Im Polizeipräsidium begann der Tag wie jeder andere: nämlich hektisch. Der erste Schneefall tat sein Übriges, und schon früh am Morgen tummelten sich in den langen Gängen und auf den breiten Treppen die ersten Streithähne, die in einen Straßenunfall verwickelt waren. In den unteren Stockwerken hatten sich bereits lange Schlangen vor den Büros gebildet; zerlumpte Trunkenbolde, die kaum aufrecht stehen konnten, fein gekleidete Herren mit blutenden Nasen und grell geschminkte Damen drängten sich in kleinen Wartezimmern und engen Korridoren zusammen, und wann immer ein Beamter vorbeikam, donnerte es: „Rauchen ist im Gebäude nicht gestattet!“
Weiter oben, im fünften Stock, war es wesentlich ruhiger. Der Lärm hing verzerrt in der kühlen Luft, dafür hallten die Schritte umso lauter in den Gängen wider, denn die Decken waren hoch. Hier hatte der Inspektor sein Büro.
Bassar steckte sich eine Zigarette in den Mund und blies den Rauch gegen die Glasscheibe. Es war ein großes Fenster, durch das zu jeder Tageszeit Licht fiel. Das Büro des Inspektors war geräumig, aber kahl. Die Mitte des Raumes wurde von einem wuchtigen Schreibtisch eingenommen, dahinter zog sich ein langes Regal hoch. An der gegenüberliegenden Wand standen zwei Stühle – mehr Möbel gab es nicht. Dafür lagerten überall Akten, Briefe, Berichte, Ordner und Gerichtsbücher, unter anderem ließ sich auch hier und dort ein Beweisstück finden: Über einer Stuhllehne hing ein uraltes Toupet, das sich im Gerichtsprozess als unwichtig erwiesen hatte. Seitdem staubte es unbeachtet vor sich hin.
Bassar nahm einen zweiten Zug. Eigentlich mochte er Zigaretten nicht, sie kamen ihm unfein vor, auch wenn er das so nie zugegeben hätte. Aber im langen Umgang mit Halunken und Verbrechern, während endloser Beschattungen in kalten Nächten und Aufenthalten in schummrigen Tavernen hatte Bassar ganz instinktiv mit der Qualmerei angefangen.
Draußen versank die Stadt in einem flimmernden Schneegestöber. Kirchtürme, Hausdächer, alles war längst weiß; auch das protzige Parlamentsgebäude weiter entfernt, das Bassar mit den breiten Marmorsäulen wie ein Maul angrinste, trug bereits einen dicken Schneepelz.
Bassar sah auch sein eigenes Spiegelbild in der Fensterscheibe. Er sah älter aus, als ihm lieb war. Sein Mund war schmaler geworden, die Tränensäcke schwerer, und seine Nase kam ihm knubbeliger vor. Er blies den Rauch gegen das Glas und sein Gesicht verschwand. Schon besser.
Ein zaghaftes Klopfen kam von der Tür. Bassar drehte sich um, die Zigarette in den Mundwinkel geklemmt. „Ja, herein.“
Eine pummelige alte Frau trat ein. Sie hielt das runde Krötengesicht ängstlich gesenkt und blickte Bassar aus großen Augen an. „Herr Inspektor? Cornelius Bassar?“
Er runzelte leicht die Stirn. Es kam nicht oft vor, dass jemand seinen Vornamen nannte. „Ja, der bin ich. Kommen Sie herein. Was gibt es?“
„Mein Name ist Trude Gremchen“, lispelte die Frau. Vorsichtig schloss sie die Tür, blieb aber auf der Schwelle stehen. „Man schickt mich wegen …“ Sie drehte sich halb um sich selbst, um in ihre Rocktasche greifen zu können, und zog einen Brief hervor. „Das ist für Sie, Herr Inspektor.“
Bassar kam auf sie zu und nahm den Brief entgegen. „Von wem?“
Die Frau faltete die Hände vor der Brust. „Ich glaube, das darf ich nicht sagen.“
Bassar warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. Da der Umschlag weder zugeklebt noch versiegelt war, öffnete er ihn gleich und entnahm ihm ein gefaltetes Papier. Er überflog die Zeilen und erstarrte. Er las den Brief ein zweites Mal.
„Wer hat das geschrieben?“
Die Frau ließ ein unruhiges Quieken vernehmen, dann wuselte sie herum und öffnete die Tür. „Ich weiß nichts von dem Inhalt, Herr Inspektor, aber es ist sehr wichtig, das weiß ich – sehr dringend, gewiss! Wer mich schickt, wird nur wahre Worte sprechen, das versichere ich Ihnen und jedem anderen!“
Bevor Bassar noch etwas erwidern konnte, zog die Frau die Tür hinter sich zu und war verschwunden. Draußen im Flur hörte er das eilige Klappern ihrer Schritte. Dann verhallte es und verschwamm mit dem gedämpften Lärm der tieferen Stockwerke.
Wieder las Bassar den Brief durch. Ein anonymer Absender … und am Ende ein Satz: Zweifeln Sie nicht an meinem Urteilsvermögen. Mit Hochachtung.
Er faltete das Papier wieder zu und trommelte eine Weile mit den Fingern darauf. Was sollte er tun? Die kleine Spiegelgold konnte das doch nicht ernst meinen!
Andererseits … Wenn er nicht jede Möglichkeit nutzte, würde er sich das nie verzeihen. Er konnte es sich nicht leisten, Hinweise unbeachtet zu lassen – nicht in diesem Fall. Nach kurzer Überlegung lief er zu seinem Schreibtisch zurück, griff nach dem Telefon und rief unten in der Zentrale an.
„Sondereinsatz. Ich brauche vierzig Mann. Den ganzen Vormittag. Vielleicht länger.“
„Wer kommt auf so eine Idee? Mal wirklich – wer kommt auf so einen Blödsinn? Das ist doch Irrsinn, eine Taube finden in diesem Schneefall! Ist das vielleicht irgendein riesengroßer Scherz? Nee, nicht mit mir!“ Fiz Soligo zog geräuschvoll die Nase hoch und spuckte in den Schnee. Das war typisch für den Kommissar. Er hielt, schon seit sie das Polizeipräsidium verlassen hatten, nicht die Klappe. Nur musste Bassar ihm diesmal leider Recht geben: Es war Irrsinn.
Er und Soligo und einige weitere Kommissare standen mitten auf dem Apollo-Platz und schauten in den weißen Himmel; an der nächsten Straßenecke parkten mehrere Dutzend Polizeiwagen.
Der Apollo-Platz war im Brief als Treffpunkt genannt worden. Offenbar, dachte Bassar mit einem leisen Schnauben, hatte die kleine Spiegelgold einen exzellenten Sinn für Humor. Sieben Meter hoch stand die Statue ihres göttlichen Namensverwandten vor ihnen und blickte aus steinernen Augen auf sie herab. Der Platz war gesäumt von Nachbildungen griechischer Tempel; an der Südseite stand das Museum für Völkerkunde, an der Nordseite das Museum für antike Kunst und an der Westseite thronte eine Pagode mit vergoldeten Turmspitzen. Nur zum Osten hin öffnete sich der Platz einer breiten Pflasterstraße.
„Ich kann nichts sehen. Nichts! Es gibt eine Millionen Stadttauben hier, woher sollen wir wissen, welche die richtige ist?“, schnatterte Fiz Soligo und drehte sich um sich selbst. Er besaß so ungefähr alles, was Bassar nicht ausstehen konnte: Arroganz, Ungeduld, Aggressivität und schmierige blonde Locken. Und das alles wurde noch überboten von Soligos unerträglicher, unerschöpflicher Sprücheklopferei. Selbst wenn die Welt unterginge, würde ihm noch irgendeine Abenteuerroman-Bemerkung einfallen. Ums Brötchenverdienen muss sich jetzt keiner mehr Sorgen machen. Bassar brummte. Dass er Soligo nachahmen konnte, war eindeutig ein Zeichen, dass er zu viel Zeit mit ihm verbrachte.
Ruhelos tigerte er auf und ab. Was, wenn die kleine Spiegelgold tatsächlich Unfug geschrieben hatte? Das wäre eine Blamage. Und ein totaler Reinfall, ein vergeudeter Vormittag – was ihn beinahe noch wütender machte als die persönliche Niederlage.
„Mir ist kalt“, quäkte Soligo und begann mit seinen langen Beinen hinter Bassar herzustaksen. „Wir bräuchten auch mal bessere Uniformen. Wenn ich Zivil trage, weiß ja niemand, dass ich von der Polizei bin.“
„Und das ist auch gut so“, schnauzte Bassar. Weil du eine verdammte Schande für uns bist, du Huhn. Aber er unterließ es, diesen Gedanken auszusprechen, steckte sich stattdessen eine Zigarette in den Mundwinkel und nahm seine Wanderung wieder auf. Soligo schwieg für den Augenblick.
„Ich frage mich, wer uns den Tipp geliefert hat“, schaltete sich eine Kommissarin namens Betty Mebb ein. Sie trug einen schlichten schwarzen Wollmantel über dem nachtblauen Polizeirock und hatte die Hände in den Taschen vergraben. Sie war eine von den wenigen Frauen, die ihre Haare kurz trugen: Glatt und grau wie Blei reichten sie ihr zum Kinn und schmiegten sich um ihr spitznasiges Gesicht wie ein Helm. „Womöglich will uns wirklich jemand zum Narren halten.“ Es klang nicht vorwurfsvoll oder tadelsüchtig – Mebb hatte einen monotonen Tonfall und bewegte kaum ihr Gesicht, was ihr die Autorität verlieh, die man in Soligos Gegenwart benötigte.
„Er ist ein anonymer Brief und wir müssen uns für alles bereit halten, das stimmt“, sagte Bassar ruhig. Er hatte niemandem erzählt, dass er den Absender an Schrift und Sprache sehr wohl erkannt hatte. „Allerdings bleibt uns nichts übrig, als dem Hinweis nachzugehen. Es zu finden … Es wirklich zu finden wäre der Preis für fast zwanzig Jahre harte Polizeiarbeit.“
Betty Mebb nickte und ein Lächeln zog über ihre Lippen. „Mit Eck Jargo würde das Herz der Unterwelt zu schlagen aufhören.“
„Und gleich hört mein Herz auf zu schlagen, wenn wir weiter in der Kälte stehen!“ Soligo starrte Mebb an, auf der Suche nach Anerkennung für seine geistreiche Bemerkung.
„Vielleicht wollen Sie lieber in einem Automobil warten, wenn Sie kalte Füße haben“, schlug Mebb vor.
„Und den großen Augenblick verpassen, wenn unsere Taube auftaucht? Aber wer würde Sie denn im Falle eines Hinterhalts decken, Betty?“
„Bitte unterlassen Sie es, mich während den Einsätzen bei meinem Vornahmen zu nennen.“
„Was, wo er doch so schön ist …“
Sie warf ihm einen blinzelnden Blick zu. „Hier geht es um Diskretion, Kommissar Soligo. Davon haben Sie gewiss schon mal gehört.“
„Wissen Sie“, erwiderte Soligo, „ich bin kein Mann der Diskretion, sondern der Tat. Ich entscheide schnell, ich entscheide hart, ich entscheide richtig. Bum! Und alles lotet sich aus. So was liegt im Blut, das kann man nicht lernen. Ich sag’s ja immer, man wird als Jäger geboren oder nicht …“
Mebbs dünne Nasenflügel blähten sich. „Erfreulich, dass Sie diese Erkenntnis hatten.“
„Tja, wissen Sie, ich hab noch einiges mehr als das …“
„Soligo!“ Wütend paffte Bassar ein paar Rauchwölkchen. „Das hier ist kein verdammter Ausflug und schon gar nicht der Zeitpunkt für lauschige Gespräche. Reißen Sie sich zusammen.“
Soligo blökte. „Hallo? Viel gibt es hier nicht, worauf ich mich konzentrieren könnte, oder soll ich die verdächtigen Schneeflöckchen im Auge behalten?“
„Das reicht. Gehen Sie zum Automobil zurück.“
„Aber –“
„Gehen Sie.“
„Ich –“
„Gehen Sie einfach.“
„Moment, ich –“
„Gehen Sie, verdammt, gehen Sie mir aus den Augen!“
„Das ist Wahnsinn!“ Hoheitsvoll riss Soligo sich seinen Mantel zurecht und streckte Bassar zwei Finger entgegen. „Zwei Worte: WAHN-SINN.“
„Das ist ein Wort“, bemerkte Mebb, glitt mit einer behandschuhten Hand in ihren Mantel und zog eine silberne Taschenuhr hervor. „Zwölf Uhr sechzehn. Wo bleibt die Taube?“
Bassar warf seinen Zigarettenstummel in den Schnee und trat fester und öfter drauf als nötig gewesen wäre. „Soligo, verschwinden Sie.“
„He – ich HAB’S verstanden. Keine Sorge. Hab’s kapiert!“
„Schön“, knurrte Bassar. Er hasste ihn. Am liebsten hätte er ihn sofort auf die Straße gesetzt. Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund war Soligo tatsächlich erfolgreich und hatte schon viele Übeltäter gefasst. Nur leider sich selbst noch nicht.
Gerade wandte Fiz Soligo sich grummelnd um, da erschien ein gräulicher Fleck über der Statue Apollos.
„Da!“ Ein untersetzter Kommissar deutete in den Himmel. „Eine Taube!“
Soligo fuhr herum. Er hatte seine Pistole schon gezogen und zielte auf den Vogel, der sich gurrend auf Apollos Arm niederließ und aufplusterte.
„Gut. Alles im Griff“, murmelte Soligo. Die Taube legte den Kopf schief und musterte den Menschenhaufen unter ihr eine Weile interessiert; dann spreizte sie die Flügel, segelte elegant über ihre Köpfe hinweg … und ließ etwas fallen. Auf Soligos ehrenwertes Haupt.
„Verfluchte –“ Die Pistole in seiner Hand ging los, als er erschrocken zur Seite sprang. Die Kugel zischte durch die Luft und bohrte sich mit einem Knall ins Knie des steinernen Gottes.
„SOLIGO!“ Bassar sprintete auf dem Weg zu den Polizeiwagen an ihm vorbei. „Das werden Sie teuer bezahlen. Das kommt in Ihre Akte!“
„Diese – Taube!“ Puterrot im Gesicht blickte Soligo zu seinen Haarwellen auf, an denen es weiß herabtröpfelte. Seine Unterlippe begann angewidert zu zittern.
„Kopf hoch, Herr Kollege. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, lieber Kopf runter.“ Mebb lächelte und folgte eilig Bassar und den Kommissaren. Die Taube flog bereits die Straße hinauf.