Die Gesellschaft

 

 

Nachdem Apolonia gefrühstückt hatte, ging sie zu ihrer Tante. Der gesamte westliche Hausflügel gehörte Nevera Spiegelgold: Sie besaß drei Salons, ein Schlafzimmer, ein Lesezimmer, zwei Bäder und eine Bibliothek. Diesen Morgen hielt sie sich in einem ihrer Salons auf, einem großen Zimmer, das durch mehrere Fenster dem Park entgegenblickte. Schon als Apolonia in den Korridor einbog, hörte sie die durchdringende Stimme ihrer Tante und plätschernde Klaviermusik, denn die Türflügel des Salons standen offen. Apolonia trat ins Zimmer und wartete, bis ihre Tante sie bemerkte. Nevera stand auf einem Hocker, in der einen Hand eine schwarze Zigarettenspitze, in der anderen eine lange Seidenschärpe, die sich um ihre Schulter und ihre Hüfte schlang und am Saum ihres Kleides von einem Schneider festgesteckt wurde.

„Apolonia!“, rief sie aus, als sie Apolonia entdeckte, und setzte die Lippen an ihren Zigarettenhalter. Ihre Wangen wurden hohl, als sie inhalierte. „Schätzchen, komm herein!“

„Guten Morgen, Tante.“ Apolonia trat näher. Nevera war eine große, schlanke Frau mit einem langen Hals und langen Fingern; ihre Nase war dafür umso kürzer, sodass die Nasenlöcher stets sichtbar waren, und ihr kleiner Mund konnte sich zu einem erstaunlich breiten Lächeln verziehen.

Der Schneider hatte sich inzwischen aufgerichtet und schob sich die Brille zurecht. „Fräulein Spiegelgold, nehme ich an?“

Apolonia nickte und reichte ihm die Hand.

„Du kommst reichlich spät, Liebes.“ Nevera inhalierte noch einmal, dann winkte sie ein Dienstmädchen heran und gab ihr den Zigarettenhalter. Der graue Rauch umwaberte Neveras Gesicht, dann richtete sich der Blick ihrer hellen Augen auf Apolonia. „Ich habe Trude vor mehr als einer Dreiviertelstunde geschickt, um dich zu wecken. Aber nun gut, die Liebe ist schon alt. Und früher war sie gewiss auch nicht die Schnellste. Jedenfalls musst du dich jetzt gedulden, bis mein Kleid so weit ist. – Sie da unten, wann sind Sie fertig?“

„Bald, bald, Frau Spiegelgold!“ Der Schneider beeilte sich, ging in die Knie und nahm den Kleidersaum in Augenschein. Flink tanzte seine Nadel auf und ab, in den Stoff hinein und wieder heraus.

„Hast du schon gefrühstückt, Apolonia?“, fragte Nevera und fuhr noch im selben Atemzug an das Dienstmädchen gewandt fort: „Hol uns Tee, Croissants und Konfitüre. Aber trödel nicht wieder, letztes Mal war der Tee schon kalt, als du ihn gebracht hast!“

„Ja, Frau Spiegelgold.“

„Ach, halt!“ Nevera schnippte mit den Fingern und wies auf den Kamin. Das Dienstmädchen holte den Zigarettenhalter vom Kaminsims, steckte eine neue Zigarette hinein und zündete Nevera ein Streichhölzchen an.

„Madame?“

„Danke, du kannst gehen. – Pedro, los!“

Der Diener nickte und begann, dem Flügel eine fröhliche Melodie zu entlocken. Nevera summte leise mit und blies den Rauch zur Seite. Dann lächelte sie.

„Das bleibt unter uns, Liebes. Dein Onkel sieht es nicht gerne, wenn ich rauche, das weißt du ja. Er findet es unschicklich.“ Nevera zuckte die Schultern. Der Schneider stieß einen leisen Schrei aus, als sich der Stoff verzog und ihm die Nadel in den Finger stach, aber Nevera bemerkte es nicht. „Unschicklich, Grundgütiger, die ganze Welt benimmt sich unschicklich! Das bisschen Rauch, das geht ihm zu weit. Dabei pafft er dreimal so viele Zigarren wie ich Zigaretten. Und fragt er sich, ob ich das für schicklich halte? Pah, Männer!“ Sie lachte und blickte der Asche nach, die dem Schneider aufs ergraute Haupt rieselte. Glucksend sah sie Apolonia an. „Gott sei Dank ist beides grau, da merkt man nichts!“

Apolonia räusperte sich. „Sie tragen ein eindrucksvolles Kleid, Tante.“

Von oben bis unten blitzte Nevera vor Perlen, Strass und himmelblauer Seide. Man hätte meinen können, sie habe sich ihren ganzen Reichtum an die Haut kleben wollen – im Grunde war genau das ihre Absicht gewesen.

„Oh, danke Liebes“, sagte Nevera und drehte sich leicht hierhin und dorthin, um die Pose zu finden, in der ihr Kleid am meisten Licht reflektierte. Der Schneider versuchte verzweifelt, ihr mit der Nadel zu folgen. „Ich habe mir eben gedacht, man hat nur einmal achten Hochzeitstag. Mein Kleid im letzten Jahr war gegen dies hier ein Fetzen, falls du dich erinnern kannst, ganz zu schweigen von dem armseligen Bettelkleid, das ich an meinem Geburtstag getragen habe, oder dem Silvesterkleid letzten Winter. Apropos Silvester: Was hältst du davon, wenn wir das Gleiche tragen? Ich dachte an etwas …“ Nevera blickte zur Zimmerdecke hoch und öffnete die Hände in Erwartung einer göttlichen Eingebung. „… etwas Champagnerfarbenes. Mit einem spitzen Ausschnitt vorne und hinten. Ärmellos für mich, aufgebauschte Taftärmel für dich. Was sagst du?“

Apolonia atmete tief ein. „Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Ich fühle mich geehrt, dass Sie sich so um mich kümmern, aber ich fürchte, Mode ist an mich verschwendet. Und bevor Sie sich weiter bemühen, bitte ich Sie um die Erlaubnis, in einem der Kleider zu erscheinen, die ich schon besitze. Etwas Neues wäre unnötig.“

Nevera starrte sie an, als hätte Apolonia ihr offenbart, sie wolle Bergarbeiter werden. Erst als der Schneider auffuhr und sich glühende Funken aus den Haaren schlug, senkte Nevera ihren Zigarettenhalter und fand ihre Stimme wieder.

„Und … was hast du zum Anziehen?“

„Was ich trage, reicht mir aus.“

Das?“, entfuhr es Nevera. Eine Weile rangen verschiedene Gefühlsregungen in ihrem Gesicht, dann setzte sich Mitleid gegen Verblüffung und Verständnislosigkeit durch.

„Oh … mein Liebes!“ Sie raffte ihr Kleid und stieg vom Hocker, um Apolonia in die Arme zu schließen. Eine Parfümwolke schlug ihr entgegen. „Mein hübsches, kleines Ding! Du denkst, dass du nichts Besseres verdienst als das. Aber glaube mir“, sagte Nevera mit süßer, eindringlicher Stimme, „es ist dein Recht, mehr als eine kleine Krähe zu sein. Du wirst sehen, was sich aus dir machen lässt.“

„Danke“, knirschte Apolonia.

„Na, na, nichts zu danken. Natürlich sorge ich dafür, dass aus der einzigen Tochter meiner lieben Schwester eine Dame wird, das ist doch selbstverständlich!“ Nevera legte beide Hände um Apolonias Gesicht und musterte es wie einen fremdartigen Stoff, bei dem sie sich noch nicht sicher war, ob er zu einem schönen Kleid taugte.

„Deine Mutter!“, seufzte Nevera, als sie offenbar vergeblich in ihrem Gesicht nach ihr gesucht hatte. „Viel zu früh hat sie diese Welt verlassen müssen, nicht wahr? Und du armes Ding bist ganz ohne Mutter aufgewachsen … Woher solltest du auch wissen, wie man sich benimmt? Du musstest ja aufwachsen wie ein wildes Unkraut, ganz ohne jemanden, der diese widerspenstigen Zweige und Blätter stutzt.“ Dabei zupfte sie an Apolonias Haaren und strich ihr vorne einen Mittelscheitel, so wie Apolonia es hasste.

„Nun ja, ich hatte schließlich noch Trude. Und Vater“, erwiderte sie. Nevera runzelte die Stirn, als sei allein die Erwähnung einer Angestellten ungeheuerlich, doch sie schwieg.

Das Dienstmädchen kehrte mit einem Tablett zurück. „Madame, Ihr Frühstück.“

„Oh!“ Nevera strahlte. „Stell es auf den Tisch dort. Apolonia, du darfst schon anfangen. Und Sie da, brauchen Sie mich noch lange?“

„Nein“, murmelte der Schneider, der instinktiv den verbrannten Kopf einzog. „Ich kann das Kleid auch so fertig nähen, denke ich.“

„Fein. Anna, hilf mir beim Umziehen.“ Nevera und das Dienstmädchen verschwanden hinter einem Paravent und wenig später trat Nevera, in einen karamellfarbenen Morgenrock gehüllt, wieder hervor. Mit einem wohligen Seufzen ließ sie sich auf den Stuhl sinken und nippte an dem Tee, den das Dienstmädchen ihr einschenkte.

„Also.“ Behutsam stellte sie ihre Tasse wieder ab, legte die Serviette auf ihren Schoß und nahm sich ein Croissant. „Wir müssen noch überlegen, was wir dir schneidern lassen. Ich dachte an ein Kleid in … Rosenrosa.“

Apolonia gelang nur ein Mundzucken. „Eigentlich wollte ich Trauer tragen.“

„Um wen?“

„Meine Mutter.“ Und meinen Vater, dachte sie. Sein jetziger Zustand war schlimmer als tot.

„Apolonia, das ist fast neun Jahre her! Ich kann nicht zulassen, dass du herumläufst wie ein Leichenbestatter. Und keine Widerrede!“

Apolonia musste fest die Zähne zusammenbeißen, um ihre Wut zu verbergen. Nie, nie hätte früher jemand gewagt, ihr den Mund zu verbieten. Aber jetzt war alles anders und sie musste ihrer Tante und ihrem Onkel dankbar sein und brav zu allem nicken. Sie fühlte sich so erniedrigt, dass sie unter dem Tisch ihre Fingernägel tief in die Handflächen grub.

„Liebes, du bist jetzt siebzehn, und in Gedenken an deine Mutter und meine liebe Schwester: Sie war nur ein Jahr älter, als sie deinen Vater heiratete.“

„Ich bin fünfzehn“, erwiderte Apolonia.

Nevera hielt im Kauen inne und lächelte mit verschlossenen Lippen. „Natürlich, Gott sei Dank. Dann haben wir ja noch ein paar Jahre, um aus dir eine kleine Schönheit zu machen. Apropos Schönheit: Beug dich zu mir vor, Liebes.“

Apolonia zögerte, als Nevera die langen Finger nach ihr ausstreckte, doch dann gehorchte sie und beugte sich vor. Zu ihrer Überraschung kniff Nevera ihr fest in beide Wangen.

„Aua! Was –“

Nevera lehnte sich zurück und musterte Apolonia, die sich die Backen rieb. „Hm. Du bist ein bisschen blass, Apolonia. Aber wusstest du, dass ein Mädchen gleich ganz anders aussieht, wenn es ein bisschen Farbe im Gesicht hat?“

„Ich kann es mir vorstellen“, knurrte Apolonia. Wer sah nicht anders aus mit zwei großen blauen Flecken auf den Backen!

„Du wirkst auch etwas verschlafen. Vielleicht solltest du früher ins Bett gehen, damit du nicht mehr diese grässlichen dunklen Ringe unter den Augen hast. Wie heißt es so schön? Ringe sollte eine Dame nur an den Fingern tragen!“ Dabei betrachtete Nevera liebevoll die goldenen Schmuckstücke an ihren Händen. Apolonia nahm einen Schluck von ihrem Tee.

„Ich habe in der Tat nicht viel geschlafen“, erwiderte sie knapp, und Nevera blickte von ihren Ringen auf.

„Warum? Nein – lass mich raten. Natürlich warst du aufgeregt wegen des heutigen Tages. Aber du brauchst überhaupt keine Angst zu haben. Du wirst fantastisch aussehen, und ich werde mich darum kümmern, dass du auf dem Fest der Crème de la Crème vorgestellt wirst, versprochen.“

„Um ehrlich zu sein“, sagte Apolonia trocken, „habe ich ein Buch gelesen.“

„So?“ Neveras Gesicht verschwand hinter ihrer Teetasse. „Ich hoffe, es war deine Augenringe wert …“

„Es war ein außergewöhnliches Buch, nein, viel mehr. Es war …“ Apolonia verstummte. Zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, fehlten ihr die Worte, und sie wusste nicht, wie sie ihr Inneres zum Ausdruck bringen sollte. Eine Weile schwieg sie verdutzt über diese Erkenntnis.

„Und welches Buch war so fesselnd?“

„Es hieß Das Mädchen Johanna. Von Jonathan Morbus.“

„Jonathan!“ Ein Leuchten erschien in Neveras Augen. „Wie erfreulich. Er ist heute Abend einer unserer Gäste.“

„Tatsächlich?“ Apolonia konnte sich plötzlich nicht vorstellen, dass der Verfasser des Buches ein Mensch aus Fleisch und Blut war – und dass sie ihn kennenlernen würde! Ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Vielleicht würde die Feier doch nicht so langweilig, wie sie befürchtet hatte.

„Nun.“ Nevera wandte sich zu dem Schneider um, der gerade die letzten Perlen an ihr Kleid nähte. „Ich würde sagen, bei meiner Nichte wird jetzt Maß genommen. Die Zeit läuft, und in acht Stunden muss das schönste rosenrosa Kleid geschneidert sein, dass die Welt je erblickt hat!“

Der Schneider schob sich die Brille zurecht. „Ich lasse wohl besser meinen Assistenten holen.“

 

Die Vorbereitungen im Hause Spiegelgold liefen auf Hochtouren. Seit den frühen Morgenstunden schwirrten die Dienstmädchen wie fleißige Bienen zwischen Küche, Flur, Festsaal und den anliegenden Salons umher, schrubbten die Bodenfliesen, bis Marmor und Parkett wie Spiegel glänzten, wischten Regale, Statuen und Vasen ab und trugen rosafarbene und milchweiße Blumengestecke vom Hinterausgang in alle Zimmer, bis der Duft der Orchideen jeden Winkel des Hauses beherrschte. Der hauseigenen Köchin war eine ganze Mannschaft von Konditoren zur Hilfe gekommen und die Küche hatte sich in ein rauch- und dampfgefülltes Schlachtfeld verwandelt. Befehle und Flüche übertönten fast das Zischen der unzähligen Töpfe: Irgendjemand hatte dreiundfünfzig Hummer gemopst.

„Das kann nicht sein!“, zeterte die Köchin und schlug mit jedem Wort ihren Löffel gegen den Herd. „Drei-und-fünf-zig Hummer! Verschwunden!“

„Jesus und Maria im Himmel!“ Der Oberkonditor rang die Hände. „Halten Sie den Schnabel! Bei diesem Lärm kann ich nicht arbeiten!“

Der glühende Blick der Köchin richtete sich erst auf den Konditor, dann auf die unvollendete Torte auf dem Tisch. Aus Angst, sie könne ihre verschwundenen Hummer im Gebäck vermuten, stellte sich der Konditor vor sein Werk. „Sprechen Sie mit Frau Spiegelgold. Jetzt ist es noch nicht zu spät, den Speiseplan zu ändern.“

Zur selben Zeit waren drei Dienstmädchen damit beschäftigt, die Salons, in denen Herr Spiegelgold später mit seinen Anwalts- und Richterkollegen plaudern wollte, mit genügend Rum und Zigarren auszustatten. Im Saal wurden die Kronleuchter auf Hochglanz poliert, die Tische zurechtgeschoben, sodass in ihrer Mitte Platz zum Tanzen war, und ein Podest für das Streichquartett errichtet. Ein Stockwerk über all dieser Geschäftigkeit schlüpfte Apolonia noch einmal in ihr neues Kleid, damit der Schneider und sein Gehilfe die letzten Änderungen vornehmen konnten. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel und kam zu dem wohlüberlegten Entschluss, dass sie das Kleid hasste. Dann konnte sie vorerst wieder in ihre alten Kleider schlüpfen. Da ihre Tante gerade damit beschäftigt war, die Dienstmädchen im Saal anzuherrschen, musste sie sich keine Ausrede ausdenken, um zum Dienstbotenausgang zu eilen.

Vor der Tür wartete bereits ein bibbernder Konditorgehilfe mit einer großen Holzkiste. Apolonia kam auf ihn zu und befahl: „Aufmachen!“

Der junge Mann öffnete die Holzkiste und zeigte ihr, dass sie leer war.

„Auf mich ist Verlass, hab ich doch gesagt“, erklärte er.

„Und du hast sie alle zum See gebracht? Lüge mich nicht an, ich erfahre die Wahrheit so oder so!“

Der Konditorgehilfe hob die Schultern. „Alle dreiundfünfzig krebsen in den Seen und Flüssen vom Park rum. Schwör ich dir.“

Apolonia maß ihn mit einem abschätzenden Blick, dann zog sie drei Münzen aus ihrer Rocktasche und ließ sie in die ausgestreckte Hand des Konditorgehilfen fallen. „Deinen Schwur brauche ich nicht. Aber dein Schweigen.“

Der junge Mann lächelte. Selbst wenn er diese Verrücktheit erzählte, würde ihm niemand glauben.

Zufrieden wandte Apolonia sich um und schritt ins Haus zurück. Später würde sie nachsehen, ob es den Hummern da draußen auch wirklich gut ging.

 

Als die Herbstsonne hinter den Hausdächern versank, verwandelte die Stadt sich in ein Fleckenfeld aus gelbem Licht und roten Schatten. Innerhalb weniger Augenblicke wurde es dunkel; auf den großen Hauptstraßen im Stadtzentrum erwachten die Straßenlampen mit einem Mal zu knisterndem Leben. In den weniger eleganten Vierteln dauerte es eine Weile, bis die Lichtfrauen und Lampenmänner alle Laternen entzündet hatten. Bald leuchtete die Stadt aus tausend glühenden Augen und erwiderte frech den Blick der Sterne, als wolle sie ihren Glanz übertreffen. In einem Stadtteil, wo die Straßenbeleuchtung bereits modernisiert war, zogen Kutschenkarawanen durch die Licht durchtränkten Straßen. Hin und wieder überholte ein Automobil die Pferde und drängte sich in einem aufreißerischen Kurvenmanöver vor die Tiere. Rings um das Haus Spiegelgold fanden sich vornehme Gestalten zusammen und stiegen in lachenden und plaudernden Trauben die steinernen Treppen zur Haustür empor. Bald hielt das Klingeln inne: Die Türen wurden gar nicht mehr geschlossen.

Dienstmädchen mit blütenweißen Schürzen und gestärkten Hauben nahmen so viele Pelzmäntel, Stolas, Mäntel und Jacketts in Empfang, dass man damit Geschäfte hätte eröffnen können. Sobald sich die Gäste ihrer wärmenden Hüllen entledigt hatten, strömten sie glitzernd und schillernd wie geschlüpfte Schmetterlinge weiter Richtung Festsaal. Im Schein der Kronleuchter war das Gefunkel der Kleider, Krönchen, Kolliers und Ketten so blendend, dass Apolonia, die am oberen Absatz der Wendeltreppe stand, die Augen verengte. Offenbar dachten all die eitlen Gänse wirklich, dass sie als wandelnde Glühbirnen attraktiver waren. Doch so sehr sie sich auch anstrengten – Nevera Spiegelgold hatte dafür gesorgt, dass sie zumindest in dieser Hinsicht keine übertreffen konnte. Um ihre Arme schlossen sich breite Silberarmbänder mit eingehängten Perlen, und ein Kollier aus Weißgold mit mehreren dunkelblauen Saphiren machte sie um mindestens zwei Kilo schwerer. In ihren Haaren, die zu einer kunstvollen Turmfrisur aufgesteckt waren, funkelte ein Weißgolddiadem, das ihr mit Perlen in die Stirn hing und auf der Spitze einen daumengroßen Saphir präsentierte. Mit überschwänglicher Freude und den Gebärden einer Königin nahm sie die Geschenke ihrer Gäste entgegen und übergab sie nach zahlreichen Dankesworten einem Dienstmädchen, das die Gaben zu einem Turm aufbaute.

Elias Spiegelgold stand neben ihr und begrüßte wesentlich zurückhaltender. Sein spärliches hellbraunes Haar war glatt zurückgekämmt und sein Gesicht mit den spitzen Augenbrauen und dem breiten Kinn war zu einem steifen Lächeln verzerrt. Mit Händeschütteln begrüßte er seine Gäste, einige der bedeutendsten Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft.

Obwohl Elias Spiegelgold als Sohn der Spiegelgoldschen Buchhandelsdynastie bereits in höhere Kreise geboren worden war, hatte er sich seinen Status und sein Vermögen hauptsächlich selbst erarbeitet. Alois Spiegelgold, der Erstgeborene, hatte das Familienunternehmen geerbt, und wie es für jüngere Söhne aus gutem Hause nicht unüblich war, schlug Elias die Laufbahn eines Juristen ein. Sein großer Erfolg war vor acht Jahren eingetreten, zeitgleich mit der Tragödie seines älteren Bruders.

Damals hatte eine hochgefährliche Terroristenvereinigung namens TBK – der Treue Bund der Kräfte – das Parlamentsgebäude samt allen anwesenden Regierungsmitgliedern in ihre Gewalt gebracht und versucht, die Macht an sich zu reißen. Als der größenwahnsinnige Plan scheiterte, hatten trotzdem nur drei TBK-Mitglieder gefasst werden können. Elias Spiegelgold, der mittels seiner vorzüglichen Kontakte gerade Staatsanwalt geworden war, forderte für die drei Terroristen die Todesstrafe. In jenen Tagen wurde die Frage, ob eine solche Art der Bestrafung einem modernen und humanen Zeitalter noch entsprach, gerade heftig debattiert und Elias Spiegelgold über Nacht zur glorreichen Verkörperung eines altehrwürdigen Rechtsempfindens. Seiner Forderung nach der Höchststrafe wurde stattgegeben. Die drei Terroristen waren bis heute die letzten Sträflinge in der Geschichte der Republik geblieben, die den Tod durch den Strang fanden. Elias Spiegelgold aber hatte sich damit zum meist gefürchteten Gesetzeshüter und engen Freund allerlei konservativer Politiker emporgeschwungen. Im gleichen Jahr hatte er Nevera, die Schwester seiner verstorbenen Schwägerin geheiratet – sie lernten sich auf Magdalenas Beerdigung kennen.

„Apolonia … Pst!“

Apolonia drehte sich um und entdeckte Trude, die im Korridor stand und in den Saal hinabspähte.

„Was tun Sie hier?“, flüsterte das Kindermädchen. „Nun gehen Sie schon, mein Fräulein, na los!“

Apolonia war ganz verdattert darüber, dass Trude ihr Befehle erteilte, doch ausnahmsweise folgte sie der Aufforderung. Nach kurzer Überwindung schritt sie die geschwungenen Treppenstufen hinab, sich ihres Aufzugs peinlich bewusst. Sie hatte sich bis dato nie öffentlich in einem bonbonfarbenen Kleid sehen lassen, und zwar aus gutem Grund. Die knallige Farbe machte aus ihr eine bleiche Bohnenstange, eine bleiche Bohnenstange, die hübsch aussehen wollte und kläglich gescheitert war. Schon rief jemand ihren Namen. Aus der Menge schälte sich ein bekanntes Gesicht.

„Nein, was für ein Zufall.“ Das Mädchen verzog die Lippen zu einem lahmen Lächeln. Sie war so alt wie Apolonia und trug das goldene Kreuz um den Hals, das jede Schülerin der katholischen Nonnenschule erhielt und das Apolonia schon mit sieben Jahren geschmacklos gefunden hatte.

„Einen Zufall kann man es nicht unbedingt nennen, dass ich zu Hause bin“, erwiderte sie.

„Zu Hause, ach ja! Ich hatte ja fast vergessen, dass du jetzt hier wohnst.“

Apolonia ballte die Fäuste beim genüsslichen Klang dieser Worte. „Guten Abend, Muriella.“

„Apolonia.“ Sie tauschten zwei Wangenküsse und musterten sich danach wieder mit kühlen Blicken.

Oh – was trägst du nur für ein schönes Kleid“, bemerkte Muriella und nutzte die Gelegenheit, sie von oben bis unten zu mustern. „Du hast dich tatsächlich von deinen geliebten … wie soll ich sie nennen – Erdfarben? – getrennt. Man erkennt dich kaum wieder.“

Apolonia lächelte süß. „Nun, dein Erscheinen ist unabänderlich, egal was du trägst.“

Muriellas Lippen wurden spitz. „Ich habe gehört, dass du nun eine öffentliche Schule besuchst.“ Ihre kleinen, schwarzen Augen blitzten – sie wusste genau, dass Apolonia von der Schule geworfen worden war.

„Offenbar bist du falsch informiert. Ich genieße inzwischen exzellenten Privatunterricht.“

Träge hob Muriella ihre Augenbrauen. „So? Dann kannst du ja gar nicht mehr anderen ins Wort fallen und sie verbessern, wie du es doch früher so gerne getan hast.“

„Gott sei Dank bleibt mir das nun erspart, in der Tat. Professor Doktor Klöppel ist ein ausgezeichneter Lehrer von internationalem Rang.“ Sie räusperte sich. Es war höchste Zeit für einen Gegenangriff, und zwar an einem Ort, der Apolonia bessere Möglichkeiten bot, Muriella bloßzustellen. „Wollen wir nicht hinüber zum Büffet? Meine Tante hat Delikatessen anrichten lassen, die du bestimmt noch nie gekostet hast.“

Gemeinsam schritten sie durch die Menge, begrüßten hier und da jemanden, tauschten flüchtige Wangenküsse und leere Worte. Inzwischen hatte sich das Tanzparkett mit Paaren gefüllt. Das Orchester auf der kleinen Empore spielte einen schnellen Walzer, zu dem sich mehrere Dutzend lackierte und diamantbesetzte Schuhe bewegten. Einige Gäste hatten sich bereits an den langen Tischen niedergelassen, in Erwartung des Abendessens, doch die meisten standen in großen Gruppen beisammen und nippten an den Champagnergläsern, die die Diener unaufhörlich nachfüllten. Auf dem Büffettisch waren Kaviar-, Lachs und Schinkenhäppchen sowie Eclairs und Pralinen auf einem Meer von Kristallschalen und Silbertabletts angerichtet, in dessen Mitte die Festagstorte thronte, achtstöckig, mit faustgroßen Sahnehauben, Karamellkirschen und einem Hochzeitspaar aus Marzipan. Die Braut trug ein winzige Nachbildung von Neveras echtem Kleid.

Apolonia nahm sich ein Häppchen mit Preiselbeercreme und wandte sich zu Muriella um. Ihre ehemalige Klassenkameradin inspizierte die Speisen wie eine Leiche auf einem Seziertisch. Dann entschied sie sich für ein Schokoladeneclair und biss hinein.

„Hm. Oh. Schmeckt … alt.“

„Wir haben die Eclairs von einer Pariser Bäckerei liefern lassen. Was du gerade kostest, ist eine Spezialität mit besonders hohem Kakaogehalt. Wundere dich also nicht über die herbe Bitterkeit.“ Apolonia nahm zufrieden einen kleinen Bissen von ihrem Preiselbeerhäppchen. „Übrigens wollte ich dich fragen, was die Ausbildung macht. Hat sich etwas bei den Nonnen geändert? Oder dreht sich immer noch alles um lateinische Kriegsberichte?“

Ohne auf Apolonias Stichelei einzugehen, blickte Muriella in die Menge und setzte ein Lächeln auf, das, wie Apolonia bemerkte, ausnahmsweise nicht unecht war: Es entblößte Muriellas Zahnfleisch.

„Valentin!“ Sie streckte den Arm aus und schlang ihn um den Arm eines jungen Mannes, der dasselbe Pferdegesicht hatte wie sie. „Apolonia, du erinnerst dich bestimmt an meinen Bruder Valentin?“

Der Ausdruck des jungen Mannes übertraf sogar Muriellas an Leblosigkeit und Langeweile.

„Wie könnte ich dieses Gesicht vergessen?“ Apolonia reichte ihm die Hand.

„Valentin, das ist Apolonia Spiegelgold“, erklärte Muriella.

„Erfreut“, näselte er und hob ihre Hand flüchtig an die Lippen. Dann reckte er sich wieder und spähte in alle Richtungen.

„Valentin macht in drei Monaten sein Staatsexamen. Danach wird er Anwalt in der Kanzlei meines Vaters“, sagte Muriella. „Vater würde gerne sehen, dass er als verheirateter Mann in den Beruf eingeht, darum ist Valentin gerade auf der Suche. Aber es kommen nur die in Frage, die Mutter und ich auswählen, nicht war, Valentin?“

„Wenn es so leicht wäre“, erwiderte er. „In unseren Rängen der Gesellschaft findet sich heute keine ehrbare Dame mehr. Und die, die noch nicht moralisch verdorben sind, sind prüde und langweilig oder abstoßend … Ich frage mich inzwischen, ob das Heiraten in unserer Zeit der Dekadenz und Heuchelei überhaupt noch sinnvoll ist.“

Muriella tätschelte ihrem Bruder beschwichtigend den Arm. Dann tauchten zwei Männer neben ihnen auf, deren blasierte Blicke Valentins verblüffend ähnlich waren. Sie stellten sich als Studenten und Freunde Valentins vor.

„Bildung!“, schwärmte Muriella mit einem leuchtenden Seitenblick auf einen der beiden Neuankömmlinge. „Wie hochinteressant! Soeben haben Apolonia und ich davon gesprochen, nicht wahr? Was hast du mich noch gefragt? War es nicht irgendwas Lateinisches?“

Apolonia machte gerade den Mund auf, als ihr Valentin ins Wort fiel.

„Numquam patietur, mihi credite. Novi violentiam, novi inpudentiam, novi audaciam. Das ist von Cicero und bedeutet: Niemals wird er das zulassen, glaubt mir! Ich kenne seine Gewalt, seine Unverschämtheit, seine Kühnheit. Dieser Spruch bezieht sich natürlich auf mich und Vaters Wunsch, dass ich heirate.”

Valentins Freunde klatschten leise in die Hände und schenkten ihm ein anerkennendes Lächeln.

„Hm“, machte Apolonia. „Seine Unverschämtheit. Amüsant.“

„Latein ist zweitausend Jahre die Sprache der Könige und Gelehrten gewesen“, fuhr Valentin fort und betrachtete seine Fingernägel.

„Und nun ist Latein die Sprache der Toten.“ Apolonia lächelte.

„Valentin, du musst verstehen“, schaltete sich schnell Muriella ein, „Apolonia war nie besonders herausragend in Latein. Sprachen sind wohl einfach nicht ihre Stärke …“

„Nun“, sagte Apolonia ungehalten, „Myeddra senviel arth vera sena.“

„Wie bitte?“ Valentin und seine Freunde runzelten die Stirn. Muriella neigte leicht den Kopf nach vorne und stierte Apolonia mit dem Verständnis eines Wildschweins an.

„Irvena senja noviel arth; mora nevra evell turo madva, sevell misuro ectera vera nivio mac renyo seva dina reh.” Sie holte tief Luft. „Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.“

„Und welche Sprache soll das gewesen sein?“, fragte einer von Valentins Freunden.

„Natürlich kann ich nicht erwarten, dass Sie das wissen. Soeben sind Sie in den Genuss gekommen, Morveda zu hören, eine südamerikanische Sprache, die vor allem im tropischen Raum weit verbreitet ist, ihre Wurzeln aber weiter im Norden hat und mit zahlreichen weiteren Ursprachen verwandt ist.“

„Und wollen Sie uns auch verraten, was Sie soeben gesagt haben?“ Valentin nahm einen Schluck Champagner.

„Ich nannte Sie einen Fanfaron, der, verglichen mit vergleichsweise ähnlich fadisierenden Verwandten, viel vermögender und infolgedessen befähigt ist, frevelhaftes Fehlverhalten im großen Format vorzuführen“, rasselte Apolonia in einem Atemzug runter.

Mehrere Augenblicke lang schwiegen alle.

„Ah. Beeindruckend.“ Ein Lächeln kroch über Valentins Pferdegesicht. „Sie können also, nach langen Studien, wie ich vermute, primitive Barbaren verstehen, die am anderen Ende der Welt im Dschungel leben.“

„Glauben Sie mir, ich kann auch primitive Barbaren in meiner unmittelbaren Nähe verstehen, und ein Verständnis für das Primitive ist fürwahr eine Kunst. Vielen Dank. Entschuldigen Sie mich nun, meine Tante wartet.“ Damit drehte Apolonia sich um und ging beschwingten Schrittes davon.

Es war ein Armutszeugnis, wenn man eine aus dem Stegreif erfundene Sprache für echt hielt, die „Morveda“ hieß, aber wenn man nicht mal merkte, dass man in seiner eigenen Sprache ein langweiliger Prahlhans genannt wurde, war das mehr als bedauernswert.

Das muss ich in meine Memoiren aufnehmen, dachte Apolonia amüsiert. Kein Wissen der Welt nützt etwas ohne den Mut zum Bluffen!