Mottentochter

 

Im Hause Spiegelgold waren fast alle Lichter erloschen. In der Küche hatte die Köchin die Glühbirne ausgeknipst, sobald sie mit dem Abwasch fertig geworden war, Trude schnarchte friedlich in ihrem Zimmer, Stricknadeln und Wolle noch in greifbarer Nähe neben der gelöschten Nachttischlampe, Frau Nevera Spiegelgold schlief seit drei Uhr nachmittags, denn sie hatte Migräne, und ihr Ehemann war aus seinem Büro getreten, als die Taschenuhr in seiner Weste Punkt elf Uhr gezeigt hatte. Die Fenster des Hauses blickten finster zum Park hinüber, der auf der anderen Straßenseite lag.

Nur ein Licht, eine kleine Kerze, glomm noch. Das Wachs tropfte auf Apolonias Nachtschränkchen, aber sie bemerkte es nicht. Die Decke um die Schultern gelegt wie ein Daunenzelt und die Beine gekreuzt, kauerte sie neben dem hüpfenden Lichtchen und las.

Tränen kullerten ihr über die Wangen, seit sie das Buch angefangen hatte. Als der Inspektor am Nachmittag gegangen war, hatte sie es vom Tisch genommen und aufgeschlagen.

Inspektor Bassar hatte es mitgebracht; es war eines der wenigen Bücher, die das Feuer überstanden hatten. Apolonia hatte noch einmal über die Seiten eines Buches streichen wollen, das nie zuvor aufgeklappt worden war, hatte noch einmal die Druckerschwärze riechen wollen, den Geruch ihrer Kindheit – dann hatten ihre Augen die erste Zeile gestreift, das erste Wort, den ersten Buchstaben, und alle Wehmut war verblasst: Nur noch das Buch zählte.

Apolonia hatte ihren Vater im Salon sitzen gelassen, war lesend in ihr Zimmer gegangen und hatte Trude mit einem Wink fortgeschickt. Sie hatte sich in ihr Bett gesetzt und gelesen.

Nun war es fast vier Uhr morgens. Stille herrschte im ganzen Haus, auch draußen schwieg die Stadt. Nur das Umblättern der Seiten war zu hören und, hin und wieder, ein leises Seufzen, wenn Apolonia sich die Tränen von den Wimpern wischte.

Nie hatte sie so etwas gelesen – und durch ihre Hände waren wahrscheinlich mehr Bücher gegangen als durch die eines durchschnittlichen Bibliothekars. Was sie nun las, war unvergleichbar mit allem, was es sonst auf der Welt gab. Apolonia fühlte das Mädchen im Buch. Sie war lebendig. Sie war Apolonia.

Mit zitternden Fingern strich sie die letzte Seite um. Ihre Augen schmerzten, und die Müdigkeit lähmte jede Zelle ihres Körpers, doch sie konnte nicht aufhören. Es war unmöglich, sich loszureißen. Wäre ein Räuber in ihr Zimmer gestürmt, hätte Apolonia weitergelesen.

Ihre Lippen formten die letzten Worte mit. Dann war das Buch zu Ende.

Apolonia musste lächeln. Was für ein Buch! Ganz schummrig war ihr vor Glück, vor Bauchkribbeln. Dabei konnte sie gar nicht darüber nachdenken, was ihr an der Geschichte gefallen hatte – über die Geschichte selbst konnte sie nicht nachdenken. Das Buch war in ihrem Inneren aufgebläht wie ein riesiger, ungreifbarer Gefühlsballon. Sie blätterte noch einmal an den Anfang und fuhr mit den Fingern über den Titel. Das Mädchen Johanna. Von Jonathan Morbus.

Apolonia biss sich auf die Lippe. Das Buch behutsam in die Hände geschlossen, verweilte sie mehrere Augenblicke und fühlte sich so glücklich wie lange nicht mehr.

Wie konnte es so etwas geben? Das hier war mehr als nur ein Buch. Viel mehr als eine Geschichte. Es war wie … wie ein echter Mensch, dachte sie, aber auch das traf es nicht richtig.

Plötzlich klopfte es an ihrem Fenster. Apolonia drehte sich um. Ein schmaler, geschmeidiger Schatten war am Fensterbrett erschienen.

Sie schob das Buch unter ihr Kopfkissen und nahm die Kerze vom Nachtschränkchen. Das Licht vorgestreckt, ging sie zum Fenster. Krallen klackerten gegen das Glas. Apolonia leuchtete durch das Fenster und ein dunkles Augenpaar glühte auf. Es war ein Marder.

Rasch öffnete sie das Fenster, und der Marder flitzte ins Zimmer. Er sprang aufs Bett, über Decke und Kissen, schlug einen Haken und landete auf dem Schreibtisch. Ein Bild drängte sich in Apolonias Bewusstsein, ein Bild von laut rufenden Menschen.

„Hallo, Knebel.“ Weil der Marder das natürlich nicht verstand, konzentrierte sie sich auf das Bild eines Mädchens, das die Kleider einer Königin trug und auf einem riesigen Globus stand. Der Marder quiekte zur Begrüßung, als er das Bild empfing.

Zugegeben, bei der Wahl ihres Namens war Apolonia nicht bescheiden gewesen. Bei den Tieren war sie als Königin bekannt, die auf der Welt tanzte. Knebel hingegen hatte sich, als sie ihn das erste Mal traf, mit dem Bild einer lärmenden Menge vorgestellt. Er hasste nämlich den Lärm der Menschen und wollte ihnen allen am liebsten das Maul stopfen, vor allem den neuen, riesigen Glanzkäfern, den Automobilen. Also hatte Apolonia ihm den Namen Knebel gegeben. Doch im Grunde genommen gab es keine Klangnamen bei den Tieren, sie stellten sich in Bildern vor.

Du kommst spät, sagte Apolonia. Dabei dachte sie an den finsteren Himmel draußen, die nächtliche Stille (die sie noch mit einem sanften Grillenzirpen unterlegte) und dann den Schatten an der Fensterscheibe. Demonstrativ gähnte sie und ging zurück ins Bett. Knebel blickte ihr mit großen Augen nach und hüpfte schließlich zu ihr aufs Kissen, als sie sich die Decke bis zum Kinn hochzog. Apolonia war fast zu müde, um sich noch mit Knebel zu unterhalten. Hartnäckig sandte er ihr seine Bilder, aber immer wieder zerfielen sie in ihrer Vorstellung, bevor sie ihren Sinn begreifen konnte.

Ein Bild von der Nacht. Der Mondschein ist besonders hell – er wird von den Augen eines Marders wahrgenommen. Überall in den Straßen huschen Marder umher. Manche sind feindlich, andere freundlich gesinnt. Es ist ein Revierkampf im Gang. Knebel will sich drücken, er hat Angst, aber die Anführerin lässt ihn nicht aus den Augen. Er ist eines der jungen Männchen in seinem Clan und muss sich beweisen … Es ist spät, als er schließlich doch verschwinden kann. Schleunigst stiehlt er sich davon, lässt die Kämpfenden hinter sich zurück und klettert zu Apolonias Fenster empor …

Du Feigling, dachte Apolonia lächelnd. Ein rennender Marder, der seinen Clan hinter sich zurücklässt.

Knebel quiekte empört, dann kraulte Apolonia ihm den Nacken. Dicht an sie gekuschelt rollte der Marder sich ein.

Kann nix dafür, murmelte Knebel und schickte ihr ein blasses Bild: Die Königin, die auf der Welt tanzt, und lärmende Leute. Auf der anderen Seite ein buschiger, fauchender Marder. Wofür soll man sich da entscheiden?

„Ja, ja“, murmelte Apolonia. Knebel schleckte ihr noch einmal über die Stirn, dann war er eingeschlummert; auch Apolonia fiel bald in einen tiefen Schlaf, in den sie die Geschichte aus dem Buch begleitete …

 

Als Apolonia das erste Mal mit einem Tier gesprochen hatte, war sie so klein gewesen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Eine lange Zeit hatte sie mit Katzen und Hunden, die ihr auf der Straße zuliefen, und Eichhörnchen und Mardern aus den Parks Bilder ausgetauscht und geglaubt, jeder Mensch könne dasselbe. Erst als sie fünf war, beobachtete ihre Mutter sie beim Streicheln einer Krähe, die ihr aus den Bäumen zugeflogen war.

„Ist das dein Freund?“, hatte ihre Mutter ihr zugeflüstert, den Blick auf den schönen schwarzen Vogel gerichtet.

„Das ist Apfelschale. Sie isst am liebsten Apfelschalen.“

„Dann hast du also auch eine Gabe“, murmelte Magdalena Spiegelgold und ein Lächeln spielte um ihre Lippen. „Was du kannst, kann fast niemand sonst auf der Welt. Nicht einmal ich kann mit Tieren sprechen.“

Apolonia hatte sich sehr besonders gefühlt. So besonders wie ihre Mutter.

Denn Magdalena Spiegelgold war keine gewöhnliche Frau – das hatte Apolonia schon gewusst, bevor Trude ihr erklärte, wie die Dienstmädchen ihre Mutter hinter vorgehaltener Hand nannten. Wenn Apolonias Vater bei der Arbeit in der Buchhandlung war, besuchten sie merkwürdige Gäste. Sie rochen nach Kerzenwachs, Weihrauch und gelber Wüstenerde. Wenn sie kamen, musste Apolonia den Salon verlassen und wurde zu Trude geschickt. Doch manchmal, wenn das Kindermädchen beim Stricken eingedöst war, schlich Apolonia die wuchtige Wendeltreppe hinab und spähte durch das Schlüsselloch. Einmal sah sie ihre Mutter mit dem Rücken auf dem Boden liegen. Die Fremden saßen rings um sie herum, hatten die Augen wie sie geschlossen und murmelten leise Worte. Da begann der Körper ihrer Mutter zu beben, ganz sacht nur, als ginge ein leichter Stromschlag durch sie hindurch. Ihr hellbraunes Haar löste sich aus dem eleganten Knoten und breitete sich auf dem Boden aus. Wie Schlangen ringelten sich die Strähnen um ihr regloses Gesicht, und ihr Körper hob von der Erde ab. Einen Fingerbreit schwebte sie über dem dunklen Holzparkett, steif und reglos. Die Fremden murmelten unablässig ihre Worte. Apolonia wich erschrocken vor der Tür weg. Sie rannte zur Treppe zurück, erklomm mit ihren kleinen Beinen die großen Stufen, bis sie wieder im Kinderzimmer angekommen war und die Tür leise hinter sich schloss.

Ein anderes Mal hörte Apolonia ihre Eltern streiten, obwohl sie nie lauter sprachen als nötig. Apolonia wusste, worum es ging. Sie merkte es am Klang ihrer Stimmen, am merkwürdigen Verstummen mitten im Satz. Es ging um die Gäste, die wie Geister ins Haus glitten, sobald Alois Spiegelgold nicht da war. Apolonias Vater war nicht dumm. Er wusste über die Freunde seiner Frau Bescheid, und er wusste von den geheimnisvollen Spielen, die sie im Salon trieben, dem Flüstern und Murmeln und den heraufbeschworenen Mächten, die Magdalenas Haar in Schlangen verwandelten und ihren Körper schweben ließen. Aber er unternahm nichts dagegen, denn er liebte seine Frau und all die seltsamen Dinge, die sich hinter ihren hellblauen Augen verbargen, waren ein Teil von ihr. Bloß von den geheimnisvollen Gästen wollte er nichts wissen.

Hin und wieder hatte Apolonia das Gefühl, dass gar nicht die Fremden warteten, bis ihr Vater das Haus verließ – vielmehr flüchtete ihr Vater, bevor sie kamen. Dann schien es Apolonia, als besäßen in Wahrheit sie das Haus und nicht Alois Spiegelgold, und auch Magdalena gehörte ihnen mehr als ihrer Familie.

Einmal fragte Apolonia ihre Mutter, was sie im Salon tat, wenn ihre Gäste da waren und sie fortgeschickt wurde. Magdalena lächelte, sehr fern und verschleiert wirkte ihr Gesicht, und ihr Blick schien an einen Ort zu reichen, den niemand außer ihr sehen konnte.

„Ich wandere. Es gibt viele Arten, um zu wandern, und viele Orte zu bereisen, die man nicht immer auf einer Landkarte findet. Nicht nur mit den Füßen kann man laufen, verstehst du?“

Apolonia verstand nicht. Erst viel später begriff sie, dass ihre Mutter eine Motte war.

 

„Fräulein Apolonia … Wachen Sie auf, Fräulein Apolonia. Es ist Morgen!“

Apolonia kniff die Augen zu, als die Vorhänge aufgezogen wurden und helles Tageslicht in ihr Zimmer flutete. Die Herbstsonne malte einen goldenen Rand um Trudes dicken, kleinen Körper, als das Kindermädchen aufs Bett zuwackelte und vorsichtig die Decke aufschlug. Apolonia zog die Knie an den Körper.

„Ich bin müde!“, knurrte sie in ihr Kissen.

„Es ist aber schon zwölf Uhr, und die gnädige Frau Spiegelgold besteht darauf, dass Sie noch zur selben Stunde in ihrem Salon erscheinen, wo doch der Schneider gekommen ist!“, brabbelte Trude und zog Apolonia, die sich noch immer an ihr Kissen klammerte, mit sanfter Bestimmtheit hoch. Seit Apolonia sie kannte, war Trude immer unverändert rund und gemütlich gewesen. Das kleine Krötengesicht, aus dem sie die grauen Haare peinlich genau zurücksteckte, war voller Fröhlichkeit. Ihre piepsige Stimme klang mehr wie die eines Kindes, und sie lispelte ein bisschen; nur wenn sie sang, dann wurde ihre Stimme klar und tief, als sei sie plötzlich weise geworden, auch wenn der Eindruck nur für die Dauer eines Liedes hielt.

Als Apolonia halbwegs aufrecht im Bett saß, strich Trude ihr die zerzausten Haare aus dem Gesicht und klopfte ihr auf die Wangen. Dann entdeckte Trude das Buch, das vorher unter dem Kissen gelegen hatte, und trug es mit Daumen und Zeigefinger zum Schreibtisch, als könnten die Buchseiten plötzlich aufschnappen und beißen.

„Das Fräulein sollte nicht so spät in die Nacht hinein lesen“, lispelte Trude mit leiser Missbilligung. „Schon gar nicht, wenn ein so wichtiger Tag bevorsteht.“

„Wichtiger Tag!“ Apolonia schnaubte. „Es ist eine Frechheit, so kurz nach Vaters Unglück ein Fest zu veranstalten.“

Trude stand einen Moment schweigend vor ihr und sagte nichts. Dann eilte sie um das Bett herum in den Ankleideraum.

„Ihre Frau Tante und Ihr Herr Onkel haben aber nun einmal achten Hochzeitstag. Das kommt nicht alle Tage vor, dass man acht Jahre verheiratet ist, nein, nein … acht Jahre sind eine lange Zeit, und wenn sie schön war, dann blickt man auf sie zurück wie auf einen kurzen Sommer!“

Trude kam mit Apolonias Kleidern zurück und lächelte, dass ihre roten Backen leuchteten. „Schön waren die fünfzehn Jahre mit Ihnen, Apolonia! Kann mich so gut ans kleine Baby erinnern, das Sie damals waren, so winzig und schmal wie ein Püppchen war das Fräulein!“

Apolonia stand auf und streckte die Arme aus. Trude machte ihr die Knöpfe des Nachthemdes auf.

„So schnell verfliegt die Zeit und das Fräulein ist fast erwachsen! Eine junge Dame sind Sie geworden, schön wie Ihre Mutter. Und das werden Sie heute auch beweisen, beim Fest Ihrer Frau Tante und Ihres Herrn Onkels, nicht wahr, denn die ganze hohe Gesellschaft wird da sein und man wird Sie nicht mehr als Kind ansehen. Das ist vorbei …“ Trude seufzte schwermütig.

„Vieles ist jetzt vorbei“, sagte Apolonia, stieg aus ihrem Nachthemd und steckte die Zehen in den Strumpf, den Trude ihr hinhielt. „Ich bin kein Kind mehr, du hast recht. Aber das muss ich nicht mit einem schönen Kleid beweisen, sondern mit meiner geistigen Überleg… – Beeil dich doch, ich stehe bloß auf einem Bein!“

Trude ächzte, während sie Apolonia den zweiten Strumpf überzog. Dann drehte Apolonia sich um und schlüpfte mit den Armen durch das Mieder, das Trude ihr hinhielt. Während die Kinderfrau die Schnüre am Rücken festzog, ließ Apolonia den Blick aus dem Fenster schweifen. Die Kupferdächer der Stadt glänzten grün in der Sonne und streckten ihre rauchenden Kamine weit hinauf ins Himmelblau. Links am Fensterrand konnte Apolonia sogar die Pappeln des Parks erspähen. Dabei fiel ihr ein – sie hatte ja Besuch. Wenn Trude erfuhr, dass ein Marder in ihrem Bett gelegen hatte … Sie erschrak ja schon vor einem Buch! Bestimmt würde sie Apolonia mit Weihwasser waschen wollen. Niemand wusste von den Tieren, mit denen sie befreundet war. Und sie gedachte es so zu belassen.

Aus den Augenwinkeln schielte sie zum Bett. Zwischen den dunkelblauen Deckenrüschen und dem Teppich erschien eine schnuppernde Marderschnute.

Das Bild vom Fenster und eine singende Marzipanfigur, schickte ihr Knebel. Die Marzipanfigur – das war Trude.

Apolonia antwortete: Das Zimmer ist leer. Die singende Marzipanfigur singt irgendwo anders.

Daraufhin schickte Knebel ihr ein Bild, das niemand gerne gesehen hätte, schon gar nicht, wenn er gerade erst aufgewacht war.

„Bäh“ Apolonia kniff die Augen zu, obwohl sie das Bild damit natürlich nicht verdrängen konnte.

„Oh, zu eng?“ Trude lockerte die Schnüre sofort.

„Nein, nichts. Ich meine, nicht zu eng.“

Kannst du mir nicht anders zeigen, dass du aufs Klo musst?

Klo?, echote es zurück.

Apolonia seufzte. Mit Tieren zu sprechen konnte ziemlich anstrengend sein. Fast so sehr wie mit Menschen.

Also gut. Wenn ich ‚jetzt’ sage, flitzt du raus. Ich muss nur erst das Fenster öffnen.

Ich muss aber dringend!

„Verdammt.“ Apolonia schloss die Augen. Hör auf, mir dieses Bild zu schicken! Das ist ja ekelhaft.

„Verzeihung!“, sagte Trude.

„Nein, nicht zu eng. Mir ist nur – heiß.“ Apolonia winkte zum Fenster hin. „Oh, ich ersticke gleich! Trude, schnell, mach das Fenster auf.“

Trude wuselte zum Fenster und riss es auf. „Fühlen Sie sich nicht gut, mein Fräulein?“

Ganz dringend muss ich raus! Oder ich könnte auch hier unten …

„Nein!“ Apolonia warf einen glühenden Blick zum Bett.

Untersteh dich! Das Bild von der Königin, die nicht auf einer Weltkugel tanzt, sondern auf einem Marder trampelt.

„Nein?“ Trudes Kulleraugen wurden größer. „Aber was haben Sie denn bloß?“

„Äh … das will ich nicht anziehen!“ Apolonia wies auf das Kleid auf ihrem Bett, das Trude geholt hatte. Es gefiel ihr tatsächlich nicht: Hellrosa mit weißer Spitze traf nun wirklich nicht ihren Geschmack. „Hol mir ein Kleid in schwarz.“

„Aber ich dachte, heute ist doch ein besonderer Anlass, und das Fräulein könnte wenigstens einmal …“

„Was, wie ein Spanferkel aussehen?“

Trude ließ die Schultern sinken. „Immer schwarz, schwarz, schwarz. Warum muss das Fräulein immerzu trauern? Keine Witwe auf der Welt hat je so oft schwarz getragen. Dabei passt Rosa so gut zu Ihren Haaren …“

„Und Schwarz passt gut zu meiner Stimmung, wenn ich diese Gardine noch länger auf meinem Bett liegen sehe. Hol mir jetzt ein Kleid, in dem ich einigermaßen vernünftig aussehe!“

Trude kniff die Lippen zusammen, doch dann hob sie das rosafarbene Kleid mit äußerster Behutsamkeit vom Bett und verschwand im Ankleideraum. Kaum einen Moment später flitzte der Marder unter dem Bett hervor und war aus dem Fenster. Die Vorhänge wehten ihm hinterher, und Apolonia empfing zum Abschied ein schönes Bild von einem Sonnenuntergang, den Knebel irgendwann im Sommer beobachtet haben musste; dann war er fort.

„Bis dann also“, murmelte Apolonia und verschränkte fröstelnd die Arme vor der Brust. Obwohl keine Wolke am Himmel hing, war es kühl. Sicher würde es bald den ersten Schnee geben. Apolonia hörte Trudes Schritte hinter sich.

„Trude, kannst du bitte sofort das Fenster schließen? Bei der Kälte bekomme ich ja einen Schnupfen.“