Zum Teeladen

 

„Wo sind wir hier … ist das überhaupt noch ein Teil der Stadt?“

„Das hier ist die wahre Stadt.“

Apolonia blickte sich mit gerümpfter Nase um. Die Häuser standen so eng, dass man mit einer ordentlichen Kutsche kaum hindurchgepasst hätte. Wäscheleinen spannten sich über ihren Köpfen von Wand zu Wand. Manche Hauseingänge hatten keine Türen mehr, Fenster waren mit Brettern vernagelt und überall türmte sich der Dreck auf.

Apolonia hielt sich den Schal vor Mund und Nase; nicht nur wegen des Gestanks, sondern auch aus Angst vor ansteckenden Krankheiten. Man wusste ja nie – vielleicht hatte die Pest das Mittelalter in dieser Gegend überdauert. Sie stieß einen erschrockenen Laut aus, als sich plötzlich etwas im Abfall bewegte. Ein Mann, über und über in Lumpen gehüllt, richtete sich träge auf und entblößte den fast zahnlosen Mund in einem Grinsen. „He, he, Jorel!“, schnaufte er.

„Mart! Wie geht’s? Was machst du so?“ Tigwid lief auf den Dreckmann zu und schüttelte ihm ausgiebig die Hand. Apolonia hätte lieber in eine rohe Leber gebissen.

„Och, man tut, was man kann. Guck mal, ich hab meine Knopfsammlung fast vervollständigt.“ Er kramte in seinem Deckenlager und zog einen langen Lederlappen hervor, auf den Knöpfe genäht waren.

„Oah“, machte Tigwid und beugte sich vor. „Wo hast du denn das Exemplar da aufgegabelt?“ Er wies auf einen zerkratzten Goldknopf. Der alte Mart nickte verlegen wie ein Schulmädchen. „Man hält die Augen eben auf, nich wahr?“

„Hm-hm.“ Beiläufig fügte Tigwid hinzu: „Übrigens, das ist Poli, ’ne Freundin von mir.“

Marts Blick wanderte zu Apolonia. „’N feines Fräulein hast du da im Schlepptau, Jorel. Woher kennt ihr euch denn?“

„Man hält die Augen eben offen, nicht wahr?“

Ungeduldig trommelte Apolonia mit den Fingern auf ihre Arme. Sie hatten keine Zeit für Witzchen mit einem Bettler! Sie räusperte sich laut. „Entschuldigung – ich unterbreche euer Gespräch wirklich ungern. Aber wir müssen weiter.“

Mart runzelte die Stirn. „Is das so?“

Tigwid zuckte die Schultern. „Tja, ist wahr. Aber wir reden wann anders darüber – du wirst die Knöpfe lieben, die ich dann mitbringe, versprochen.“

„Freu mich schon drauf. Mach’s gut, Jorel!“

„Du auch, Mart!“

Sie gingen weiter. Erst als sie um die nächste Straßenecke gebogen waren, brach Apolonia ihr Schweigen. Ruhig fasste sie zusammen: „Wir sind hier auf dem Weg zu Eck Jargo, dem berüchtigtsten Räuberversteck aller Zeiten, um in einem Buch der Antworten zu lesen, und du hältst an, um gemütlich mit einem Penner zu plaudern!“

„Das ist kein Penner! Nur ein bisschen. Aber zufällig ist er ziemlich wohlhabend und kauft mir mehr Knöpfe ab als jede Näherei. Kunden sind nun mal Kunden.“

„Egal“, seufzte Apolonia.

„Was ist los? Nervös?“

„Nicht im Geringsten.“

„Aber du hast Angst.“

„Wovor sollte ich Angst haben?“

„Gleich wirst du inmitten einer wilden Diebesmeute stehen, umgeben von den finstersten Gestalten der Stadt“, raunte er.

Apolonia erwiderte nichts. Offenbar überraschte Tigwid das mehr als jede Antwort. Er räusperte sich und wurde ernst. „Du brauchst keine Angst zu haben, ich habe doch gesagt, ich pass auf dich auf.“

„Da bin ich doch erleichtert.“ Es klang nur halb so spöttisch, wie sie es sich vorgenommen hatte. Denn im Grunde war sie tatsächlich froh, dass er da war. Natürlich nur, weil sie sich hier sonst nicht ausgekannt hätte. Sie strich sich die vom Schnee feuchten Haare glatt und zog die Nase hoch. „Wohnst du eigentlich auch hier?“, fragte sie beiläufig.

„Ich wohne mal hier und mal da …“

„Das heißt, du hast kein Zuhause.“

Er legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund. Kleine Schneeflocken rieselten ihm auf die Zunge. „Die Welt ist mein Zuhause. Was braucht man mehr?“

Bald wichen die Straßen noch schmaleren, dunkleren Gassen. Der Himmel war nicht mehr als ein weißer Schlitz zwischen den Hausdächern. Dann blieb Tigwid stehen. Vor ihnen lag eine Sackgasse. „Und jetzt bleib ganz ruhig“, sagte er.

„Warum?“

„Wir werden beobachtet.“

 

Mit großen Augen sah sich Apolonia um. Links und rechts ragten Häuser mit schimmelig-grünen Wänden und dunklen Fenstern auf. Nichts bewegte sich dahinter, nur der Schnee rieselte friedlich. Kein einziger Fußstapfen war auf der Straße. Die Sackgasse lag verlassen und einsam da.

„Los, gehen wir“, murmelte Tigwid ihr zu. Nebeneinander schritten sie los. Ein einziges Geschäft befand sich in der Sackgasse. Als Apolonia die Aufschrift auf dem Fenster lesen wollte, kam aus der gegenüberliegenden Tür eine alte Frau geschlurft. Sie blickte nur kurz zu Apolonia und Tigwid hinüber – und stieß ein knappes, hicksendes Kichern aus. Apolonia erschrak beinahe. Die Alte hatte einen Besen dabei, mit dem sie den Schnee glatt zu streichen begann. Leise summte sie vor sich hin, dann blickte sie wieder auf, stützte eine Hand ins Kreuz und sagte lächelnd: „Seid ihr so gut und helft mir die Treppe hoch in meine Wohnung? Ich schaffe es allein nicht, Kinderchen.“

Apolonia starrte sie an. „Ist das noch eine verrückte Kundin von dir?“

Tigwid schien allerdings zu keiner witzigen Antwort aufgelegt und erwiderte: „Hier sollte man besser tun, was von einem verlangt wird.“

Er kam auf die Alte zu, hielt ihr die Haustür auf und trat nach ihr und Apolonia ein.

Dunkelheit umfing sie. Die Haustür fiel knarzend ins Schloss. Plötzlich erklang ein Klickgeräusch und jemand knipste eine Glühbirne an.

Direkt neben der Haustür hockten vier Jungen an einem Tisch. Sie hatten offensichtlich Karten gespielt. Bis jetzt. Jetzt hielten sie Gewehre in den Händen.

Die Alte hörte auf zu schlurfen, warf ihren Besen in eine Ecke und nahm die Rumflasche vom Tisch. Ihr dünner Hals wippte, als sie in großen Schlucken trank. Dann rülpste sie und knallte die Flasche wieder auf den Tisch.

„Schweinekälte! Peppo, gib mir deinen Schal! Wozu stopfst du dich wie eine Gans aus?“

Der angesprochene Wächter zog sich gehorsam den Schal vom Hals, ohne dass sich sein Gewehrlauf von Apolonias Stirn wandte. Die Alte riss den Schal mit einem rasselnden Husten an sich und spuckte auf den Boden.

„Adios“, knurrte sie, stieß den Besen mit dem Fuß in die Luft, wo sie ihn flink mit der Hand auffing, und humpelte und buckelte wieder hinaus.

„Also.“ Einer der Jungen strich Apolonia mit dem Gewehrlauf über die Wange. Sie war zu schockiert, um ihm einen wütenden Blick zuzuwerfen. „Heute is wohl Tag der feinen Gesellschaft, wie? Habt ihr euch auf ’m Schulausflug verlaufen?“

Tigwid lächelte gelassen, was Apolonia angesichts der Situation schier unglaublich fand. „Ich bin Stammgast. Nur meine Begleiterin ist zum ersten Mal bei Fräulein Friechen zum Tee eingeladen.“

„Und dein Name is wie, Schätzchen?“

„Poli“, antwortete Tigwid für sie. „Meine Cousine.“

„Ja, ja, das sind sie immer“, murmelte der Junge und ließ sein Gewehr sinken. Jedoch nur, um stattdessen ein Messer aus dem Gürtel zu ziehen. Der Wächter erhob sich, kam um den Tisch herum und stellte sich dicht vor Apolonia. Sie blinzelte, als er ihr in die Augen starrte.

„Was willst du bei meiner Tante, Poli?“

„Deiner … Tante?“

Der Blick des Jungen irrte kurz zu Tigwid und wieder zurück zu Apolonia. „Fräulein Friechen heißt sie.“

„Ähm.“ Apolonia räusperte sich leise. Offenbar erwartete man von ihr, dass sie in irgendwelchen Passwörtern sprach. Eilig rief sie sich ins Gedächtnis, was Tigwid soeben gesagt hatte. „Äh, ich will … Tee trinken.“

„Na“, sagte der Wächter. „Dann woll’n wir mal sehen, was du ihr mitbringst.“

Er tastete ihre Arme und Beine ab und klopfte ihr mit dem Messer gegen die Schuhe. Als er die ungeschnürten Schnürsenkel bemerkte, grinste er. „Grad eben geklaut, wie?“

Apolonia wollte schon zu einer heftigen Antwort ansetzen, als sie begriff, dass die Bemerkung durchaus anerkennend gemeint war. Ihr verdutztes Schweigen griff der Junge offenbar als „Ja“ auf.

Er kam federnd wieder auf die Beine und wippte vor Apolonia und Tigwid auf und ab. „Einlass macht dann sechs Mäuse pro Kopf.“

Tigwid begann zu lachen. „Ich war schon Stammkunde in der Roten Stube, da hast du noch Taschentücher gemopst! Eintrittsgeld gab’s noch nie, Schätzchen.“

Der Junge grunzte und machte eine nachlässige Bewegung mit seinem Messer. Die Klinge schwang grässlich nah an Apolonias Nasenspitze vorbei. „Los, haut ab. Viel Spaß in Teufels Küche.“

Tigwid legte dankend eine Hand aufs Herz und schob die Haustür wieder auf. Apolonia folgte ihm verdattert. Die Alte schlich am fernen Ende der Sackgasse durch den Schnee und fegte gerade die Spuren weg, die Tigwid und Apolonia hinterlassen hatten.

„Da rüber.“ Tigwid wies auf das Geschäft. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und seufzte, als sie die enge Straße überquerten. „Hat ja einwandfrei geklappt. Bei Mädchen sind die Wächter immer nachsichtiger. Eigentlich eine ziemliche Schweinerei für uns Männer, wenn man drüber nachdenkt.“

Apolonia war noch nicht so weit, um über irgendetwas nachzudenken. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass eine Waffe so viel Furcht auslösen konnte … innerlich ärgerte sie sich, dass sie so verängstigt war.

Die Tür des Geschäfts war geschlossen. Durch die staubige Fensterscheibe erspähte Apolonia einen dämmrigen Laden mit hohen Regalen voller Dosen und Gefäße.

Tigwid kümmerte sich nicht um das feste Eisenschloss am Türgriff; zielsicher schob er beide Türangeln nach oben. Sie ließen sich problemlos bewegen und mit einem leisen Luftzug schwang die Tür nach innen auf.

„Also.“ Tigwid wandte sich Apolonia zu. „Man darf immer nur alleine eintreten, einer nach dem anderen. Du hast den Vortritt. Gleich wenn du drinnen bist, wirst du Fräulein Friechen treffen, sie wird dir ihren Gehstock in den Rücken halten, aber wegen der Klinge musst du dir keine Sorgen machen. Das sind alles nur Sicherheitsvorkehrungen. Wenn du tust, was man dir sagt, und dich nicht hastig bewegst, stößt dir auch nichts zu.“

„Ach so.“ Apolonia hatte ihre Stimme endlich wiedergefunden, auch wenn sie noch ein bisschen heiser klang. Dann erklärte ihr Tigwid genau, was sie tun sollte. Oder, was sie nicht tun sollte. Und davon gab es eine Menge.

 

Dotti zählte ihr Geld. In dicken Bündeln legte sie es in den grünen Stahlsafe, der in einem Geheimfach in der Wand versteckt war. Das Kleingeld schüttete sie in eine Porzellanvase auf ihrem Schreibtisch. Ihr Büro war wie das Zimmer einer Königin eingerichtet, voll goldener Kerzenleuchter und kostbarer Teppiche aus Usbekistan und der Türkei. Die Wände waren dunkelrot gestrichen und ein paar altertümliche Apparaturen verliehen dem Raum eine geheimnisumwitterte Atmosphäre. Es waren Schätze des großen Paolo Jargo, die er während seiner Glanzjahre erbeutet hatte – das behauptete Dotti jedenfalls, wenn man sie fragte, woher sie kämen. In Wirklichkeit war weder der versilberte Affenschädel noch der antike Bronzeglobus von Paolo Jargo. Dotti hatte die Sachen bei verschiedenen Hehlern ersteigert oder aus Gefälligkeit geschenkt bekommen, und das Einzige, was Dotti von Jargos Schätzen noch besaß, war sein Name. Sein Name war Gold wert.

Mit einem zufriedenen Seufzen legte Dotti ihre Geldbündel zusammen, stapelte sie aufeinander und schloss den Tresor. Die fünfstellige Zahlenkombination kannte niemand außer ihr. Dann schloss sie auch die Wandnische und blickte in den Spiegel, der vor dem geheimen Safe hing. Der Spiegel war von vergoldeten, ineinander greifenden Händen eingefasst – eine besondere Ersteigerung, für die Dotti ein kleines Vermögen gelassen hatte. Im matten Schein der Kerzen betrachtete Dotti ihr Gesicht. Es war nicht mehr das des jungen Mädchens … nicht das von Jargos großer Liebe. Es war das Gesicht einer gealterten Tänzerin, die einmal schön gewesen war. In ihren Augen lebten die Schatten der Menschen, die sie geliebt und verloren hatte.

„Paolo …“ Sie berührte ihre geschminkten Wangen und schob sie nach oben. Endlich fand sie wieder die Ähnlichkeit zu jenem jungen Mädchen, das den Spiegel schon vor so vielen Jahren verlassen hatte. Sie betrachtete sich ausgiebig. Niemand würde sich an dieses Gesicht erinnern. Niemand würde ihren Namen kennen, wenn sie starb. An Paolo wird man sich noch lange erinnern, dachte sie. Deshalb war er früh gestorben. Sie seufzte und ließ die Arme fallen.

Berühmtheit war gefährlich. Jeder hatte Paolo Jargos Gesicht gekannt, seine Abenteuer waren von Mund zu Mund gegangen wie die Volksmärchen. Letzten Endes hatte ihm all der Ruhm doch nichts gebracht, denn er war von der Polizei gejagt und noch auf seiner Flucht von feindlichen Banditen ermordet worden.

Dotti hingegen war der Polizei gar nicht bekannt. Den Banditen, die sie täglich in Eck Jargo sahen, war sie vollkommen egal. Schließlich war sie keine Machthaberin, niemand Wichtiges, auf dessen Ruhm und Reichtum man neidisch sein konnte. Sie war nur eine alte Tänzerin, die die Befehle der Männer ausführte, die sich hinter dem legendären Namen Paolo Jargo verbargen. Mehr nicht.

Dotti schob sich ihr Kleid zurecht und zupfte an der Rüschenspitze, die ihren Ausschnitt säumte. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch, öffnete die Kasse von Bluthundgrube und begann die neuen Scheine zu bündeln.

Sollte die Welt doch denken, was sie wollte. Gedanken der Ehre waren nichts wert; die Bewunderung, die in den Köpfen der Menschen lebte, machte nicht satt. Dotti brauchte nicht die Ehrerbietung, die ihr in Wahrheit zustand. Ihr reichte es, wie die rechtmäßige Besitzerin von Eck Jargo zu verdienen.

 

„Grüß dich, Schätzchen.“ Es war der erste Mann in Eck Jargo, der Apolonia angrinste. Alle anderen hatten ihr einen Gewehrlauf auf die Brust gedrückt. „Na, in welche Ecke willst du?“

Apolonia stand vor dem wuchtigen Schreibtisch und ließ den Blick über die acht Türöffnungen schweifen, die sich wie aufgesperrte Mäuler in den dunklen Raum öffneten.

„Was für Ecken gibt es?“, fragte sie. Ihre Stimme hatte einen schrillen, hastigen Ton angenommen. Das kam von den Todesgedanken, die sie angesichts mehrerer Dutzend Waffen gehabt hatte.

Der Mann an der Rezeption grinste noch immer. „Nun, da gibt es Himmelszelt, wenn du Erholung brauchst, die Rote Stube, wenn du ein paar hübsche, junge … – na ja, dann gibt es noch Mauseloch, ’ne hübsche Schänke, die Wiegende Windeiche oder … ich glaube, Bluthundgrube is nich so was für Mädels wie dich, und das Laternenreich würd ich dir auch nich empfehlen, denn da kommst du als Wrack wieder raus, wenn überhaupt …“

Der Wächter blickte auf, als Schritte erklangen. Tigwid erschien auf der Treppe, hüpfte die letzten Stufen hinab und legte einen Arm um Apolonia.

„Tag“, sagte er.

„Name!“, blaffte der Wächter und schloss einen Bleistift in die Faust.

„Ich bin Jorel“, leierte Tigwid herunter, „und meine Begleiterin ist Poli, Neuankömmling, unter einundzwanzig, weiblich, berufslos in unseren Branchen.“

Es dauerte eine Weile, bis der Wächter alles in ein schwarzes Buch notiert hatte. Während er dem Papier die Buchstaben aufdrückte, machte er ein angestrengtes, wütendes Gesicht, und als er endlich fertig war, ließ er erleichtert den Stift sinken und lehnte sich zurück.

„In welche Ecke wollt ihr?“

„Wir wollen eine Rundschau machen, aber zuerst gehen wir in Himmelszelt.“

Der Wächter grinste kurz, dann überschattete wieder Anstrengung sein Gesicht und er notierte mit konzentrierter Miene H. Z. ins Buch. „Gut. Dann viel Spaß.“

Tigwid führte Apolonia auf eine Türöffnung zu. Sie schritten eine enge Treppe hinab, bis sie eine Tür mit Stahlbeschlägen erreichten. Tigwid klopfte an. Kurz darauf öffnete sich ein Schiebefenster in der Tür und ein Augenpaar richtete sich auf die beiden.

„Was wollt ihr in Himmelszelt?“

„Ich bewohne hier ein Zimmer“, sagte Tigwid. „Mein Name ist Jorel, unter einundzwanzig, männlich, beruflich angestellt in unseren Branchen, Arbeitgeber Mone Flamm, Zimmer hundertzwei.“

Das Schiebefenster schloss sich. Einen Moment später schwang die Tür auf und der Wächter ließ sie eintreten. Neben einer langen Rezeption, die von Gewehr tragenden Wächtern geführt wurde, zweigten fünf Korridore ab. Tigwid steuerte auf einen zu. An der Decke hingen flackernde Petroleumlampen. Rot bemalte Türen reihten sich links und rechts auf. Die Wände waren dunkel gestrichen, ihre Schritte wurden von einem alten, dunkelblauen Teppich gedämpft. Endlich blieb Tigwid vor einer Tür stehen, auf die mit weißer Farbe 102 gepinselt stand. Er zog einen Schlüssel aus seinem Schuh und sperrte auf.

„Immer hereinspaziert.“ Er hielt Apolonia die Tür auf, holte ein Streichholz aus seinem Jackett und entfachte eine Lampe.

„Also hast du doch ein Zuhause.“ Apolonia musterte den niedrigen Raum, während Tigwid die Tür mit dem Fuß zustieß und auch die anderen beiden Lampen entzündete, die auf einem schmalen Tisch und neben einem noch schmaleren Bett standen.

„Sieht das hier wie ein Zuhause aus?“ Über einem Stuhl hingen ein paar Kleidungsstücke, die warf er unauffällig unter den Tisch und lächelte. „Hier schlafe ich bloß, wenn ich mal schlafen muss.“

„Verstehe.“ Apolonia verschränkte die Arme. „Und wieso bringst du mich her?“

Tigwid zog die Tischschublade auf und stopfte sich einen Haufen Kleingeld in beide Hosentaschen. „Du willst doch bestimmt, dass ich dich später auf ein Malzbier und Kartoffelkekse einlade.“

„Eigentlich nicht. Wir haben ein paar Dinge zu besprechen, Tigwid.“

Er ließ sich auf sein Bett sinken, seufzte und krempelte sich die Hose hoch. Von dem Treppensturz letzte Nacht war sein Knie aufgeschürft, und er pulte an der kleinen blutigen Kruste. „Schließ los, Poli.“

„Erstens: Nenn mich noch einmal Poli und ich erzähle der Polizei, wer du bist.“

„Poli klingt doch hübsch.“ Er hob beschwichtigend die Arme, als sie einen Schritt auf ihn zumachte. „Merkst du denn nicht – hier verrät niemand seinen echten Namen! Hättest du lieber, dass ich jedem beliebigen Banditen sage, dass du Apolonia Spiegelgold heißt, Nichte des berühmten Staatsanwalts? Innerhalb einer halben Minute wärst du entführt, und das wäre noch das Harmloseste. Was glaubst du, wie viele Brüder, Söhne, Cousins und Freunde dein Onkel schon eingelocht hat? O Mann.“ Er schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt, mich juckt es auch in den Fingerspitzen, dich zu kidnappen … Aber ich verdiene zu gut, um mich für so einen Job herzugeben.“

Apolonia musterte ihn mit gerunzelter Stirn, wie er so auf seinem Klappbett saß, das aufgeschürfte Knie in den Armen. „Du könntest mich nicht mal kidnappen, wenn du alle Mottengaben der Welt besitzen würdest. Und das bringt mich gleich zum Zweiten: Wo sind die … wo ist dieses Buch der Antworten?“

Er nahm sein Knie schärfer in Augenschein. „Wie lange war ich eigentlich bewusstlos? Eine Gehirnerschütterung kann verheerende Folgen haben, damit ist nicht zu spaßen. So wie Nasenbluten. Vielleicht sollte ich lieber zu einem Arzt gehen, ich kenne einen, der arbeitet hier hinter der Bar …“

„Tigwid! Wo ist das Buch?“

„Ich mach mir ja bloß Sorgen. Ein solcher Sturz, das kann tödlich sein.“

„Das einzig Tödliche an dir ist dein Geplapper! Zeig mir das Buch oder ich gehe!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf.

Tigwid erhob sich und schüttelte sich das Hosenbein wieder gerade. „Das machst du aber oft, das mit dem Aufstampfen. Man könnte meinen, du wärst verzogen.“ Er grinste liebenswürdig.

„Ich bin durchsetzungsfähig“, korrigierte Apolonia. „Außerdem bin ich … – Was rede ich, ich bin nicht gekommen, um mir deine Frechheiten anzuhören!“

„Ja, ja.“ Er klopfte sich auf die Hosentaschen, dass die Münzen leise klimperten. „Ich musste ja auch nur Geld holen. Wir können jetzt gehen.“

„Wo genau ist das Buch? Wer hütet es?“, hakte sie nach.

Tigwid war inzwischen an die Tür getreten. „Komm her!“, raunte er. Apolonia ging zu ihm. Einen Moment lang erwiderte er bloß ihren Blick, und als Apolonia sich schon fragte, ob er vielleicht mit offenen Augen eingeschlafen war, beugte er sich zu ihr vor. Seine Wange berührte fast die ihre und er neigte leicht den Kopf, um sie anzusehen. Apolonia wich irritiert zurück und machte ein Doppelkinn – da erst wurde ihr klar, dass er ihr etwas ins Ohr flüstern wollte.

Eck Jargo ist vielleicht der sicherste Ort vor der Polizei. Aber hier laufen jede Menge Mörder und Verbrecher rum, deshalb sollten wir nicht über das Buch reden, sobald wir dieses Zimmer verlassen haben. Verstanden?“, flüsterte Tigwid.

Sie nickte ungeduldig und trat einen Schritt zurück.

„Gut.“ Er drückte die Türklinke hinunter. Dann holte er tief Luft. „Das Buch … ist irgendwo hier und wir müssen es irgendwie finden.“ Er riss die Tür auf und ging eiligen Schritts den Korridor hinunter.

„Irgend–, was?! Tigwid!“

Er winkte zu ihr zurück. „Beeil dich, Poli. Und mach die Tür zu!“

 

Zwei Stunden und fünf Ecken später saß Apolonia an einem engen Holztisch. Mit schmalen Lippen nippte sie an ihrem Wasser. Tigwid saß neben ihr, ein Malzbier in den Händen, und starrte trübe vor sich hin. Auch die spärlich bekleidete Tänzerin, die ihr Hinterteil unermüdlich vor Apolonia schwenkte, schien ihn nicht aufzumuntern, im Gegenteil. Je zorniger Apolonias Blick dem gemächlich dahinschwebenden Rüschenrock folgte, desto unangenehmer schien ihm die Situation zu werden. Er hob sein Glas, als die Männer in der Roten Stube zu pfeifen begannen, und schluckte hörbar. Dann besah er Apolonia mit einem beunruhigten Seitenblick. Sie wirkte seltsam apathisch.

„Geduld“, sagte er. „Ich weiß, dass wir es finden. Wir müssen bloß Geduld haben. Mir wurde ja prophezeit, dass du mich hinbringen wirst.“ Er verstummte, als sie nicht auf ihn reagierte. Er räusperte sich. „Bist du müde? Du könntest dich bei mir schlafen legen. Willst du? Ist kein Problem, ich warte solange draußen.“

„Halte einfach den Mund.“

Tigwid beschloss, der Bitte Folge zu leisten. Apolonia schob das Kinn vor. „Ich bin dir hierher gefolgt, habe mich von einem muffigen Dreckloch zum nächsten schleppen lassen, ich habe mehr Tätowierungen, mehr Blut, mehr – mehr Bier und Besoffene und mehr Gewehre und Hintern gesehen, als ich in meinem Leben vorhatte! Wo ist dein Buch? Wo ist es?“ Er öffnete den Mund, um zu antworten, aber sie schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. „Na fein, du willst hier warten, bis eine bescheuerte Prophezeiung eintritt? Dann warte! Ich zerfalle inzwischen zu Staub, wenn es dir recht ist.“ Wütend verschränkte sie die Arme und stierte zu den Tänzerinnen auf. Ihr Gemurmel von Lustmolchen ging im allgemeinen Gepfeife und den anzüglichen Rufen der Zuschauer unter.

Tigwid wusste nicht, was er erwidern sollte. Eine Weile beobachteten sie stumm die Tänzerinnen.

„Also, ich habe Vertrauen ins Schicksal“, sagte er leise. „Es wird alles so kommen, wie es kommen soll. Mit nur ein bisschen Geduld.“

„Mir reißt gleich die Geduld!“

„O Gott.“

„Ja, du sagst es. Endlich sagst du –“

„Duck dich.“ Er zog sie auf den Tisch runter. Verwirrt folgte sie seinem Blick – und erstarrte. Am Eingang neben den Tresen war eine Gruppe von Männern erschienen. Ohne die Würstchen und Handschellen sahen sie erheblich bedrohlicher aus.

„Alles in Ordnung“, keuchte Tigwid. „Du musst mir jetzt einfach vertrauen.“

Apolonia warf ihm einen scheelen Blick zu. „Die sind hinter dir her, nicht mir.“

„Du bist meine Freundin, das reicht denen, um dich zu jagen.“

Apolonia stockte einen Augenblick. „Freundin?“

„Jemand, der mich zur Antwort meiner sehnlichsten Frage bringt, ist nun mal eine Freundin“, sagte Tigwid ungeduldig. „Tut mir leid, dass nicht jeder so ein Einsiedlerkrebs ist wie du.“

Aus irgendeinem Grund kränkte es sie plötzlich, dass Tigwid sie für einen Einsiedlerkrebs hielt. Für Pikiertheit blieb aber keine Zeit. Tigwid erhob sich und Apolonia schlich hinterher, während die Männer in entgegengesetzter Richtung an den Tresen entlanggingen. Glücklicherweise galt ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich den Tänzerinnen, die ihre Beine nun im Takt durch die Luft schwangen.

Tigwid ging nicht zum Ausgang, sondern zu den Bühnenvorhängen.

„Meinst du wirklich, dass das klug ist?“, raunte Apolonia, als er hinter den roten Fransenvorhang schlüpfen wollte.

„In so was hab ich Erfahrung.“ Damit war er verschwunden. Apolonia knirschte mit den Zähnen, folgte ihm aber eilig.

Sie traten in einen engen Gang, der links zur Bühne führte und rechts an mehrere Zimmertüren grenzte. Leise schlichen sie an den Türen vorbei.

„Hier irgendwo muss doch ein Notausgang sein“, murmelte er. Vor der letzten Tür blieb Tigwid stehen, legte die Hand auf die Türklinke und machte auf.

Ein Dutzend halb bekleideter Tänzerinnen fuhr herum. Hinter einem Sammelsurium von Kleidern, Federboas und Spiegeln war eine offen stehende Tür, hinter der eine Treppe nach unten führte.

Tigwid strahlte. „Volltreffer!“

Die Tänzerinnen stießen schrille Schreie aus, während sie ihre Blöße damenhaft zu verbergen versuchten, und ließen einen Hagel rüpelhafter Schimpfwörter auf Tigwid niederprasseln. Das Geschrei und Gezeter mischte sich bald mit einem Gepolter von der Bühne. Ein Messer bohrte sich vibrierend in den Türrahmen, einen Zentimeter an Apolonias Hals vorbei. Im Gang standen die vermeintlichen Wurstdiebe.

„DA!“

„Los!“ Apolonia stürzte hinter Tigwid her, sie kämpften sich an Tänzerinnen und Puderquasten vorbei, schlüpften durch die Tür und rannten die Treppe hinab. Wogen von hellem Gekreische ertönten hinter ihnen, dann trommelten Schritte auf den Stufen.

„Beeil dich!“, schrie Apolonia und schlug und drückte gegen Tigwid, der vor ihr rannte. Es war so dunkel, dass sie kaum die Stufen erkannten. Apolonia stieß hart gegen Tigwids Rücken, als die Treppe vor einer Tür endete. Mit rutschigen Fingern riss Tigwid die Tür auf.

Rotes Licht strömte ihnen entgegen. Die beiden stürzten voran, und kaum dass die Tür hinter ihnen zufiel, bohrten sich ein Dutzend Wurfmesser ins Holz.

Apolonia und Tigwid rannten durch stickig warme, dämmrige Zimmer, vorbei an Betten und Liegen voll dösender Gestalten. Eine Chinesin wich erschrocken vor ihnen zur Seite, sodass ihr fast die große Wasserpfeife aus den Händen fiel. Apolonia wurde klar, dass sie in einer Opiumhöhle gelandet waren. Laternenreich.

Irgendwo hinter ihnen erklangen laute Stimmen. Glas klirrte. Eine Zitterspielerin hielt mitten im Lied inne. Tigwid und Apolonia waren in einem Zimmer angekommen, aus dem keine Tür führte. Nur ein holzverziertes Fenster in der Wand.

Tigwid sprang auf das feine Seidenbett und schlüpfte durchs Wandfenster. Der Mann, der unter der Decke lag, stöhnte auf. Apolonia raffte Kleid und Mantel und folgte Tigwid in zwei Sätzen. Sie landete auf einem zweiten Bett, stolperte über die aufjaulende Person darin und fiel gegen merkwürdige Gerätschaften auf dem Boden.

Tigwid half ihr auf und sie durchquerten den großen, dunklen Raum. Am anderen Ende war ein Flur mit mehreren Zimmeröffnungen. Der Lärm ihrer Verfolger schien plötzlich näher. Schweiß glänzte auf Tigwids Stirn. Er drehte sich in jede Richtung, lauschte; die Stimmen und Schritte kamen von irgendwo ganz nah. Hinter den Wänden aus geschnitztem Holz schien jedes Licht und jede Gestalt in Bewegung zu sein.

„Hier rein!“ Tigwid lief in ein Zimmer – und stieß gegen jemanden.

Vor ihnen stand ein weißhaariger Mann mit einem Schnauzer, einer runden Goldbrille und wässriggrauen Augen. Sein Hemdkragen stand offen und in der Hand hielt er eine längliche Pfeife.

„Jorel. Du bist Jorel, richtig?“, sagte er leise. Sein Blick glitt zu Apolonia und seine trüben Augen glitzerten. Dann hörte auch er die wüsten Rufe. „Kommt, ich bringe euch hier weg.“ Die Pfeife glitt ihm einfach aus der Hand und fiel auf den Boden. Der Mann drehte sich um und durchquerte das kostbar eingerichtete Zimmer, das ihm offensichtlich gehörte.

„Wer sind Sie?“, fragte Tigwid verblüfft.

Der Mann schob eine Schiebetür aus Seidenpapier auf und wies in einen dunklen Gang. „Für Fragen ist später Zeit. Jetzt müssen wir euch erst einmal von euren Verfolgern befreien.“

Apolonia spürte, wie Tigwid instinktiv zurückwich. „Erst Ihr Name.“

Der Mann schob seine Goldbrille zurecht und besah Apolonia mit einem langen, eingehenden Blick. „Mein Name ist Ferol. Professor Rufus Ferol.“