Eine Nacht im Treppenhaus

 

 

Die Pinzette fiel klirrend zu Boden.

„Nicht schreien“, mahnte der Junge hinter ihr. „Nicht schreien … Ich will dir nichts tun. Verstanden?“

Vorsichtig löste sich die Hand von ihrem Mund und glitt zu ihrem Hals hinab. Apolonia rang nach Atem.

„Ich weiß es“, japste sie. „Ich weiß, wer du bist! Du bist nicht nur Mone Flamms Lieferbote.“

„Flamm – woher …“ Der Junge hielt lächelnd inne. „Und du bist nicht nur Spiegelgolds Nichte, sondern auch eine neugierige Schnüfflerin, die anderer Leute Gespräche belauscht.“

„Lass mich los!“ Als sie mit dem Fuß ausholte, um nach ihm zu treten, wich er geschmeidig zur Seite und ließ von ihr ab. Einen Moment konnte Apolonia ihn in der Dunkelheit nicht sehen. Dann tauchte sein Gesicht im blassen Mondlicht auf. Ein Grinsen malte ihm zarte Grübchen.

Apolonia ballte die Fäuste. „Jetzt hast du verloren. Du hast dich gleich zweimal verraten, erst mit dem Fenster und jetzt mit der Decke. Motte! Oder sollte ich dich besser Tauben und Kutschenrattern nennen?“

Die Augen des Jungen flackerten. „Das weißt du von dem Hund, nicht wahr? Du kannst wirklich mit Tieren sprechen!“

Seine Worte trafen Apolonia wie ein Schwall Eiswasser. Sie blinzelte, dann stampfte sie fest mit dem Fuß auf. „Schweig! Du bist festgenommen!“

Der Junge kratzte sich am Nacken. „So, und weshalb? Hausfriedensbruch? Ich würde wetten, dass dein Onkel lieber geheim hält, wer alles in seinem Haus rumspaziert.“

„Du bist festgenommen wegen Mitgliedschaft in einem verschwörerischen Geheimbund, dem organisiertes Verbrechen, Brandstiftung und Mord zur Last gelegt werden!“

Der Junge lächelte. „Das musst du mir aufschreiben, so viel kann ich mir nicht merken.“

Apolonia spürte, wie Zorn in ihr aufflammte. Blitzschnell schnappte sie die Pinzette vom Boden.

„Was, willst du mir vielleicht die Augenbrauen zupfen?“ Der Junge kam lässig auf sie zu – als plötzlich die Tür aufschwang und ihn von den Füßen fegte. Mit einem schmerzerfüllten Laut fiel er, landete auf den Stufen der Treppe und kugelte in die Dunkelheit. Apolonia schnappte nach Luft.

Komm ich zu spät? Verdutzt lauschte Hunger dem Poltern des stürzenden Jungen.

 

Benommen öffnete er die Augen. Noch bevor er Apolonia und ihre Begleiter erkennen konnte, erklang das tiefe, grollende Knurren eines Hundes.

„Vorsicht. Eine falsche Bewegung und Buttermaus beißt dir den Kopf ab.“ Apolonia saß mit gekreuzten Beinen vor ihm. Umgeben von einem Dutzend Tiere.

Blinzelnd blickte der Junge sich um. Neben dem großen Bernhardinermischling hockten Hunger und drei zerzauste Straßenkatzen; auf Apolonias anderer Seite schmiegten sich vier Marder aneinander. Zwei stattliche, pechschwarze Krähen saßen auf ihren Schultern und beäugten den erwachenden Jungen aus scharfen Murmelaugen. Stöhnend rieb er sich die schmerzende Schulter, woraufhin der Bernhardiner erneut markerschütternd knurrte.

„Ich habe dir bereits gesagt, dass du aufpassen sollst. Buttermaus kann schnelle Bewegungen nicht leiden“, sagte Apolonia. Wie zur Bestätigung legten beide Krähen die Köpfe schief.

„Buttermaus, hm?“, murmelte der Junge. Langsam setzte er sich auf und fuhr sich so beiläufig wie möglich durch die dunkelblonden Haare. „Treffender Name für so ’n süßen Fratz.“

Apolonia machte ein verkniffenes Gesicht. „Jemand, der Tauben und Kutschenrattern heißt, ist wohl kaum berechtigt, darüber zu urteilen.“

Der Junge lächelte, bis Apolonia ihn barsch unterbrach: „Wer hat gesagt, dass du Grinsepeter spielen darfst? Dies ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt, um zu kichern, Tigwid!“

„Tigwid?“

„So heißt du doch. Wie soll Tauben und Kutschenrattern denn sonst klingen? Oder heißt du vielleicht Gurr-Ratter?“

Der Junge grinste verwundert. „O Gott. Das ist … Also, ja, nenn mich Tigwid, ich heiße Tigwid, in Ordnung?“ Er hob beschwichtigend die Hände, als Apolonia ihn anfunkelte.

„Ich finde es nicht lustig, sondern bemitleidenswert, wie schlecht du deinen Namen für die Tiere übersetzt hast.“

„Du hast ihn nur falsch ausgesprochen. Wenn ich mich vorstellen darf: TIG-wid, nicht Tig-WÜDD. Aber scheu dich nicht, mich Tig zu nennen.“

„Ich scheue mich nicht, dich irgendwie zu nennen.“

Der Junge runzelte eine Augenbraue. Er hatte sehr bewegliche, dunkle Augenbrauen, die sich in allen Varianten verziehen konnten. „Ich glaube, wir haben falsch angefangen. Tut mir leid, dass ich dich vorher so erschreckt habe – aber ich musste dich hierher locken, um zu testen, ob du es wirklich kannst. Und du kannst es wirklich. Du kannst mit ihnen sprechen, ich wusste –“

„Hör auf mit dem Geplapper! Du verstehst wohl nicht ganz, in welcher Situation du dich befindest!“

Tigwid rieb sich den Hinterkopf. „Man könnte meinen, nicht ich, sondern du wärst mit dem Schädel gegen sämtliche Stufen geknallt, so stinkig wie du bist. Ich wollte mich ja bloß vorstell–“

„Hör mir genau zu, denn ich wiederhole es nicht noch einmal, auch wenn du anscheinend für gewöhnlich einen Trottelbonus genießt: Du bist festgenommen! Aber ich schlage dir ein Tauschgeschäft vor, von dem wir beide profitieren können – vor allem du. Ich werde dich nicht der Polizei ausliefern, denn an Kleinganoven bin ich nicht interessiert. Allerdings tue ich das aus reiner Großzügigkeit. Und als Gegenleistung verrätst du mir, wo der Treffpunkt der Motten ist.“

Tigwid sah sie eine Weile an, als würde er kein Wort verstehen. Ein ungeduldiges Schnabelschnappen von einer der Krähen reichte allerdings, um ihn zum Sprechen zu bewegen.

„Apolonia – so heißt du doch – fragst du dich eigentlich gar nicht, was ich überhaupt im Haus deines Onkels wollte?“

Apolonia war ganz perplex über diese irrelevante Frage. „Ich weiß natürlich, dass du mich ausspionieren wolltest, um zu prüfen, ob ich für dich und deine Mottenfreunde gefährlich bin und aus dem Weg geräumt werden muss!“

„Was?“ Der Junge wurde sofort wieder leiser, als der Bernhardiner die Lefzen hochzog. „Ich wollte niemanden ausspionieren, schon gar nicht für irgendwelche Motten. Ich … habe nur nach dir gesucht.“

Apolonia rieb sich die Schläfe. Dieses Gespräch lief in eine vollkommen verkehrte Richtung.

„Mir ist egal, wen oder was du gesucht hast oder warum du in unserem Haus warst – deine Antworten sind unwichtig, denn ich kenne die Wahrheit so oder so! Und wenn du nicht willst, dass ich die Polizei rufe, tust du, was ich verlange!“

„Was willst du der Polizei denn erzählen?“, erwiderte er und stützte die Arme auf die Knie. „Dein Onkel wird gar nicht erfreut sein, wenn rauskommt, dass ich in seinem Haus war. Und abgesehen davon: Ich arbeite für Mone Flamm. Er hat Kontakte zur Polizei, wenn du verstehst … Keiner von Flamms Männern wird eingelocht.“

„Ich glaube aber“, sagte Apolonia finster, „meinen Freunden hier ist ziemlich gleichgültig, für wen du arbeitest, und dieser Mone Flamm interessiert sie kein Fünkchen.“

Tigwid ließ seinen Blick über die Reihe der Tiere gleiten. Alle Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Schluckend beobachtete er, wie eine der Katzen ihre Krallen ein- und ausfuhr.

„Du siehst also, du hast keine andere Wahl. Du weißt, wo die Motten sich treffen und wo man sie findet. Also bring mich zu ihnen, wenn dir dein Leben lieb ist.“

„Woher zum Henker soll ich denn wissen, wo die sich treffen?“

„Weil du eine Motte bist!“, rief Apolonia wütend.

„Du auch.“

„Wie kannst du es wagen, mich so dreist zu beschuldigen!“ Apolonia ballte die Fäuste. „Ich hasse Motten! Und ich werde sie enttarnen, damit die ganze Welt erfährt, wer sie sind!“

Der Junge schien nicht zu begreifen. „Aber du kannst mit Tieren sprechen. Du bist –“

„Schluss jetzt!“ Apolonia sprang auf. Die beiden Krähen flatterten erschrocken mit den Flügeln und verhedderten sich in ihren Haaren; dann hatten sie sich einigermaßen beruhigt und Apolonia zupfte sich mit funkelndem Blick eine Feder aus dem Nasenloch, um ihre Autorität wiederherzustellen. „Entweder du gehst auf mein Angebot ein oder …“

Der Junge stand ebenfalls auf. Stolz zog er sich die Ärmel zurecht und ignorierte dabei das drohende Keifen der Marder.

„Das ist irgendwie überhaupt nicht, wie ich es mir vorgestellt habe“, murmelte er. „Also. Eigentlich sollte es so laufen: Ich erzähle dir, warum ich noch mal zurückgekommen bin. Na gut, zugegeben gehe ich hin und wieder in Häuser zurück, in die ich eine Lieferung gebracht habe, um … ein paar Souvenirs mitzunehmen. Aber heute Nacht war das anders. Ich wollte eigentlich nachsehen, ob du wirklich mit dem Hund sprechen kannst, und dann wollte ich mit dir gemütlich in deinem Zimmer über einige Dinge plaudern. Dann bist du mir schon im Flur über den Weg gelaufen, bevor ich überhaupt dein Zimmer gefunden hatte. Ich dachte, du wärst irgendein Dienstmädchen, und bin weggelaufen – und dann habe ich gesehen, dass dein Zimmer leer war und du mich durchs halbe Haus gehetzt hast. Weil du so wütend warst und mich fälschlicherweise für einen Einbrecher gehalten hast, dachte ich, es wäre das Beste, wenn wir unser Pläuschen an die frische Luft verlegen. Und plötzlich kommst du mir mit Drohungen und der Polizei.“

„Ich sagte dir schon, es interessiert mich nicht, was du vorhattest, mich interessiert nur, wo die anderen Motten sind –“

„– genau wegen den Motten hab ich dich ja gesucht!“ Er hatte rufen müssen, um Apolonia zu übertönen. „Du hast recht, ich habe diese Sache – diese Gabe, ja! Wenn du willst, kannst du mich eine Motte nennen, aber bitte nur, wenn wir alleine sind. Du bist die Einzige, die es weiß, verstehst du? Du und noch eine Person, die es sozusagen zufällig herausgefunden hat. Gezeigt habe ich es aber nur dir.“ Er holte tief Luft. „Und der Grund, weshalb ich es dir gezeigt habe – warum ich das Fenster aufgerissen und die Decke über deinen Hund geworfen habe –, der Grund ist, dass ich glaube, du … Ich suche etwas. Jemanden.“

Apolonia trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf ihren Arm. „Hast du schon erwähnt, falls es dir entfallen ist.“

„Du hast mich ja nicht ausreden lassen.“ Er richtete sich feierlich auf und versuchte eine gelassene, vertrauenswürdige Miene aufzusetzen, was angesichts mehrerer Dutzend Krallen, Reißzähne und spitzer Schnäbel nicht gerade leicht war. „Ich glaube, wir beide haben dasselbe Ziel. Unsere Verständigung stimmt bloß nicht ganz. Was durchaus an deiner Drohung liegen könnte, mich zerfleischen zu lassen.“

„Oder daran, dass du in mein Haus eingebrochen bist!“

Tigwid nickte. „Ich bin aber bloß wegen dir eingebrochen.“ Er setzte sich wieder und kreuzte die Beine. Nach kurzem Zögern ließ Apolonia sich ebenfalls nieder. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust.

„Oh, ist dir kalt?“ Der Junge lupfte fragend an seinem Jackett, doch die beiden Krähen hüpften bereits von ihrer Schulter und ein Marder schmiegte sich um ihren Nacken. Es sah aus, als würde sie eine üppige Pelzstola mit zwei Augen und Zähnen tragen. Hunger ließ sich auf ihren Schoß sinken und sie legte ihre Hände auf seinen Rücken.

„Ähm … jedenfalls bin ich eingebrochen, weil ich sehen wollte, ob du es wirklich kannst – mit Tieren sprechen, meine ich. Mir wurde nämlich eine Prophezeiung gemacht.“

„Du glaubst also an Prophezeiungen.“

Der Junge lächelte bemüht. „Nur, wenn sie von einer Motte kommen.“

Ein eisiges Glitzern erschien in Apolonias Augen. Also hatte der Junge doch Kontakt zu anderen Motten, sie hatte es doch gewusst! „Erzähl weiter.“

„Die Prophezeiung besagt, dass ich ein Mädchen finden muss, das Ratten tanzen lässt und – jedenfalls wird mich dieses Mädchen zu der Antwort auf meine sehnlichste Frage führen.“

„Und die wäre?“

Tigwid beugte sich näher zu ihr vor, als könne sie jemand belauschen. „Ich kann einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken: Woher kommen unsere Gaben? Ich meine – wieso können wir diese Dinge und andere nicht? Was bedeuten sie? Und vor allem, wie funktionieren sie? Einen Gegenstand bewegen, ohne ihn zu berühren, müsste doch unmöglich sein – schließlich braucht es doch irgendeine Kraft, eine physische, reale Kraft!“, flüsterte er, und seine Augen leuchteten. „Hast du nie darüber nachgedacht?“

Apolonia zog betont gelangweilt die Nase hoch. „Das ist das Dümmste, was ich lange gehört habe. Stellst du dir vielleicht auch häufiger die Frage, warum du blond bist?“

„Nein“, erwiderte er trocken. „Darauf gibt es eine Antwort. Meine Mutter oder mein Vater muss blond gewesen sein. Aber was ist mit den Mottengaben? Erben wir die auch von unseren Eltern?“

Apolonia sagte nichts, weil sie für einen Augenblick wirklich darüber nachdachte. Schließlich schüttelte sie ungeduldig den Kopf. „Das ist doch wirklich egal! Mich interessiert nicht, woher diese verfluchten Motten ihre Gaben haben!“

„Meinst du nicht, dass es teuflische Gaben sein könnten, wenn du die Motten so hasst?“ Ein nachdenkliches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Wer weiß. Vielleicht sind diese Fähigkeiten wirklich etwas Böses. Ich habe nämlich noch nie von jemandem gehört, der solche Fähigkeiten gut fand. Mit Tieren sprechen, Gegenstände bewegen, die Gedanken anderer hören, von der Zukunft träumen – das macht den meisten Menschen doch Angst. Darüber erzählen die Bettelweiber in der Stadt ihre Schauermärchen. Vielleicht ist wirklich etwas Schlechtes, etwas Unmenschliches in uns … Wieso hasst du die Motten überhaupt – doch nur wegen ihrer Gaben ...“

„Sie sind kaltblütige Mörder“, presste sie hervor. „Und mir ist egal, warum sie ihre Gaben haben und ob die Gaben gut sind oder nicht. Die Menschen mit diesen Gaben sind schlecht.“

Tigwid blickte die Treppe hinauf. Dünnes Morgenlicht schimmerte auf den Stufen. „Nein. Das stimmt nicht. Ich habe Mottengaben – zugegeben bin ich ziemlich talentlos, aber immerhin hab ich sie – und ich bin trotzdem kein schlechter Mensch. Na gut, hin und wieder lass ich mal was mitgehen, aber hier eine Golduhr, da eine Kette, das entscheidet doch nicht über meine Menschlichkeit, oder? Glaub mir, verglichen mit vielen Leuten, die ich kenne, bin ich wirklich harmlos. Na schön, ich bin nicht unbedingt ein Held. Mut und Frömmigkeit und so was ist nicht mein Ding, ehrlich gesagt hau ich immer ab, wenn’s wirklich brenzlig wird, aber …“

Apolonia massierte sich die Stirn. „Herrgott, muss ich jetzt der Beichtvater von einem dahergelaufenen Dieb sein!“

„Ich sag ja bloß, dass diese Gaben, woher sie auch kommen, was sie auch bedeuten mögen, niemandem zu einem schlechten Menschen machen. Ich verstehe nicht, wieso du sie hasst.“

„Ich hasse eine bestimmte Gemeinschaft von Motten. Eine gewalttätige Vereinigung von Terroristen! Und soviel ich weiß, gehören alle Motten dieser Vereinigung an.“

„Also, ich hab noch nie was davon gehört. Und du bist ja auch nicht in dieser Vereinigung, oder?“

„Ich bin ja auch keine – du weißt schon!“

„Doch. Genau das bist du.“ Tigwid lehnte sich vor. „Und deshalb sitze ich hier vor dir und erzähle dir von meiner Prophezeiung.“

„Nein. Du sitzt hier, weil du in meiner Gewalt bist, Motte.“

Zum ersten Mal erwiderte er ihren Blick fest und ernst. „Ich bin in niemandes Gewalt. Ich bin ein Bote Mone Flamms. Kein Schloss, keine Tür, kein Fenster kann mich aufhalten. Und du auch nicht. Und du musst es auch nicht versuchen. Du sollst mit mir kommen, Apolonia! Es gibt … ein Buch. Ein Buch der Antworten. Alles, was man über Motten und ihre Gaben wissen kann, steht darin. Weißt du, was das bedeutet? Nicht nur ich finde die Lösung, sondern auch du! Überlege es dir – alle Geheimnisse der Motten stehen in diesem Buch. Wer sie sind, warum sie ihre Gaben haben, wo sie sich aufhalten … Alles in einem einzigen Buch. Und ich weiß, wo es ist.“

Apolonia betrachtete ihn unbewegt. „Wozu brauchst du dann mich?“

Tigwid zuckte mit den Schultern. „Ich kann nicht lesen, hab’s nie gelernt. Außerdem kann nicht jeder dieses Buch lesen – nur bestimmte Leute. Mir wurde prophezeit, dass ein Mädchen mir die Antworten liefern wird, nach denen ich suche. Ein Mädchen wie du.“

„Und wo soll dieses Buch sein?“, fragte Apolonia misstrauisch.

„Es ist am sichersten Ort der Stadt. Eck Jargo.“

Eck Jargo!“ Sie riss die Augen auf. Natürlich hatte sie von der berühmten Räuberhöhle gehört. Seit Jahren suchte die Polizei schon vergebens nach dem Versteck. Und nicht nur Verbrecher waren da, sondern auch Verschwörer und … und terroristische Geheimbünde. Wenn es wirklich ein Buch der Antworten gab, wie der Junge sagte … dann war es doch gewiss in Besitz der Motten selbst …

„Woher weißt du, wo Eck Jargo ist?“ Apolonia bemühte sich, unbeeindruckt zu klingen, doch es glückte ihr nicht.

Der Junge stand auf und strich sich sein Jackett glatt. Dann reichte er Apolonia eine Hand, aber sie erhob sich, ohne seine Hilfe anzunehmen, und Tigwid zog die Hand unauffällig zurück.

„Ich sagte doch, dass ich ein Lieferjunge von Mone Flamm bin. Ich habe meine Kontakte. Also, kommst du mit? Ich …bitte dich.“ Tigwid lächelte betont liebenswürdig, doch das konnte nicht über das flehentliche Flackern in seinen Augen hinwegtäuschen. Oder war das auch beabsichtigt?

Apolonia starrte ihn eine Weile an. Eck Jargo, Grundgütiger! Sollte sie diejenige sein, die das unauffindbare, das unsichtbare Wirtshaus Eck Jargo endlich …

„Na schön. Ich komme mit.“ Und mühevoll fügte sie hinzu: „Aus purer Hilfsbereitschaft, verstanden?“