Der tote Junge

 

Vampa wollte sein geheimes Zimmer nicht verlassen, denn so war es immer, wenn man eines der Blutbücher anfing: Es hielt einen fest. Man konnte sich von den Worten nicht mehr trennen, so wie man sich nicht von sich selbst, seinen Gedanken und Erinnerungen, seiner Identität trennen kann.

Aber er musste gehen, schließlich wartete man auf ihn. Er hatte ja seine kleine sinnlose Arbeit, um weiterhin essen zu können … Widerwillig trennte er sich von Der Junge Gabriel, klappte das Buch zu und legte es zwischen zwei Bücher, damit es nicht feucht wurde. Früher oder später würde es zerfallen wie alle anderen Bücher auch, aber jetzt brachte Vampa es noch nicht über sich, das zuzulassen. Wenn man etwas liebt, und sei es auch nur für die Dauer einer Romanerzählung, sorgt man sich darum. Und im Moment wollte er nicht, dass Der Junge Gabriel zu schimmeln begann.

Er zog sich die Hosenträger über die Schultern und seine geflickte schwarze Jacke darüber. Er hatte auch einen dunkelgrünen Anzug mit einer Weste, der vor langer Zeit einmal fein gewesen war, aber aus zweierlei Gründen bevorzugte er die einfachen Sachen: Erstens erregten sie an den Orten, wo er sich herumtrieb, weniger Aufmerksamkeit, zweitens hatte er die Hose und das Hemd vor zwei Jahren gestohlen, der Anzug aber war über neun Jahre alt, und alles Neue war ihm willkommen.

Dann schnitt er sich die schulterlangen Haare mit einem Klappmesser ab. Die Strähnen fielen rings um ihn auf Matratze und Bücher, bis seine dichten, strubbeligen Locken ihm nur noch bis zu den Ohrläppchen reichten. Am Hinterkopf hatte er sich sogar noch mehr abgesäbelt, sodass die kurzen Haare wirr in alle Richtungen abstanden. Er klappte das Messer wieder zu, steckte es in die Hosentasche und zog sich die Mütze tief in die Stirn. Dann verließ er sein Zuhause, kletterte die Leiter hoch, zwängte sich an den rauschenden Abflussrohren vorbei und kam ins Freie.

Es war früher Abend. Er hatte so gut wie den ganzen Tag verschlafen. Vampa vergrub die Hände in den Hosentaschen und ging los.

Der Weg bis zur Arbeit gefiel ihm. Er war zwar ein bisschen lang, er musste fast dreißig Minuten stramm gehen, aber das machte ihm nichts aus. Zuerst durchquerte er die wohlhabenden Stadtviertel und kam an Puppengeschäften, Parfümerien und Hutmachern mit klangvollen Namen vorbei. Kleine Kinder in roten Mänteln mit dazupassenden Mützen liefen an den Händen ihrer Kindermädchen und schleckten große Spirallutscher; elegante Herren führten noch viel elegantere Windhunde spazieren; geschäftige Bankangestellte eilten durch die Menge, um die Pferdebahn nicht zu verpassen. Es roch nach gebrannten Mandeln, nach frischem Brot, und die Schaufenster der Konditoreien schmückten schon jetzt festliche Schneehügel, Engel, Sterne und Christkinder aus Marzipan. Glänzende Automobile brausten hupend an den Kutschen vorbei. Ein schmutziger Zeitungsjunge hüpfte gerade noch rechtzeitig auf den Bürgersteig, bevor eines der neumodischen Gefährte ihn überrollen konnte.

Vampa bog bald nach links auf einen Markt. Kutschen ratterten an ihm vorbei. Bäuerinnen und Kartoffelverkäufer hatten ihre Stände noch nicht abgebaut und eine Metzgerei nach der anderen säumte die Straße. Es wurde gefeilscht, gerufen, gekauft und gestohlen. Ein Grüppchen feiner Damen kam Vampa entgegen, die Hüte mit mehr Federn trugen, als eine Gans am Leib hatte. Die jungen Frauen scherzten ausgelassen und schoben sich mit behandschuhten Fingern Anisbonbons in den Mund. Vampa wich ihnen aus und die Damen zogen an ihm vorüber, ohne ihn zu bemerken.

Ich wäre so alt wie sie.

Vampa wandte sich ab und ging schneller. Er hielt den Kopf gesenkt. Wenn ihm die Leute direkt ins Gesicht blickten, erschraken sie vor etwas, das sie sich nicht erklären konnten; als würden sie für Sekunden ein schreckliches Licht in seinen Augen sehen, ehe es ebenso schnell erlosch, wie es gekommen war, und sie vergaßen, dass es je existiert hatte.

Er bemühte sich meistens darum, unbemerkt durch die Menge zu schlüpfen. Auch heute nahm kaum einer den Jungen wahr, der durch die vom Abendlicht durchtränkten Straßen huschte, schnell und lautlos, einer von vielen Lumpenjungen, die in den Dämmerstunden die Stadt bevölkerten.

Als der Marktlärm hinter ihm zurückblieb, bog er in eine Seitengasse und erreichte ein wahres Labyrinth kleiner Straßen und Hinterhöfe. Schänken, die der Geruch von Bier umwölkte, und Wirtshäuser zweifelhaften Rufes drängten sich in den engen Gassen zusammen, dazu unzählige kleine Geschäfte, schmuddelige Barbiere und Antiquitätenhändler, Pfandhäuser und Nähereien. In den Höfen zwischen dunklen Hausfassaden riefen Kinder aus Leibeskräften: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ Hundekläffen hallte durch das Viertel, Ratten huschten durch die Abfälle und ein Gewirr fremder Sprachen drang aus den Fenstern. Manche Prediger sagten, Viertel wie diese seien die Brutstätte allen Übels, aber in Wirklichkeit waren sie die Quelle des Lebens. Was hier kochte und brodelte, wimmelte und wuselte, das war die Natur und was die Menschen aus ihr machten.

Vampa nahm bei jeder Weggabelung die dunkelste und schmalste Straße. Kaum Licht drang hier hinab; was die Backsteinhäuser nicht hinter sich verbargen, wurde von den Wäschetüchern verschluckt, die über die Gassen gespannt waren. Er erreichte eine Sackgasse. Hinter der bröckeligen Mauer an ihrem Ende türmte sich Abfall und ihm atmete dunstiger, saurer Gestank entgegen. Links und rechts waren die Häuser scheinbar unbewohnt. Und doch wusste er, dass er aus den Fenstern beobachtet wurde: Gewehrläufe und Pistolen zielten aus der Finsternis auf seinen Kopf.

Ein einziges Geschäft befand sich in der Gasse. Die rote Farbe der Tür blätterte bereits ab und der runde Messinggriff, einst golden lackiert, hatte längst zu rosten angefangen. Die Aufschrift auf dem Schaufenster war nur noch schwer zu lesen: Fräulein Friechens Teestube. Teesorten aus aller Herren Länder.

An der Tür hing ein schweres Eisenschloss und ein Schild, auf dem stand: Geschlossen.

Vampa drückte die beiden Türangeln nach oben. Sie ließen sich problemlos schieben, nicht das leiseste Quietschen erklang. Dann schwang die Tür mit einem lautlosen Luftzug nach innen auf, Schloss und Türgriff noch immer fest verriegelt.

Ein süßlicher, modriger Teeduft umhauchte Vampa. So stellte er sich den Geruch einer alten Frau vor, die einmal wunderschön gewesen war – wie das schwelende Aroma einer welken Blume.

„Wer ist da?“, fragte eine zittrige Stimme. Aus dem Halbdunkel schlurfte eine Frau, die sich schwer auf ihren Gehstock stützte. Ihr weißes Haar umflammte das ausgezehrte Gesicht wie flatternde Spinnweben.

„Hallo, Fräulein Friechen“, sagte Vampa leise. Die Alte hob blitzschnell ihren Gehstock und hielt ihn an Vampas Kehle. Eine messerscharfe Eisenspitze kitzelte ihm den Hals.

„Bist du alleine, Vampa?“, fragte die Alte freundlich.

„Wie immer.“

Ein Lächeln glitt über das Runzelgesicht der Alten. „Du kennst ja den Weg.“

Vampa setzte sich in Bewegung. Der Gehstock glitt von seinem Hals hinunter zu seinem Rücken. Fräulein Friechen folgte ihm mit humpelnden Schritten durch das dunkle Geschäft. Die Möbel und Blechdosen, die in den Regalen aufgereiht waren, überzog längst eine dicke Staubschicht. Als Vampa einen dunklen Vorhang am Ende des Raumes erreichte, verschwand der sanfte Druck an seinem Rücken.

„Eure Angelegenheit, Jungs“, sagte die Alte friedlich, und Vampa hörte das dumpfe Klopfen ihres Gehstocks, als sie sich entfernte. Er drehte sich um, als sie verschwunden war, und schob den Vorhang hinter sich auf, den Blick zum Schaufenster hinaus gerichtet. Zwei Hände griffen ihn von hinten an den Schultern und zogen ihn am Vorhang vorbei. Erst jetzt, da der dunkle Stoff vor ihm zufiel, durfte Vampa sich umdrehen.

Er stand unter einer nackten Glühbirne, die von der niedrigen Decke baumelte, und konnte nur Schemen von den Männer erkennen, die rings um ihn an der Wand saßen. Aber die Gewehrläufe glänzten hell im Lichtschein.

„Vampa. Sei gegrüßt“, knurrte eine Stimme.

„Seid gegrüßt“, erwiderte Vampa. Vor ihm führte eine schmale Treppe in die Tiefe. Er setzte sich in Bewegung und schritt die Stufen hinab. Als die Treppe eine Wendung machte, drückte ihm flüchtig ein Gewehrlauf gegen die Schläfe, der durch eine Öffnung in der Wand ragte – die Wände waren hier voller Löchern, und man wusste nie, aus welchen die Wächter von Eck Jargo gerade auf einen zielten.

Am Ende der Treppe schimmerte Vampa Licht entgegen. Er trat in einen Raum mit schwarzen Wänden. Die acht Türöffnungen ringsum waren wie aufgesperrte Rachen, in denen Treppen gleich roter Zungen schimmerten. Ein massiver Schreibtisch aus Kirschbaumholz stand in der Mitte des Zimmers und darauf ein großer, goldener Kerzenständer, der über und über mit Kerzen beklebt war. Ihr Licht bestrahlte das Gesicht einer stark geschminkten, rundlichen Dame.

„Grüß dich, Vampa“, sagte Dotti. „Wie immer alleine?“

„Wie immer“, sagte Vampa leise. Es kam nicht oft vor, dass Dotti höchstpersönlich der Anmeldung vorsaß. Für gewöhnlich war sie im Mauseloch oder in der Roten Stube bei den Tänzerinnen beschäftigt. Sie war die Einzige, die Kontakt zu jenen geheimnisvollen Leuten zu haben schien, die das Wirtshaus führten. Jeder wusste, dass sie das schlagende Herz von Eck Jargo war.

„Du kommst gerade rechtzeitig“, fuhr Dotti in geschäftsmäßigem Ton fort. „Dein Kampf findet in drei Minuten statt.“ Dabei blickte sie auf eine Taschenuhr und wies mit einem Kopfnicken auf eine der Türöffnungen. „Vielleicht schaue ich später noch vorbei.“

Vampa trat durch die Türöffnung von Bluthundgrube. Die schmalen Holzstufen führten ihn zu einer Tür, von der er in der Dunkelheit nur die schweren Eisenschrauben schimmern sah. Gedämpfter Lärm drang zu ihm. Vampa klopfte an, ein Schiebefenster öffnete sich und zwei Augen richteten sich auf ihn.

„Was willst du hier in Bluthundgrube?“, fragte der Wächter unwirsch, dabei kannte er Vampa gut – er musste jedem diese Frage stellen.

„Ich bin ein Bluthund“, sagte Vampa.

Der Wächter schob das Fenster wieder zu. Einen Moment später öffnete er die Tür und Vampa trat in Bluthundgrube ein.

Wenn man darüber nachdachte, war es nichts als ein muffiger Keller, in den die unzähligen Männer allnächtlich strömten. Die Decke war niedrig und feucht, die Luft brannte vor Rauch und Schnaps in den Augen. Der Boden aus festgestampfter Erde und Holzbrettern war längst von Wasser, Bier und Blut durchtränkt. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Männer grölten, Gläser wurden zerschlagen, Zähne flogen – das finstere Erdloch vibrierte vor Krach und Gewalt. Aber genau deshalb füllte sich Bluthundgrube auch Nacht um Nacht mit den aufgebrachten Scharen: Sie wollten sich vom Anblick der Kämpfe entsetzen lassen. Und wenn sie bei den Wetten auch noch ein paar Münzen gewannen, schwelgte der ganze Keller in Gier und Euphorie.

Vampa drängte sich durch die Menge, atmete den Schweiß und Moder und Schnaps, bis er den Boxring erreichte. Eine grell geschminkte Tänzerin aus der Roten Stube nahm ihm Mütze, Jacke und Hemd ab. Eine zweite umwickelte seine Fingerknöchel und Handgelenke mit Bandagen. Das Stimmengewirr schwoll an. Die Menge drückte sich enger an den Ring. Der Schiedsrichter, ein bulliger Boxer aus früheren Tagen, der jetzt hinkte, trat in den Ring und schwang eine Klingel über seinem Kopf. Jubel brach aus und Wettzettel wurden geschwenkt.

„Zur Linken“, schrie der Schiedsrichter, wobei er auf Vampa wies, „der unzerstörbare, der unsterbliche, höllische Vampirjunge!“

Aus der Menge wogte ein zugeknöpftes „Huh-huh-hu-hu!“

„Und zur Rechten, der Herausforderer, der große, der kolossale, der furchtlose Metzger!“

„Ja! Ja! Ja …“

Der pickelige Mann wälzte die Schultern. Sein Gesicht sah aus wie ein geschwollenes Fleischstück, auf dem der Schimmel weiß blühte. Vampa tänzelte auf der Stelle. Im bröseligen Licht der Glühbirne, die einsam über dem Boxring hing, verschwammen die Zuschauer zu zuckenden Schatten. Allein der Metzger blieb erkennbar, der massige Körper vom schummrigen Licht wie in Senf getaucht.

Die Klingel schrillte. Gejohle erklang. Mit einem Schrei stürzte der Metzger auf Vampa zu.

 

Vampa erinnerte sich gut an seinen ersten Kampf. Er lag fast sieben Jahre zurück.

„Dotti“, hatte er gesagt, „du musst mir helfen.“

Die Tänzerin hatte ihn mit ihren klugen Augen angesehen, ohne eine Miene zu verziehen. Und doch standen ihr die Ängste sichtbar ins Gesicht geschrieben: Vampa klang nicht, als bräuchte er Hilfe. Er klang nie nach irgendwas. Es war, als gehöre seine Stimme nicht ihm; als habe ein Geist von ihm Besitz ergriffen, der weder wusste, wie man den Worten einen Klang verlieh, noch einen menschlichen Gesichtsausdruck hervorbringen konnte. Vampa hatte kein Anzeichen von Menschlichkeit. Er hatte keine Gefühle.

„Wie soll ich dir helfen?“, erwiderte Dotti mit der Gelassenheit einer Frau, die diese Bitte oft hört.

„Ich brauche Arbeit. Irgendwas. Ich … ich brauche Essen.“

„Hol dir die Abfälle von Mauseloch, da gibt es doch genug.“ Als Dotti ihn fortwinken wollte, sagte er fest: „Ich brauche kein Essen nur für heute Abend. Ich dachte, ich komme ohne aus. Aber … ich lag falsch.“

„Wie meinst du das, du dachtest, du kommst ohne aus? Ohne was?“

„Ohne Essen.“

„Seit wann?“

Er dachte nach. Irgendetwas regte sich hinter der Maske seines bleichen Gesichts. „Seit wir Tee getrunken haben.“

Dottis Augen wurden groß. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, obwohl sie gerne ein kleines Vaterunser in die Luft gezeichnet hätte.

 

Genau drei Monate zuvor war Dotti in der Stadt unterwegs gewesen. Sie hatte Geschäftspartner besucht und war in einigen der einflussreichsten Häuser der Stadt zum Tee gewesen, um Gäste von Eck Jargo zu treffen. Danach hatte sie ihrem Schneider einen Besuch abgestattet, der ihr ein neues Cape aus Hermelinfell machen sollte, wie Dotti es sich schon so lange wünschte.

Als sie auf dem Weg zu Fräulein Friechens Teestube war, entdeckte sie etwas am Straßenrand, zusammengekauert zwischen Schutt und Abfall. Sie blieb stehen. Es sah aus wie eine Leiche. Ein Paar alter, abgetragener Schuhe ragte hervor.

Dotti blickte nervös zu allen Seiten. Es kam hin und wieder vor, dass sich solche Überreste in der Nähe von Fräulein Friechens Teestube fanden … Die Wächter kümmerten sich meistens um ihre rasche Entsorgung, denn eine derartige Spur konnte geradewegs an die Pforten von Eck Jargo führen, vor allem jetzt, da die Polizei aufmerksamer war denn je und ihre Spitzel schon den kleinsten Blutstropfen witterten. Als Dotti näher trat, um zu prüfen, ob sie den Toten gekannt hatte, erschrak sie: Der Tote war gar nicht tot, sondern blinzelte träge mit den Augen.

„Jesus Maria im Himmel!“ Dotti war in wohl jeder Hinsicht unchristlich, aber was das Fluchen anging, war sie religiös geblieben. „Geht es dir gut, Junge?“

Er starrte sie aus seinen toten Augen an, und als er die weißen Lippen öffnete, schimmerte seine Mundhöhle blutrot.

„Ich habe Durst“, sagte er, aber es schien keine Bedeutung zu haben, und Dotti fiel es schwer, ihn zu verstehen, obwohl er klar sprach. Seine Worte waren auf eine merkwürdige und unerklärliche Weise tot. Sie hätten nicht gesprochen werden dürfen, sie waren nicht real – wie eine Erinnerung, die man noch zu hören glaubt, obwohl sie längst vergangen ist.

„Durst?“, wiederholte Dotti. Dann erkannte sie es, es fiel ihr wie Schuppen von den Augen: Der Junge im Dreck war ein Vampir.

Vor Schreck konnte sie sich nicht bewegen. Hundert Geschichten bestürmten sie auf einmal. Dotti war in einem Zigeunerzirkus aufgewachsen und sie hatte die Warnungen der alten Wahrsagerinnen nie vergessen. Vampire und Motten hatten die Albträume ihrer Kindheit besiedelt und ein Großteil ihres Aberglaubens war ihr über die Jahre des Erwachsenseins erhalten geblieben. Nun, da der bleiche Junge zu ihr aufstarrte, zweifelte sie keine Sekunde daran, dass er ein Vampir war oder zumindest etwas ähnlich Unmenschliches.

„Wer bist du?“ Ihre Stimme schwankte. In der rechten Hand hielt sie bereits die kleine Pistole aus ihrer Handtasche, aber sie wusste, dass gewöhnliche Waffen Dämonen keinen Schaden zufügten.

„Du musst mir helfen“, sagte der Junge monoton. Es war keine Bitte, kein Befehl. Sein Gesicht spiegelte nichts wider. Er erhob sich aus dem Dreck und blieb geduckt an der Mauer stehen. „Hilf mir.“

Schreckensbleich erkannte Dotti, dass ihm Tränen aus den Augen strömten. Silbrige Rinnsäle zogen sich über seine schmutzigen Wangen, Tropfen sammelten sich an seinem Kinn und perlten auf seine zerknitterten Kleider.

„Es sind schon zwei Jahre vergangen. Sieh mich an. Wie alt bin ich?“

„Bist du ein Vampir?“, hauchte Dotti.

„Was?“ Der Junge hatte sie nicht gehört. Noch immer strömte das Wasser aus seinen Augen.

„Vamp… Vampi…“

„Kennst du mich? Kennst du mich? Ist das mein Name?“ Er machte drei Schritte auf sie zu. „Heiße ich so? Vampa?“

„Bist du ein Mensch?“, flüsterte Dotti.

Nur die Tränen bewegten sich auf seinem Gesicht. „Ich weiß nicht. Du musst mir helfen, es herauszufinden.“

Sie nickte zerstreut. Man durfte Geister nicht verärgern. „Ja“, hörte sie sich flüstern. „Ja, ist gut. Ich helfe dir. Ich tue, was du willst.“

Eine halbe Stunde später saß sie mit dem Vampir in einem Hinterzimmer von Fräulein Friechens Teestube und zündete eine Petroleumlampe an. Seine Haut schimmerte im Licht wie Wachs.

„Welchen Tee magst du?“, fragte Dotti. Sie hatte sich einigermaßen gefasst. Wenn man so lange wie sie unter Dieben, Verbrechern und anderem gefährlichen Gesindel lebte, gewöhnte man sich schnell an die schlimmsten Situationen – und auch das Gespräch mit einem toten Jungen verlor an Schrecklichkeit.

„Ich weiß es nicht“, sagte Vampa.

„Was schmeckt dir am besten?“

„Ich weiß nicht.“

„Na … dann probier mal Pfefferminz.“

„Was bedeutet das, schmecken?“ Er sah sie an, und Dotti war nicht sicher, ob er eine Antwort erwartete. „Ich weiß nicht, was schmeckt, was nicht schmeckt, was schön ist, was hässlich ist. Ich habe keine Meinung. Alles ist einfach da. Ich bin einfach da.“

Dotti ließ sich langsam auf den Stuhl ihm gegenüber sinken.

„Ist etwas, das nicht schön ist, nicht hässlich, nicht groß und nicht klein, nicht laut und nicht leise – ist das etwas Echtes?“ Wie Trugbilder zerfielen seine klanglosen Worte.

„Also, etwas, was nicht irgendwie ist, das gibt es nicht, würde ich sagen“, murmelte Dotti.

Der Junge sah sie an. Seine Augen füllten sich erneut mit Tränen, die nichts mit ihm zu tun zu haben schienen. „Dann gibt es mich nicht. Ich existiere nicht. Ich bin nichts … Ich, ich glaube, irgendwo da draußen existiert etwas, das einen Schatten wirft. Und der bin ich.“

„Ein Schatten?“, wiederholte Dotti verwirrt.

„Ich brauche Hilfe“, sagte Vampa. „Ich muss … lesen lernen.“

„Lesen?“

„Ich muss ein Buch lesen, das ich noch nicht gefunden habe. Kennst du jemanden, der mir hilft, lesen zu lernen?“

Dotti schluckte schwer. „Ich brauch jetzt erst mal einen Schnaps“, murmelte sie, änderte ihre Meinung jedoch und holte eine Pralinendose hervor, die sie zwischen sich und den Vampirjungen stellte.

„Noch besser. Nimm dir hier was.“ Wenn sie eines von ihren Eltern gelernt hatte, dann, dass Schokolade einen weitaus größeren Beruhigungseffekt besaß als Alkohol. Sie öffnete die Dose und steckte sich gleich vier Nougattrüffel auf einmal in den Mund.

„Vampa, hast du gesagt, heißt du?“, nuschelte sie und schob sich die klebrige Schokolade in beide Backen. „Passt ja. Also, gibt es eigentlich ein Leben nach dem Tod?“

Der Junge nahm sich einen Nougattrüffel und nagte ein winziges Stück ab. „Die Frage“, sagte er tonlos, „ist, ob es einen Tod gibt ohne Leben.“

Dotti begriff nicht. Erst in den nächsten Wochen würde sie anfangen, zu verstehen.

 

Sie suchte einen Mann, der in ihrer Schuld stand, als Lehrer für Vampa aus. Der Junge lernte eifrig. Dotti sah ihn niemals schlafen, niemals essen, mit keiner Menschenseele sprechen. Pausenlos las er und lernte die Buchstaben und ihre Klänge auswendig. Als er versuchte, selbst zu schreiben, führte er die Feder wie ein Gelehrter und brachte ein wunderschönes M zu Papier.

Sein Lehrer fürchtete sich vor ihm. Immer wieder wollte er von Dotti wissen, wer der Junge war, bis sie ihm endlich sagte, er sei der Sohn eines verstorbenen Freundes.

„Nein“, antwortete der Mann plötzlich. „Dieser Junge … ist kein Junge! Er ist nicht menschlich!“

Dotti erwiderte: „Das sagt der Richtige, ein Mörder, der sich für jeden neuen Kopf einen Strich in den Arm ritzt!“

Darauf schwieg der Mann. Nach einer Weile brauchte Vampa ihn nicht mehr. Er lernte das Lesen innerhalb von wenigen Wochen, als würde er lediglich etwas wiederentdecken, das er einst verlernt hatte.

Dotti verlor ihre Angst vor dem Jungen nicht: Nie würde sie wagen, ihn fortzuschicken oder ihm einen Wunsch abzuschlagen. Sie nahm ihn hin, wie man einen Geist hinnimmt, der in einem Haus spukt. Allerdings verwarf Dotti den Verdacht, er sei ein Vampir – denn er bewegte sich im Sonnenlicht und wich den Menschen eher aus, als dass er sie anfiel. Auch auf die Knoblauchzehen, die Dotti überall versteckte, reagierte er nicht. Und doch, er war kein Mensch, das war gewiss. Dotti fand sich mit der Erklärung ab, dass er ein Dämon war, gefangen im Körper eines Jungen, oder ein Junge, besessen von einem Dämon. Sie stellte keine Fragen, als er zu essen aufhörte, sagte nichts, als er nach jedem Boxkampf, in dem sie ihn kämpfen ließ, halb tot ging und am nächsten Morgen unversehrt zurückkam; sie wollte nicht wissen, welchem geheimnisvollen Ziel er nachhetzte und aus welchem Schlupfwinkel der Hölle er stammte. Sie blickte blind an allem vorbei, als er sich über die Jahre hinweg nie veränderte und nach sieben Jahren noch der Vierzehnjährige war, den sie an jenem unglückseligen Herbsttag im Dreck gefunden hatte. Dotti führte ihr Leben fort, als wäre nie etwas geschehen.

Nur ihr Schokoladenkonsum erhöhte sich.

 

Drei Monate lang hatte Vampa keinen Bissen zu sich genommen. Zuletzt hatte er sogar aufgehört zu trinken.

Das war vor sieben Jahren gewesen, als er das erste Mal versucht hatte, zu sterben. Es waren bereits zwei Jahre vergangen, seit er am Straßenrand erwacht war, ohne Erinnerung und Identität. Zwei Jahre lang hatte er sich nicht verändert … Jede Nacht geschah es: Sein Haar wuchs zu seiner alten Länge zurück, egal wie kurz er es abgesäbelt hatte. Alle Verletzungen heilten, alles wurde rückgängig gemacht, es war wie eine unheilvolle Ebbe, die das Meer nach jeder Flut wieder zurückzieht. Vampa hatte keine Macht über seinen Körper. Doch er konnte entscheiden, ob er aß.

Es fiel ihm anfangs schwer, aufs Essen zu verzichten. Nach einer Woche spürte er den Hunger nur noch als steten, pochenden Schmerz, der seine Existenz überschattete. Nach einem Monat wurde ihm häufig schwindelig, er fiel in Ohnmacht oder wurde kurzfristig blind. Andere Male bekam er Bauchkrämpfe, ihm wurde eiskalt, während sein Magen heiß brannte, und ihm fielen die Haare aus – aber jeden Morgen waren sie wieder da, nur um aufs Neue auszufallen. Er konnte nicht einmal verhungern.

Schließlich ging er zu Dotti nach Eck Jargo und bat sie um Arbeit, damit er wieder essen konnte. Er brauchte das Essen nicht – nach jeder Nacht war er ja wieder so wohlgenährt wie am Morgen davor – und doch musste er essen, damit die Schwindelanfälle und Krämpfe vergingen.

Eine Weile putzte er Gläser in der Wiegenden Windeiche, aber dabei verlor er ganze Nächte, obwohl er doch nach dem Buch suchen musste … Er brauchte eine andere Arbeit. Als er Dotti bat, ihn boxen zu lassen, willigte sie ein. Sie erlaubte ihm alles, verwehrte ihm nichts.

Ob er ihr dankbar war? Vampa wusste es nicht. Er fühlte nichts für Dotti, so wie er für einen Stein, einen Stock, ein Blatt nichts gefühlt hätte. Ebenso wenig empfand Vampa, als er das erste Mal in Bluthundgrube antrat.

Die Zuschauer grölten vor Erregung und Vampas Gegner, ein Mann wie ein Stier, glühte ihn an, bereit, ihn zwischen den Fäusten zu zermalmen.

„Nimm ihn auseinander!“, schrien die Zuschauer in roher Begeisterung und flatterten mit ihren Wettzetteln. „Brech den Burschen entzwei!“

Der Boxring war nur durch Seile vom Publikum getrennt. Die Klingel schrillte. Schon traf Vampa die Faust seines Gegners am Kopf. Die Wucht ging ihm durch die Knochen wie der Einschlag einer Bombe. Er fiel gegen die Seile und wurde von hundert heißen, begierigen Händen zurück in den Ring gestoßen. Vampa stolperte gegen den Boxer. Er spürte nicht mehr, wo ihn der nächste Schlag traf, er wusste nur noch von den Wellen des Schmerzes, die ihm durch den Körper rollten und in tausend dröhnende Lärmsplitter zerschellten. Der Schmerz war fern, mehr so wie das unangenehme Gefühl, das man hat, wenn man von intensiven Schmerzen liest.

Als Vampa zu sich kam, kümmerten sich die Tänzerinnen aus der Roten Stube um ihn. Langsam schlug er die geschwollenen Augen auf, und manche Tänzerinnen stießen Schreie aus, denn sie hatten ihn für tot gehalten. Kein Zahn war ihm geblieben und sein Rückgrat war gebrochen.

Am nächsten Abend trat er gegen denselben Boxer wie am Vortag an. Es war das erste Mal, dass er Bluthundgrube vollkommen geräuschlos erlebte. Keiner gab einen Mucks von sich. Die Gäste starrten den Jungen an wie einen Geist. Aufrecht stand er im Ring mit seinem Rücken, der nicht mehr gebrochen war, und seiner Nase, gerade und scharf geschnitten ohne die blutigen Risse.

Da begann der Boxer vor ihm zu schluchzen. Er stolperte zurück, seine Augen wurden irr. Vampa versetzte ihm einen Kinnschlag und der Mann ließ sich auf den Boden fallen, wo er wimmernd im Nassen liegen blieb. Dabei fühlte Vampa nichts für ihn. Keine Befriedigung und kein Mitleid. Nichts für die stummen Zuschauer. Nichts für sich selbst.

 

Vampa wurde eine Legende in Eck Jargo. Manche kamen allein um zu sehen, wie der Vampirjunge tot geprügelt wurde und am nächsten Tag unversehrt weiterkämpfte. Bald kursierten die verrücktesten Gerüchte über ihn – einige behaupteten sogar, dass in ihm der Geist des Paolo Jargo lebte. Das alles wurde hinter seinem Rücken geflüstert. Denn den merkwürdigen Jungen anzusprechen traute sich niemand. Inmitten der Diebe und Verbrecher, der Geheimbünde und Verschwörer blieb Vampa allein. Er wandelte durch das Leben und war nicht mehr als ein Gerücht – eine flüchtig erzählte Geschichte.

Vampa scherte es nicht. Nichts war von Bedeutung. Und obwohl es Vampas einziges Ziel war, daran etwas zu ändern, konnte er nicht einmal seine Gleichgültigkeit hassen. Er kannte keinen Hass, keine Furcht, keine Liebe. Wie ein Bild, das er nicht schön und nicht hässlich fand, betrachtete er das Leben und Sterben der Männer, die in Eck Jargo ihre letzte Zuflucht suchten.

Eck Jargo bestand aus acht verschiedenen Abteilen, den Acht Ecken: Mauseloch, der Wiegenden Windeiche, Himmelszelt, der Roten Stube, dem Glückspalast, Bluthundgrube, dem Laternenreich und Labyrinth. Jede Ecke war ein neuer, auf Entdeckung wartender Kontinent in der Welt Eck Jargo.

Die Wiegende Windeiche glich einer muffigen Kapelle, in der man die Stimme aus Erfurcht vor den unsichtbaren und doch stets allgegenwärtigen Mächten nicht lauter als nötig zu erheben wagte. Unter den Wurzeln, die sich durch die gesamte Decke zogen, herrschte ewige Dunkelheit. Wer ein heimliches Treffen abhalten wollte, war hier richtig. Himmelszelt bestand aus einem langen Korridor und unzähligen Zimmern zum Vermieten, denn das war es, was die meisten in Eck Jargo suchten: den traumlosen Schlaf des Friedens. Auch das Laternenreich bot den Schutz einer ungestörten Nacht. Auf Diwanen im schummrigen Schein der Öllampen betörte der Zauber des fernen Ostens die Sinne … der Zauber hieß Opium. Schmerz, Sorgen, Zeit, alles versprach das süße Gift zu tilgen, und wer einmal von seiner himmlischen Lähmung kostete, verließ das Laternenreich entweder bankrott oder tot. Wer sich nach irdischem Spaß sehnte, der war am besten aufgehoben im Mauseloch, dem berühmten Ausschank, oder in der Roten Stube bei den Tänzerinnen, im Glückspalast, wo ununterbrochen Poker gespielt wurde und das Geld schneller durch die Hände ging als die Karten, oder in Bluthundgrube, wo man alles finden konnte, das mit Schmerz und Gewalt zu tun hatte. Und dann gab es noch Labyrinth. Es war die berüchtigte Ecke von Eck Jargo, die am tiefsten unter der Erde lag, Legenden umrankt und gefürchtet. Labyrinth war Treffpunkt zahlreicher verbotener politischer Parteien, Verschwörer gegen die Regierung, Räuberbanden und religiöser Sekten – manchmal auch alles auf einmal. Niemand musste hier Angst vor Spionen haben, denn Labyrinth war tatsächlich so groß, dass man sich ohne die tauben Wächter verirrt hätte, die pausenlos ihre Runden machten. Gerüchte, dass es in Labyrinth einen geheimen zweiten Eingang zu Eck Jargo gab, hielten sich hartnäckig unter den Leuten. Es hieß, verlassene Kanalschächte erstreckten sich unter der gesamten Stadt, die den Behörden nicht mehr bekannt waren. Irrwege, die frühere Schmuggler in die Erde gegraben hatten – davon waren manche überzeugt –, lägen unter den Fundamenten der Häuser, der Kathedralen und Gardeplätze: Irrwege, in denen Leute wandelten, die selbst für Eck Jargo zu finster waren, wenn das überhaupt möglich war.

Vampa lebte an all dem vorbei, ohne sich dafür zu interessieren. Sein ganzes weniges, kostbares Interesse galt dem Buch. Dem roten Buch mit der dunkelroten Tinte.

 

„… Blut! Blut! Blut! Blut!“ Die einstimmigen Rufe der Zuschauer dröhnten im ganzen Keller. Und dann, ein lang gezogenes „Aaaaahhhhh …“

Vampa richtete sich auf. Der Metzger zu seinen Füßen regte sich nicht. Noch wankend strich sich Vampa die schweißnassen Haare aus der Stirn und wandte sich um. Der Schiedsrichter riss seine Faust in die Höhe und kürte ihn unter tosendem Beifall zum Sieger. Das Publikum bejubelte ihn so ohrenbetäubend, als hätte er ihnen allen das Leben gerettet.

Inzwischen verlor er kaum noch – nach sieben Jahren Boxen hatte er genug Übung. Er ließ sich von den Tänzerinnen mit einem Handtuch abtupfen und trank das Glas aus, das man ihm reichte. An der Wetttafel wartete bereits sein Gewinn auf ihn.

Vampa wischte sich mit seinem Hemd über den Nacken, dann zog er es sich über den Kopf und schlüpfte in seine Jacke. Als er sich durch die aufgeregte Menge drängte, beachtete er weder die argwöhnischen und ängstlichen Blicke, noch das leise Gemurmel, das er wie einen rauschenden Umhang hinter sich herzog.

„He, Kumpel! Kamerad!“ Ein Junge, kaum älter als er selbst, umwuselte ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. Vampa sah ihn nur flüchtig an, obwohl er über die ungewohnte Nähe erschrocken war. Wann hatte ihn das letzte Mal jemand so berührt?

„Hast echt klasse gekämpft, Mann. Zeigst du mir ein paar Tricks? Nur du und ich, ja? Draußen, hinter der Mauer? Na, nun warte doch …!“

Vampa schüttelte den Jungen ab. Das Geld hielt er fest in seiner Faust. Er würde sich zuerst etwas zu essen kaufen und dann … Nun, die Nacht war jung. Er hatte noch eine Adresse, zu der er musste. Bald würde er auch noch mal zu Professor Ferol gehen und in seiner Bibliothek weitersuchen. Es war gut möglich, dass er noch mehr Blutbücher besaß.

Man öffnete ihm die Tür und Bluthundgrube verstummte hinter Holz und Eisen.

Vampa lief die Treppe hinauf. Dotti saß nicht mehr am Empfang, statt ihr brütete ein finster dreinblickender Wächter am Schreibtisch und unterbrach sich nur kurz dabei, mit einem Messer zwischen seinen Zähnen zu pulen, um Vampa zuzunicken. Als Vampa die Treppe zu Fräulein Friechens Teestube hinauflief, hörte er von unten, wie der Wächter mit jemandem sprach. Ein Gewehrlauf streifte Vampa flüchtig, als er an den durchlöcherten Wänden vorbeikam. Die Wächter vor dem dunklen Vorhang blieben ungesehen, als er ging. Es war sehr viel schwerer, in Eck Jargo hineinzukommen als hinaus.

Vampa tastete sich durch die dunkle Teestube, denn mittlerweile war es draußen Nacht geworden und die nächste Straßenlaterne stand so weit weg, dass kein Licht durch die Schaufenster fiel. Fräulein Friechen ließ sich nicht blicken. Aber Vampa wusste, dass die Alte nur den Eingang bewachte.

Am Fenster bog er links ab, ging an der rot gestrichenen Ladentür vorbei und ertastete eine schmale Öffnung in der Wand. Er schlüpfte hindurch und schob eine aus Brettern zusammengenagelte Tür auf. Dann war er endlich an der frischen Luft.

Obwohl die Bezeichnung „frisch“ nicht ganz passend war. Der Ausgang von Eck Jargo führte hinter die Mauer am Ende der Sackgasse und der Abfall von Jahrzehnten türmte sich rings um Vampa auf. Es war bereits kühl geworden, Frost lag auf der Mauer und aus den Dreckhaufen stieg bestialisch stinkender Dampf.

Vampa schlug den Kragen hoch und vergrub die Hände in den Taschen. Es war unmöglich, über die Mauer zu klettern, da sie ein zwei Meter weiter Graben voller Scherben und Stacheldraht säumte. Um Eck Jargo zu verlassen, musste man den kleinen Innenhof umrunden und auf der anderen Seite durch ein Loch im Holzzaun schlüpfen. Vampa war auf halbem Weg durch die Abfälle, als er die Brettertür hinter sich knarren hörte. Dabei hätte doch der Nächste, der Eck Jargo verlassen wollte, eine Minute warten müssen, ehe er gehen konnte – und der Wächter an der Rezeption hatte Vampa schließlich gesehen. Er hätte den Gast nach ihm zurückhalten müssen. So schnell konnte niemand nachgekommen sein, es sei denn, er war gerannt.

„Wo ist er?“, flüsterte jemand in der Dunkelheit.

Vampa beeilte sich. Bis zum Loch im Zaun war es nicht mehr weit.

„Ich hab ihn doch gerade noch gesehen.“ Das war die Stimme des Jungen, der Vampa vorher in Bluthundgrube angesprochen hatte. Vampa warf einen Blick über die Schulter zurück, doch er sah nichts in der Finsternis.

Plötzlich packte ihn eine Hand an der Kehle. Vampa würgte vor Schreck. Ein Gesicht schälte sich direkt vor ihm aus der Dunkelheit, dahinter erkannte er eine ganze Gruppe schemenhafter Gestalten.

„So, Missgeburt.“ Ein leises Klickgeräusch, dann blitzte ein Taschenmesser auf. „Du verpatzt uns keine Wette mehr.“

Alles geschah so schnell ... Vampa spürte die kalte Klinge am Hals, dann einen Druck. Die Kälte des Metalls durchdrang ihn, er fühlte, wie seine Haut und sein Fleisch durchtrennt wurden wie Butter. Warm ergoss es sich auf sein Hemd. Die Münzen fielen ihm aus der zitternden Faust.

„Na also …“

Der Mann ließ von ihm ab. Vampa ächzte und schnappte nach Luft, doch kein Atemzug drang ihm in die Lungen. Mit ringenden Händen betastete er seinen Hals. Der Schnitt ging ihm quer über die Kehle und das Blut floss in Bächen.

Die Gestalten warteten. Doch das zufriedene Gemurmel erstarb, als Vampa nicht zu Boden fiel. Keuchend stand er da. Der Mann mit dem Messer verlor die Fassung. Er stürmte auf Vampa zu und rammte ihm die Klinge in die Brust. Vampa krümmte sich. Lichtfunken hüpften vor seinen Augen. Er fiel in einen Tunnel, rasend schnell …

„Das, das ist –“ Der Mann wimmerte, als Vampa sich das Messer aus der Brust zog. Einen Augenblick stand er vor ihm und stützte sich auf den Arm des Mannes. Dann ließ er das Messer fallen.

„Nichts wie weg!“, schrie der Junge, den Vampa vorher abgeschüttelt hatte. Die Gestalten ergriffen die Flucht. Auch der Mann suchte das Weite, ohne sein Messer aufzuheben.

Schwerfällig schleppte Vampa sich durch den Dreck und kroch durch das Loch im Zaun. In der Ferne schwamm das Licht einer Straßenlaterne in der Nacht.

Er schlich an den Hauswänden vorbei. Kein Geräusch erreichte seine Ohren. Die Stadt schwieg allein für ihn.

Wärme durchwogte seinen Körper. Das Blut klebte an ihm wie ein Anzug aus Wasser, heißem, mildem Badewasser. Tot … Er war tot. Vampa lächelte. Ihm ging der Mund auf und die roten Zähne blühten zwischen seinen Lippen. Er lachte, ohne sich zu hören. Tot war er! Tausendmal würde er tot sein und niemals sterben. Lachend schleppte er sich durch die nächtlichen Straßen und keine Menschenseele kreuzte seinen Weg. Als die Kirchtürme in der Ferne ein Uhr schlugen, blieb er unter dem Mondlicht stehen und breitete dem Himmel die Arme aus.

„Rettet mich“, sagte er in die Finsternis, die sich über ihm erstreckte. Wie kalte Augen starrten die Sterne ihn an. Sie spiegelten sich in seinen Tränen. Mit ausgestreckten Armen wartete er, bis das Blut über Brust und Kinn in seine Kehle zurückgeronnen war. Die Krusten schmolzen. Kein Tropfen blieb auf den Kleidern zurück. Das Herz in seiner Brust begann mit einem flammenden Stich wieder zu schlagen. Dann schloss sich der schwarze Schnitt an seinem Hals, er verschwand, als sei er nie da gewesen, verschwand wie ein ausradierter Bleistiftstrich.

„Rettet mich endlich …“