dass Ihr Vater Anzeichen von seiner jetzigen … Gemütsverfassung aufwies?“

Die Augen des Mädchens wurden schmal. „Wie darf ich Sie verstehen, Inspektor?“

Himmel, die Kleine wollte doch sonst immer so schnell begreifen. „Bei der Suche nach dem Täter können wir Ihren Vater nicht außer Acht lassen. Wenn er der Einzige im Geschäft war, als das Feuer ausbrach, müssen wir davon ausgehen, dass … Womöglich war er schon damals, das heißt, vor …“

„Mein Vater war bei gesundem Verstand, bevor es passiert ist!“

„Was meinen Sie?“, fragte Bassar vorsichtig.

Das Mädchen schwieg eine Weile verbissen. Dann machte sie den Mund auf und schnappte: „Ich weiß, wer dahintersteckt! Ich weiß, wer uns das angetan hat, den Brand gelegt, das Geschäft zerstört hat! Die gleichen Leute, die meine Mutter ermordet haben.“

„Ihre – aber Ihr Onkel sagte, Ihre Mutter sei an Herzversagen …“

„Es war Mord, Inspektor.“

„Mord … Augenblick, das muss ich notieren. Einen Augenblick, bitte.“

Eilig zog Bassar einen Schreibblock und seinen Füllfederhalter hervor. Es steckte also doch mehr hinter dem Fall, als er gedacht hatte. Mord, Grundgütiger! „Also gut. Fangen Sie an, wenn Sie so weit sind.“

Das Mädchen nahm einen Schluck Tee und ließ den Blick eine Weile durch den schmucken Salon schweifen. Die Wände waren mit dunklem Holz und Seidentapete verkleidet und der Kamin sah so geleckt aus, als hätte nie ein Feuer darin gebrannt. Gegenüber von ihnen hing das Portrait eines alten Mannes mit einer Hakennase, der griesgrämig auf Bassar herabstarrte.

„Die Leute, die meine Mutter ermordet und das Geschäft meines Vaters in Schutt und Asche gelegt haben, sind keine gewöhnlichen Verbrecher. Es ist eine geheime Organisation von Menschen, die man nicht als Menschen betrachten darf – sonst würde man sie unterschätzen. Ich als Mitglied der privilegierten Gesellschaftsklasse nenne sie Revolutionäre der schlimmsten Art. Revolutionäre gegen Moral, Anstand, Sittlichkeit und vor allem jegliche Rationalität, die unserem neuen Zeitalter entspricht. Dem niedrigen Volk sind sie jedoch auch bekannt als Motten.“

Bassar hielt inne und blickte auf. Das Mädchen schien vollkommen ernst. „Was für – Motten?“

„Es gibt nur eine Sorte von menschlichen Motten.“

„Sie meinen …“ Allein es auszusprechen war absurd. Bassar runzelte die Stirn. „Sie sprechen von Zauberern?“

„Sie sind keine Zauberer. Sie sind gefährliche Terroristen und – eine Bedrohung für das Reich.“

Was sollte er davon halten? Die Schauermärchen der alten Bettelweiber auf den Marktplätzen trugen also Schuld am Brand bei Buchhandel Spiegelgold! Einen Moment beäugte Bassar das Mädchen eingehend und fragte sich, ob sie vielleicht auch wie ihr Vater … Aber nein. Sie war ein Kind. Kinder konnten eine unglaubliche Fantasie entwickeln, wenn es darum ging, die Ehre ihrer Eltern zu wahren. Ob es bei Alois Spiegelgold noch eine Ehre zu wahren gab, darüber ließ sich natürlich streiten.

Und zwar ein anderes Mal. Bassar beschloss, den Besuch zu beenden, bevor ihm noch mehr Verrücktheiten aufgetischt wurden. „Fräulein Spiegelgold, ich denke, das reicht vorerst.“ Er nahm seine Melone vom Sofa und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich danke Ihnen für den herzlichen Empfang. Sie werden von mir hören.“

Das Mädchen sah ihn nicht an. Ihr Gesicht war versteinert und die Hand, die sie ihm zum Abschied reichte, fühlte sich schlaff an.

„Herr Spiegelgold.“ Er beschränkte sich darauf, dem Vater nur zuzunicken, da er das imaginäre Wesen auf seiner Schulter eingehend kraulte. Das Mädchen blickte noch immer zu Boden. Aber Bassar glaubte Tränen in ihren Augen zu sehen. Er räusperte sich nochmals und setzte den Hut auf. „Kopf hoch. Alles wird wieder gut. Die Polizei ist Ihr Freund.“ Das war mit Abstand das Dümmste, was er seit langem gesagt hatte. Dasselbe schien das Mädchen zu denken.

„Wenn Sie mich entschuldigen – ich finde schon alleine hinaus.“ Bassar schritt auf die Tür zu, als das Mädchen ihn noch einmal zurückhielt.

„Herr Inspektor.“ Sie hatte sich ihm zugedreht und schob trotzig das Kinn vor. „Ich beschäftige mich seit mehr als vier Jahren mit Parapsychologie und übernatürlichen Phänomenen, die kontinuierlich und in jeder Kultur auftreten. Unter anderem habe ich einen Artikel in einer renommierten Zeitschrift für Wissenschaft und Technik über dieses Thema publiziert, Sie können ihn gerne lesen, mein Pseudonym lautet Albert Aurelius A. Fatassou. Ich darf behaupten, dass meine Kenntnisse über Möglichkeiten und Ausmaß übersinnlicher Phänomene sowie über jene, die paranormale Fähigkeiten besitzen, die der meisten Menschen übersteigen. Unterschätzen Sie also nicht mein Urteilsvermögen. Es gibt Motten. Und ich werde sie finden und auf Gerechtigkeit bestehen, so wahr ich Apolonia Spiegelgold heiße.“

Bassar schwieg verdutzt. Diese Wirkung hatte Apolonias Sprachgewandtheit auf so manchen.

„Gewiss“, murmelte Bassar, deutete ein Kopfnicken an und zog leise die Tür hinter sich zu. Dann eilte er die Wendeltreppe hinab, durch das Foyer und ließ sich von einem Dienstmädchen die Haustür öffnen. Als er auf der Straße stand, umgeben von stuckverzierten Hausfassaden und Ahornbäumen, atmete er tief und erleichtert aus.

 

Es war ein sonniger, warmer Herbsttag und Inspektor Cornelius Bassar entschied sich, auf dem Weg zum Polizeipräsidium einen Spaziergang durch den Park zu machen. Er war nicht in Eile.

Als er die Kieswege entlangschritt und die zarten Schatten der Bäume über ihn hinwegschwebten, war ihm schon viel leichter ums Herz. Kinder tollten umher und ließen Drachen steigen, Hunde hetzten Stöcken hinterher und Picknickdecken betupften die Wiesen mit bunten Flecken. Hinter Sonnenschirmen wurden verstohlene Küsse getauscht und sehnliche Worte gemurmelt. Bassar verlangsamte seinen sonst so raschen Schritt und atmete den Duft der welken Blätter ein. Manchmal vergaß er, wie schön das Leben doch war!

Diesem Gedanken folgten automatisch seine Arbeitssorgen. Bassar steckte die Hände in die Manteltaschen. Hier im Park mochte die Welt vollkommen friedlich erscheinen, doch er wusste, dass es in Wirklichkeit nicht so war. Wie ein Schiff hatte die Stadt Risse im Bauch: Von überall sickerte das Verbrechen herein und überschwemmte die Unterwelt. Bassar rannte von einer undichten Stelle zur nächsten und verhinderte, dass alles im Verbrechen versank. Doch ein ganz besonderes Loch, durch das schon seit Jahren stinkendes Abwasser quoll, war einfach unauffindbar … Eck Jargo, natürlich. Das unauffindbare Wirtshaus Eck Jargo. Königreich der Diebe, Palast der Verbrecher, Welt der Schatten. Und noch eine Menge mehr, was nicht von den Räubern besungen wurde.

Es hieß, der große Bandit Paolo Jargo habe sich dort vor mehr als dreißig Jahren versteckt und die legendäre Spelunke gegründet. Versteck des Jargo hatte man es genannt – aber da die, die seinen Namen nannten, meist in Eile waren, und um der wohnlichen Atmosphäre des Etablissements Rechnung zu tragen, hieß es heute nur noch Eck Jargo.

Und jeder kannte Eck Jargo – hier waren mehr Räuber, Banditen, Betrüger und Mörder ein- und ausgegangen als im Gefängnis. Nicht jeder wusste allerdings, wo die berühmte Spelunke war. Und an dieser Stelle biss Bassar schon seit Jahren auf Granit.

Die Adresse von Eck Jargo kannten nur die, die dort verkehrten. Niemand, der nicht den wachsamen Augen seiner Hüter vertraut war, würde das versunkene Reich der Kriminalität betreten, in dem den Gesuchten und Gehetzten das vergönnt war, was die Welt jenseits ihnen verwehrte: ein ruhiger Atemzug.

Ein kleines Mädchen begann bei Bassars grimmigem Anblick zu weinen und rannte davon. „Der Beelzebub!“ Das Mädchen verkroch sich im Kleid seiner Mutter.

Dummes Kind, dachte Bassar und holte weit mit den Schritten aus, um dem Blick der verärgerten Mutter zu entkommen. Kinder! Solche wie die kleine Spiegelgold raubten ihm den letzten Nerv. Wie viele Briefe hatte sie ihm in der letzten Woche wohl geschrieben? Geradezu bombardiert hatte sie das Polizeipräsidium mit Fragen nach einem gefassten Täter. Dachte sie denn, er habe nichts Wichtigeres im Kopf als einen Brand, den noch dazu der verrückte Besitzer selbst gelegt hatte?

Zugegeben, der Brand war eine recht heikle Sache, denn immerhin war Buchhandel Spiegelgold mit vier Etagen die größte und älteste Buchhandlung der Stadt gewesen. Trotzdem gab es größere Verbrechen als ein Feuer. Schon seit einigen Jahren ging beispielsweise ein Einbrecher um, der wertvolle Bücher stahl. Und erst gestern, nachdem der Dieb bei einem Kunstprofessor eingebrochen war, hatte sich herausgestellt, dass es sich um einen Jungen handelte. Ein Kind! Das bedeutete, dass es eine Bande sein musste, die seit Jahren Bücher klaute. Wer steckte dahinter? Wer bildete die Kinder aus? Denn angeblich hatte der junge Dieb bei seiner Flucht letzte Nacht ein erstaunliches Geschick bewiesen. Wer so leicht in die wohlhabendsten Häuser der Stadt einbrechen konnte, würde irgendwann bestimmt mehr als Bücher mitnehmen. Unter anderen Umständen hätte Bassar sich voll und ganz den Kinderdieben gewidmet, wäre da nicht ein noch viel dunkleres Rätsel … Und, verflixt noch mal, schon wieder ging es um Kinder.

Denn in der ganzen Stadt verschwanden welche. Vor knapp neun Jahren waren drei Kinder, ein Junge und zwei Mädchen, aus den ärmeren Vierteln spurlos verschwunden. Das erste Mädchen hatte in einem Waisenhaus gelebt, deshalb fiel ihre Entführung vorerst nicht auf und niemand meldete sich bei der Polizei – schließlich brachen Kinder oft genug aus Waisenhäusern aus. Das zweite Mädchen hatte mit sieben Geschwistern bei einer Ziehmutter gelebt. Als das Mädchen verschwand, freute sich die Mutter um ein Maul weniger, das es zu stopfen galt. Auch sie meldete den Fall nicht. Dann wurde der Sohn eines Hufschmieds entführt. Die Eltern gingen zur Polizei. Aber selbst da nahm niemand große Mühen auf sich – Kinder gingen hin und wieder verloren, meistens tauchten sie auch wieder auf. Auch als zwei, dann vier weitere Kinder verschwanden, schenkte man den Fällen keine besondere Beachtung. Zudem tauchten drei der vermissten Jungen und Mädchen wieder auf, ohne sich erinnern zu können, wo sie gewesen waren. Wenig später wurde die Leiche eines Zeitungsjungen ans Flussufer geschwemmt. Auch das konnte passieren – der Tote hatte einen trinkenden Vater gehabt und der Mann wurde vorerst festgenommen.

Das Geheimnis um die Kinder wurde auf anderem Weg bekannt. Eines Tages meldete sich eine psychiatrische Klinik bei der Polizei. In den vergangenen zwölf Monaten waren neun Kinder von der Straße eingewiesen worden. Sie alle hatten ihr Gedächtnis verloren. Nur einer der Jungen und Mädchen konnte identifiziert werden: Er war der Sohn eines Bankdirektors, den man eine Woche zuvor vermisst gemeldet hatte. Alle Zeitungen berichteten von dem Geschehnis und die einflussreichen Eltern des Jungen übten großen Druck auf die Polizei aus.

Die Sache kam ins Rollen. Bassar vermutete von Anfang an, dass die Kinder mit dem Gedächtnisverlust etwas mit den Entführungen zuvor zu tun hatten. Er besuchte die Eltern, deren Sprösslinge zurückgekehrt waren. Acht von dreizehn Kindern hatten ihre Erinnerung größtenteils verloren, die restlichen fünf hatten zumindest vergessen, dass sie je fort gewesen waren.

Die Polizei stand vor einem Rätsel. Was geschah mit den Kindern? Und wieso kehrten die meisten von ihnen nach wenigen Tagen mit Gedächtnislücken zurück? Bassar hatte nicht den Hauch einer Spur. Und mit jedem Tag verschwanden mehr.

Bassar verließ den Park. Allmählich zog die Dämmerung auf, es war kühler geworden. Am seidenblauen Himmel glänzte der Vollmond rund und glatt wie eine Goldmünze. Bassar stieg in eine Pferdebahn und fuhr zum Polizeipräsidium. Geschäfte und Gasthöfe zogen an ihm vorbei, Frauen, Männer, Kinder. Er beobachtete eine Gruppe Jugendlicher, die im Schatten einer Seitengasse Murmeln spielten und rauchten. Rufe, Gelächter und der Frieden eines lauen Herbstabends umschwebten sie.

Bassar strich sich erschöpft über die Wangen und schloss die Augen. Er war müde und fühlte sich plötzlich alt. Schon siebenunddreißig galten als vermisst.