Der Einbrecher

 

 

In den folgenden Tagen war Nevera Spiegelgold damit beschäftigt, ihre Geschenke auszupacken, Karten zu lesen und Dankschreiben zu verschicken. Hin und wieder kam ihr Elias Spiegelgold zu Hilfe und setzte unter ihre Briefe eine Unterschrift. Da Nevera abgelenkt war, genoss die gesamte Dienerschaft eine friedliche Zeit. Nur die Köchin musste mit ihrem eigenen Gehalt für die verschwundenen Hummer aufkommen und schluchzte und zeterte abwechselnd vor sich hin.

Apolonia hatte sich seit dem Hochzeitstag zurückgezogen; sie verließ kaum ihr Zimmer, und wenn Trude hereinkam, um ihr das Mittagessen zu bringen, fand sie sie umgeben von hohen Bücherstapeln am Schreibtisch sitzen. Zwar war das kein seltenes Bild, doch als Apolonia eines Tages auf ihrer Fensterbank brütete und abwesend in den Park hinausstarrte, kamen Trude Bedenken.

„Haben Sie Sorgen?“, fragte Trude mit ihrer lieben, kindlichen Piepsstimme und faltete die Hände vor der Brust.

„Nein“, erwiderte Apolonia matt. „Sei so gut, bring mir einen schwarzen Tee mit Honig, drei Esslöffel Milch. Und stell mir die Lampe hierher. Ich will später lesen.“

Trude lächelte erleichtert. Das war wieder die Apolonia, die sie kannte. Sie eilte los, und als sie wiederkam und das Silbertablett neben die Fensterbank stellte, entdeckte Apolonia neben ihrem Tee drei Nussplätzchen.

 

Fast pausenlos musste Apolonia an den Lieferjungen denken. Mehr, als dass er für jemanden namens Mone Flamm arbeitete, wusste sie nicht. Aber wer war überhaupt Mone Flamm? Höchstwahrscheinlich hatte er ihrem Onkel etwas gebracht, das er für einen Gerichtsprozess brauchte – das Paket hätte Apolonia nur mittelmäßig interessiert, wäre da nicht das Fenster gewesen.

Das Fenster. Es war verschlossen gewesen, bevor der Junge hinausgesprungen war, darauf hätte Apolonia ihre rechte Hirnhälfte verwettet. Wie war es also aufgegangen? Es gab nur eine Erklärung, aber die war unwahrscheinlich, fast unmöglich … Wenn es wirklich so war, verstand Apolonia nicht, was ihr Onkel damit zu tun hatte. War es Zufall? Oder wusste Elias Spiegelgold, mit welchen Leuten er heimliche Geschäfte machte?

Apolonia grübelte und grübelte, verdächtigte Elias sogar und verwarf all ihre Ideen wieder. Was sie in ihren Büchern nachlesen konnte, lieferte keine konkreten Antworten, sondern wies nur auf noch mehr Möglichkeiten hin. Als sie nach zwei Tagen keine Ruhe fand, beschloss sie die Sache vorerst ruhen zu lassen und sich abzulenken.

 

Eintrag Nummer 15. Der 12. November.

Mutter hatte mir endlich von ihren Gaben erzählt. „Ich bin jemand, den die einfachen Leute eine Motte nennen würden“, hatte sie gesagt. „Und zwar, weil ich wandern kann.“

Natürlich wusste ich sofort, was sie damit meinte. Magdalena konnte ihren Körper verlassen und als Geist wandeln. Das war eine der Fähigkeiten, die man als Motte besitzen konnte.

„Wieso glauben die Leute nicht, dass es solche Phänomene gibt?“, fragte ich sie, mit der charmanten Naivität einer Siebenjährigen. Ich erinnere mich, wie ihr Gesicht strahlte, obwohl sie nur ein wenig lächelte. Sie hatte ein Gesicht, das wie aus Mondlicht geformt schien. Es veränderte sich ständig und war dabei doch immer gleich wie ein gemaltes Bild; in ihren Augen tanzte das Wasser eines hellen Flusses.

„Wir Motten haben unsere Gaben immer geheim gehalten. Denn die Menschen waren lange eifersüchtig und misstrauten jenen, die anders waren als sie, vor allem wenn sie etwas besaßen, das sie nicht hatten. Früher wurden Motten und solche, die man für Motten hielt, sogar gefoltert und verbrannt.“

„Du meinst die Inquisition, Mutter?“

Meine Mutter nickte. „Zum Beispiel.“

„Bist du dann in Gefahr?“

„Nein. Vieles hat sich seitdem geändert. Ich glaube, heute sind die Menschen eher bereit, Anderssein zu akzeptieren. Eine neue Zeit der Wissenschaft, der Entdeckung und Aufklärung steht uns bevor. Wir sollten uns nicht vor der Wahrheit fürchten. Wir sollten uns darüber freuen und versuchen, sie zu verstehen.“

Ich nickte. Hätte ich damals gewusst, in welcher Gefahr meine Mutter schwebte, und dass der Verrat von ihresgleichen kommen würde, hätte ich sie davon abgehalten, ihr Können preiszugeben.

 

Eintrag Nummer 16. Der 14. November.

Bevor Mutter ermordet wurde, hörte ich sie mit der Verräterin streiten. Es war eine Nacht im Februar. Die Regentropfen prasselten so laut gegen die Fenster, dass ich nicht schlafen konnte. Aber noch etwas anderes hielt mich in jener Nacht wach. Ich wage zu sagen, dass es ein Gefühl war. Eine merkwürdige Befürchtung, höchstwahrscheinlich heraufbeschworen durch frühere Überlegungen und Erlebnisse. Das menschliche Hirn kann die erstaunlichsten Zusammenhänge im Unterbewusstsein herstellen.

Ich hörte den Streit durch die Schlafzimmertür meiner Mutter. Vielleicht sollte ich es nicht Streit nennen – denn weder meine Mutter noch die Unbekannte sprach lauter als flüsternd. Die exakte Wortwahl der beiden habe ich nur noch lückenhaft in Erinnerung, nichtsdestotrotz werde ich versuchen, ihr Gespräch so wahrheitsgetreu wie möglich wiederzugeben.

„Die Welt ist für uns bereit!“, flüsterte meine Mutter. Eine Dringlichkeit und Unruhe lagen in ihrer Stimme, die ich zuvor nie bei ihr erlebt hatte und danach nie mehr erleben sollte. „Die Menschen haben sich geändert. Sie sind tolerant! Unsere Gaben werden ihnen allen helfen, wieso sollten sie sie ablehnen? Es ist selbstsüchtig, unsere Kräfte und unser Wissen für uns zu behalten!“

„Schweig!“, zischte die andere Stimme. Das Blut rauschte in meinen Ohren, so erschrocken war ich über die Strenge und Kälte der Fremden. „Menschen ändern sich nicht! Hast du vergessen, was die Eltern derer getan haben, die du so tolerant nennst? Glaubst du, die ganze Menschheit erneuert ihre Natur innerhalb von ein paar Jahrzehnten? Sei nicht so dumm!“

„Du kannst doch nicht alle Menschen bevormunden. Sie haben das Recht auf unsere Ehrlichkeit!“

„Das Recht? Das Recht?! Niemand hat auf dieser Welt irgendein Recht außer dem Recht auf seine Selbstsucht. Ich sage dir, was sie mit deiner Ehrlichkeit machen werden, schöne, einfältige Magdalena! Sie werden dich verspotten und dir nicht glauben! In ihre Irrenhäuser werden sie dich schicken, und wenn du deine herrliche Ehrlichkeit beweist, dann wird man dich ausstellen und studieren wie ein wildes Tier! Was für eine Entdeckung wirst du sein! Eine Besessene! Eine Hexe! Du wirst von Zirkus zu Zirkus gereicht und landest auf dem Untersuchungstisch von Ärzten, die dir Elektrizität durch den Körper jagen. Das ist das Recht, das die Menschen sich nehmen werden.“

„Ich habe Vertrauen in das Gute. An diesem Vertrauen kannst du nicht rütteln.“

„Nun verstehe ich. Du verlogenes Ding! Es geht dir nicht um die Wahrheit und Ehrlichkeit, so dumm bist nicht einmal du. Ich hätte es wissen müssen – du sehnst dich nur nach noch mehr Bewunderung und Ruhm und – und Macht! Deine blasses Elfenlächeln, das ist dir nicht genug, nicht wahr? Du willst, dass alle dir zu Füßen liegen! Aber das werde ich verhindern, Magdalena. Ich verhindere es.“

„Du bist von Hass und Neid zerfressen. Aber anstecken kannst du mich mit deinem Übel nicht! Ich habe meine Entscheidung getroffen.“

„Und ich die meine, darauf kannst du dich verlassen …“

Ich versteckte mich hinter den Fenstergardinen, als die Unbekannte das Schlafzimmer meiner Mutter verließ. Sie trug einen langen, dunklen Mantel, und ich sah weder ihr Gesicht noch ihre Haare oder ein anderes Merkmal, an dem ich sie hätte wiedererkennen können.

Als die Haustür ins Schloss fiel, schlich ich ins Zimmer meiner Mutter. Sie saß auf der Bettkante. Als sie mich bemerkte, lächelte sie müde und streckte sich auf dem Bett aus.

„Wer war das?“, fragte ich.

Magdalena schloss die Augen. „Unwichtig.“ Sie klang erschöpft. Ich legte mich neben sie. Bald ging ihr Atem tief und sehr langsam. Ich versuchte ihn zu imitieren, aber sie atmete wirklich viel zu langsam.

„Wanderst du wieder?“, flüsterte ich.

Meine Mutter nickte schwach. „Nur einen Augenblick … ich muss es nur kurz … ich muss nur sehen, wo sich meine Feinde treffen …“

Ich lag still und reglos neben ihr, bis ich einschlief.

Am Morgen war der Regen versiegt. Grau und leer füllte der Himmel alle Fenster aus. Meine Mutter lag noch genauso neben mir wie in der Nacht. Ihre Hände waren kalt und über ihrem Gesicht hing ein merkwürdiger Schein, wie ein Tuch aus Nebel, das ihre Züge bleicher wirken ließ. Nur ihr Atem ging noch so tief, so langsam, so versunken.

Ich versuchte sie zu wecken. Sie wachte nicht auf.

Mein Vater kam, als ich ihn rief. Er ergriff sie an den Armen, aber als er sie hob, war ihr Körper steif. Sie wachte nicht auf. Sie würde nie wieder erwachen. Vater und ich wussten es.

Zwei Wochen lang schlief meine Mutter einen Schlaf, der tiefer ist und unergründlicher als jeder Traum. Ihr Körper lebte noch, aber ihr Geist fand keinen Weg mehr in ihn zurück. Jemand hielt sie gefangen und Vater und ich waren hilflos. Wir konnten nichts tun, wir konnten nur neben ihrem leeren Körper sitzen und warten, dass er seinen letzten Atemzug tat. Kein Arzt konnte ihr helfen. Wir hatten es auch nicht erwartet.

Nach zwei Wochen war der letzte Lebensfunke aus Magdalenas Körper gewichen.

 

Vater veränderte sich sehr. Wir sprachen nie über Mutters Tod, aber wir wussten beide, wieso sie gestorben war. Für was. Wer schuld daran war. Vater zerstörte alles, was ihr gehört hatte: die Silberpfeifen, die schwebenden Teppiche, die Runenkarten, die magischen Steine, die Amulette. Er verschloss die Salons, in denen meine Mutter einst wandelte, entließ all ihre Dienstmädchen, und er zog sich zurück; zurück von der Welt, zurück von mir.

 

Apolonia klappte das Tagebuch zu. Eine Weile blieb sie reglos sitzen. Draußen dämmerte es. Leise prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben, wie zarte Marderkrallen klang es, die gegen das Glas klackerten. Apolonia stand auf und nahm ihre Geige zur Hand. Wenn sie früher eine Pause während ihrer Lehrstunden gemacht hatte, war sie Geige spielen gegangen. Es hatte etwas Beruhigendes an sich.

Auch als Apolonia nun ans Fenster trat und zu spielen begann, breitete sich ein Gefühl des Friedens in ihr aus. Nichts zählte mehr, nur noch die Noten, die Melodie … Sie musste an nichts denken außer an die klingende Schönheit, die ihr aus den Fingern schlüpfte.

Eine Weile funktionierte es. Dann brach sie in einem schiefen Ton ab und ließ das teure Instrument einfach fallen. Missmutig blickte sie ins schwimmende Grau, das die Stadt überflutete. Apolonia spürte, wie ein tiefer Groll gegen alles, was es auf der Welt gab, in ihrem Inneren Form gewann. Sie hasste alles! Den Regen und dieses Zimmer, sie hasste ihre Haare, die ihr auf der Haut kitzelten und kratzten, hasste diese Pute von einer Tante und ihren Onkel, hasste sogar Trude für ihre Einfältigkeit, hasste die Stadt und hasste ihren Vater. Die konnten ihr alle gestohlen bleiben!

Mit einem wütenden Wimmern ließ sie sich aufs Bett fallen und drückte ein paar Tränen in ihre Kissen. Danach fühlte sie sich ein bisschen leichter.

Sie blieb so im Bett liegen, während das Grau von draußen in ihr Zimmer hereinkroch, sich immer dichter um die Möbel hüllte und den Boden und die Wände überzog. Erst als Apolonia ein leises Trappeln auf dem Teppich hörte, richtete sie sich auf. Aus einem Loch in der stuckverzierten Wand waren drei Ratten geschlüpft und hoppelten auf sie zu. Vor dem Bett blieben sie stehen, stellten sich auf die Hinterbeine und quiekten zu ihr empor. Sie grüßten sie mit dem Bild der Königin, die auf der Weltkugel tanzt.

Apolonia lächelte matt, als sie die Bitte der Ratten verstand. „Also gut“, murmelte sie, stand auf und hob ihre Geige auf. Die drei Ratten tummelten sich aufgeregt um ihre Füße. Apolonia begann zu spielen. Sie spielte eine schnelle, lustige Melodie, die sie eigentlich nicht besonders mochte – aber die Ratten liebten sie.

Eine Weile lauschten sie ihr mit zitternden Schnuten. Dann, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, begannen sie durcheinanderzuspringen. Sie tanzten.

Apolonia lächelte breiter. Schneller ließ sie den Bogen über die Saiten gleiten, entlockte dem Instrument seine schönsten Klänge. Angezogen von der Musik, kletterten erst zwei, dann vier weitere Ratten durch das Loch in der Wand. Andächtig lauschten sie Apolonias Melodie, sprangen um ihre Füße und quiekten; wie Lachen klang es, wie Kichern. Die Ratten umtanzten Apolonia und sie drehte sich in ihrer Mitte, getragen von der Musik, getragen von der kleinen, großen Freude rings um sie …

Apolonia drehte sich und ihr Blick streifte das Fenster. Draußen, auf ihrem Fensterbrett, saß jemand. Ein Mensch.

Vor Schreck ließ Apolonia den Bogen fallen. Die Gestalt vor ihrem Fenster war augenblicklich verschwunden. Nur der Regen kroch über die Glasscheibe.

Die Ratten fiepten erschrocken auf, als der Geigenbogen einer von ihnen auf den Schwanz fiel. Apolonia schaute verwirrt zu ihnen herab, da erklang draußen ein lang gezogenes Jaulen und die Ratten ergriffen alarmiert die Flucht. Wenn es etwas gab, wovor sie sich fürchteten, dann war es der schwarze Bernhardinermischling, der hin und wieder bei Apolonia schlief. Apolonia sah ihnen einen Moment lang nach, wie sie eine nach der anderen durchs Loch in der Wand schlüpften. Dann lief sie ans Fenster und blickte hinaus.

Unten auf der Straße saß ein braunscheckiger Hund im Regen. Die Bäume des Parks glänzten eisengrau und blattlos und von der nächsten Straßenlaterne troff ein Wasserstrahl. Keine Gestalt. Die Straßen waren menschenleer.

Hatte sie sich den Schatten vor dem Fenster eingebildet? Dabei hätte sie schwören können, etwas gesehen zu haben … Ein neuerliches Jaulen riss sie aus ihren Gedanken. Der Hund auf der Straße schüttelte sich, dass silberne Wassertropfen aus seinem Fell spritzten.

Apolonia warf sich einen breiten Schal um die Schultern, dann lief sie aus ihrem Zimmer Richtung Dienstbotenausgang, um Hunger hineinzuholen. Bestimmt hatte er wieder ein Dutzend Zecken. Und – wie immer – Hunger.

 

Der braunscheckige Hunger machte es sich in Apolonias Bett gemütlich, nachdem er eine doppelte Portion Gulasch verdrückt hatte. Trude war überaus erfreut gewesen, als Apolonia sie um das Gulasch gebeten hatte, denn normalerweise wollte Apolonia kein Fleisch essen. Sie aß auch gar keins – jedes Mal, wenn sie Trude ein Fleischgericht bringen ließ, war es für einen ihrer tierischen Gäste gedacht.

Hunger streckte genüsslich alle vier Pfoten von sich und vergrub die Schnauze in den Kissen. Apolonia hatte ihm bereits alle Zecken entfernt und das Fell gekämmt und er fühlte sich so erfrischt und wohl wie lange nicht mehr.

Rutsch mal, sagte Apolonia. Hunger machte ihr Platz und legte anschließend den Kopf auf ihren Arm. Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Es war eine stockfinstere Nacht und so kalt, dass Frost die Straßenlaternen und Bäume überzog. Hund und Mädchen kuschelten sich tief in die Decken. Es war ganz dunkel, nur die Glut, die im Kamin glühte, tauchte das Zimmer in sanftes Licht. Apolonia döste ein …

Sie träumte, dass sie wieder klein war. Sie strich durch die langen Flure der Buchhandlung, umgeben von Wandregalen, und fand ihren Vater bei den Klassikern stehen, mit der Lesebrille in der Hand, die ersten und letzten Seiten der Bücher überfliegend. Er legte einen Arm um sie, mehr stolz als liebevoll.

„Geschichten sind die Essenz des Lebens, Apolonia“, sagte er, so ernst wie immer, und sie hatte das Gefühl, dass es auf der ganzen Welt keinen gescheiteren Menschen gab. „Menschen kommen und gehen. Aber Geschichten überdauern die Zeit, denn sie sind hier in den Büchern, sie sind wie Schätze eingeschlossen und leben ewig. Du, Apolonia, wirst all das hier erben und nach mir die Bücher kaufen, verkaufen und lieben, die die ganze Schönheit der Welt in sich tragen.“

„Ja“, sagte Apolonia. „Das will ich tun, Vater.“

 

Die Königin, die auf der Welt tanzt!

Das Bild kam immer wieder, grell und leuchtend. Apolonia fuhr aus dem Schlaf, als hätte jemand ihren Namen geschrien. Hunger saß aufrecht im Bett und winselte leise.

„Was ist denn?“, flüsterte sie müde.

Das Haus. Es ist dunkel und still. Tauben und Kutschenrattern in den verlassenen Korridoren.

„Was?“ Apolonia blinzelte.

Wer ist Tauben und Kutschenrattern? Ein Hund?

Hunger wackelte ungeduldig mit den Ohren.

Das Bild von einem Menschenjungen. Er steht an der Straßenecke im Regen und sieht Hunger an. Er stellt sich vor als Tauben und Kutschenrattern.

„Was?“ Apolonia war plötzlich hellwach. Sie richtete sich auf und starrte Hunger an.

Ein Menschenjunge? Wie konnte er sich vorstellen?

Wie du.

„Wie … ich?“ Apolonia spürte ihr Herz bis zum Hals klopfen. Das war unmöglich! Niemand konnte wie sie mit Tieren …

Er hat sich vorgestellt mit den Bildern von Tauben und Kutschenrädern?

Nein … mit den Geräuschen.

„Den Geräuschen … er hat versucht, seinen Namen zu erklären. Seinen menschlichen Namen.“ Apolonia schlug die Decke zurück, stand auf und fasste sich an den Kopf. Tausend Gedanken bestürmten sie auf einmal.

Jemand hatte mit Hunger gesprochen. Ein Junge. Er war fähig gewesen, Hunger seinen Namen mitzuteilen, wenn auch ungeschickt – schließlich gab es bei Tieren keine Klangnamen, nur Bilder. Und dieser Junge war im Haus.

Apolonia fuhr zu Hunger herum.

Der Junge ist hier?

Hunger witterte die Luft. Ja.

Ein Einbrecher! Ob es etwas mit ihrem Onkel zu tun hatte? Oder – ihrem Vater? Apolonia wurde ganz flau zumute.

Zeig mir wo!

Apolonia schlüpfte in einen Morgenmantel und Pantoffeln, zündete die Öllampe auf ihrem Nachtschrank an und verließ mit dem Licht das Zimmer. Hunger lief ihr hinterher.

Die Korridore lagen in tiefer Dunkelheit. Die Lampe malte einen matten Lichtkreis um sie, doch alles, was eine Armeslänge von ihr entfernt war, blieb ihrem Blick verborgen. Hunger schnupperte über den Teppich.

Der Lampenschein glitt über die Gemälde hinweg, die die Wände schmückten. Ein Dutzend gemalter Augen folgten Apolonia, als sie an ihnen vorbeilief. Sie glaubte in jedem Zimmer, an dem sie vorbeikam, unheimliche Schatten wahrzunehmen, aber das Haus schwieg wie ein Grab.

Jemand war hier. Ein Einbrecher, hier.

Und doch lag Apolonia nichts ferner, als Hilfe zu holen. Wer auch immer ins Haus eingedrungen war, hatte sich Hunger vorstellen können. Er war nicht mit den Absichten eines gewöhnlichen Diebes gekommen.

Hunger blieb unschlüssig stehen. Sein Geruch ist hier zu schwach … vielleicht ist er schon weg.

Streng dich an!, flehte sie. Weißt du, wie er hereingekommen ist?

Warte … er war gerade ganz nah!

Apolonia fuhr erschrocken herum. Da, gedämpft durch die Wände, hörte sie Schritte. Ihr Puls raste.

Hier!

Hunger lief auf die nächste Tür zu, Apolonia folgte ihm. Sie rannten durch den dunklen Raum bis zur gegenüberliegenden Tür, Apolonia schob sie auf und sie durchhasteten den langen Flur. Am Ende des Flurs huschte ein Schatten vorbei. Ihr wurde schlecht vor Aufregung. Sie hob ihr Nachthemd an, um nicht zu stolpern, und rannte so schnell sie konnte.

Sie bogen um die Ecke, liefen an Fenstern und Treppen vorbei, liefen durch das finstere Haus.

Wo ist er hin?, rief sie Hunger zu. Ein Schauder glitt ihr über den Rücken, als sie erkannte, dass sie zu ihrem Zimmer zurückliefen. In der Ferne knarrte etwas.

Im tanzenden Lampenschein tauchte endlich die Tür zu ihrem Zimmer auf. Sie war weit aufgerissen.

Apolonia blieb wie versteinert stehen. Eisiger Nachtwind blies ins Zimmer und ließ die Bettvorhänge tanzen. Das Licht ihrer Lampe glitt über einen Jungen, der am Fenster stand. Er hatte sich tief hinausgebeugt und drehte sich hastig um, als er das Licht bemerkte. Er trug ein dunkelgrünes, etwas zu großes Jackett.

Der Lieferjunge.

„Stehen bleiben!“, rief Apolonia.

Hunger rannte auf den Jungen zu. Der Junge öffnete den Mund. Plötzlich flog die Bettdecke hoch. Der Stoff schoss durchs Zimmer, blähte sich auf wie ein Fallschirm und fiel über Hunger. Ein klägliches Jaulen drang durch die Decke, als sich der Hund darin verfing; der Junge war inzwischen aus dem Fenster geklettert.

Apolonia sprintete los. Sie warf die Lampe mehr oder weniger auf ihren Tisch und packte die nächstbeste Waffe, die sie finden konnte: eine lange Pinzette, mit der sie Hunger von seinen Zecken befreit hatte. Dann war sie am Fenster angekommen und beugte sich hinaus. Zu ihrem Erstaunen war ein langes schwarzes Seil am Fenster befestigt, das bis hinunter zur Straße hing. Dort stand der Junge im Schein der Straßenlaterne. Er blickte zu ihr auf. Dann lief er davon.

Ich kann hier nicht runter, sagte Hunger hinter Apolonia, der sich endlich aus der Decke befreit hatte.

Lauf durch den Hinterausgang, dann folge meiner Spur, so schnell du kannst!

Apolonia holte tief Luft. Dann schwang sie die Beine aus dem Fenster, packte das Seil und hangelte sich hinab.

Der Wind drang durch ihre Kleider und ließ sie frösteln – dabei zitterte sie schon vor Schwindel und Angst. Ihr Zimmer befand sich im dritten Stock.

Ihre Füße rutschten und sie glitt die letzten zwei Meter am Seil hinab. Ihre Handflächen brannten. Dann stieß sie mit dem Rücken gegen die Wand und landete auf den Füßen.

Einen Moment lang war sie unfähig, sich zu bewegen. Dann verebbte allmählich das weiche Beben in ihren Gliedern und Apolonia taumelte los.

Am Ende der Straße stand der Junge. Als er sie sah, lief er davon.

„Bleib stehen!“ Ihre Stimme hallte unheimlich durch die Nacht.

Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Apolonia bog in die nächste Straße und sah, wie der Einbrecher in einem Hauseingang verschwand. Er saß in der Falle!

Apolonia keuchte. Die Pinzette in ihrer Hand fühlte sich rutschig und heiß an. Vor dem Hauseingang blieb sie stehen, dann hob sie die Pinzette wie ein Messer und stieß die Tür auf. Sie war nur angelehnt. Mit einem sanften Luftzug glitt sie nach innen auf.

Apolonia trat ein. Finsternis empfing sie, nur durch die Glasscheiben in der Tür drang Licht und umhauchte die Treppen, die nach oben und unten führten. Ihr Atem leuchtete in der Kälte.

Plötzlich packte sie jemand von hinten.

„Dieb–“

Eine Hand presste sich auf ihren Mund und erstickte den Schrei. Der Junge riss ihr die Pinzette aus der Faust. Er lächelte, ganz nah an ihrem Ohr. „Ist es wirklich Diebstahl, wenn die Beute einem freiwillig folgt?“