Als Apolonia erwachte, spürte sie ein Hämmern, als würde ihr eine Herde Wildpferde durch den Schädel galoppieren. Sie stöhnte leise. Dann versuchte sie die Beule zu betasten, die unter ihren Haaren pochte, und merkte, dass sie die Hände nicht bewegen konnte. Überrascht öffnete sie die Augen. Irgendwo links von ihr schwamm ein blasses Licht, eine Petroleumlampe, die auf einem grob gezimmerten Brettertisch stand. Sie selbst saß auf einem Holzstuhl – und ihre Hände waren an die Armlehnen gebunden. Hilflos schwenkte sie mit den Füßen durch die Luft. Sie trug nur noch einen Schuh.
Wo war sie?
Apolonia drehte den Kopf in jede Richtung. Sie befand sich in irgendeiner Lagerhalle. Überall stapelten sich Holzbretter, lahm gelegte Maschinen staubten vor sich hin. In einer Ecke waren Pakete aufgehäuft, in denen Stapel von vergilbten Papierbogen steckten.
Aus den Augenwinkeln sah sie, dass jemand hinter ihr war. Sie wandte den Kopf so weit herum, wie es ging, und spähte zurück.
Am anderen Ende der Lagerhalle standen Morbus und die Dichter. Im matten Licht trat ein junger Mann vor seinen Meister und schob den Ärmel hoch. Morbus schnitt ihm mit einem Skalpell in den Arm. Ein zweiter Dichter hielt eine kleine Schale darunter, um das Blut aufzufangen. Nun nahmen Morbus und der junge Dichter an einem Tisch Platz, während der andere Dichter Tinte in die Schale mit dem Blut goss. Morbus zog eine lange Schreibfeder aus dem Mantel und begann auf ein Papier zu schreiben. Dabei wandte er den Blick nicht von seinem Gegenüber. Der junge Mann begann zu zittern. Er warf den Kopf zurück, öffnete die Lippen und zeigte zusammengebissene Zähne. Die anderen Dichter hielten ihn fest, als er von seinem Stuhl zu kippen drohte. Dann sank er mit einem Seufzen auf die Tischplatte. Morbus erhob sich und blies vorsichtig die Bluttinte auf dem Papier trocken. Während sich die anderen Dichter um den Bewusstlosen kümmerten, wandte Morbus sich um und kam mit schleichenden Schritten auf Apolonia zu.
„Guten Morgen, Fräulein Spiegelgold.“ Er blieb so hinter dem Stuhl stehen, dass sie ihn nicht sehen konnte. Sie hörte ein leises Klicken. Schweiß trat ihr in den Nacken.
Morbus öffnete eine Taschenuhr. „Obwohl – gute Nacht kann man durchaus noch sagen. Es ist drei Uhr dreiundfünfzig.“
Er beugte sich zu ihr vor. Sie fühlte seinen Atem auf der Kopfhaut. „Ich mag die Nacht lieber als den Tag. Für mich ist die Nacht erst vorüber, wenn das Tageslicht die ersten Schatten zeichnet. Womöglich liegt das daran, dass ich eine Motte bin. Uns sagt man die Vorliebe für künstliches Licht nach.“
„Wo bin ich?“, fragte Apolonia so beherrscht, wie sie konnte.
Morbus legte eine Hand an ihre Wange. „Keine Sorge, Fräulein Spiegelgold. Du bist unter Artgenossen.“ Sein Lachen hätte von einer Klapperschlange stammen können. Als Apolonia das Gesicht abwandte, gruben sich kühle Finger unter ihr Kinn. „Würdest du mir einen Gefallen tun, meine Liebe? Lies doch bitte diesen kleinen Satz und sage mir, was du davon hältst.“ Er drehte ihren Kopf nach vorne und hielt ihr mit der anderen Hand das Papier vor.
Apolonia kniff die Augen zu, bevor sie die Buchstaben sah. „Auf den Trick falle ich nicht rein!“
Die Finger gruben sich so fest unter ihren Kiefer, dass ein jäher Schmerz durch ihre Schläfen schoss. „Öffne deine Äuglein …“ Sein Singsang schlug in einen barschen Ruf um: „Kastor, Jacobar!“
Apolonia hörte, wie zwei Dichter herbeieilten. Grobe Finger drückten ihr auf die Augenbrauen und zogen ihre zusammengekniffenen Lider auf. Sie drehte den Kopf, versuchte die Hände abzuschütteln, aber jeder Widerstand war zwecklos. Das Papier wurde ihr vor die Nase gedrückt. Ihr Blick streifte die Schrift, und obwohl sie es nicht wollte, schlüpften die Buchstaben durch ihre Augen, durchwanderten ihr Hirn, fügten sich zusammen. Jetzt bewegte sie sich nicht mehr.
Die Hände ließen von ihr ab, nur Morbus beugte sich tiefer und war Wange an Wange mit ihr. „Lies es dir gut durch ...“
Apolonia hörte ihn nicht. Ihr Verstand war leergefegt. Nur eins brannte sich in sie hinein:
Du liebst die Dichter.
Du bist ein Dichter.
Du hasst Erasmus Collonta.
Tausend Bilder und Worte durchzuckten sie wie in wirren Träumen, die sich lle zu einem einzigen Traum verdichteten.
Trude, die ihr die Strümpfe anzieht. „Das junge Fräulein ist nun eine Dame …“ Sie blickt zu ihr auf und ein grünes Blitzen durchwandert ihre Augen. „Du bist ein Dichter!“
Ihr Vater, der ihr auf die Schulter klopft. „Wissen ist Macht, Apolonia. Sammle so viel Wissen wie du kannst, und du wirst viel erreichen …“ Seine Hand an ihrer Schulter wird fremd und die Finger bohren sich in ihre Haut. „Du liebst die Dichter, Apolonia. Du hasst Erasmus Collonta!“
Ihre Mutter, die lächelt, kühl und hell wie der Frühlingshimmel. „Du bist ein besonderer Mensch, Apolonia.“ Dann verwandeln sich ihre Augen in die von Morbus, bohren sich gleißend in sie hinein. „Du bist ein Dichter, Apolonia. Du liebst sie. Du liebst sie! Du liebst sie!“
Sie selbst, wie sie vor dem Spiegel steht und ihr Gesicht betrachtet. Sie flüstert: „Wer muss schon klug sein, wenn er schön und reizend ist?“ Sie neigt den Kopf. „Wer muss schön und reizend sein, wenn er klug ist!“ Ihr stilles Lächeln verzerrt sich kaum wahrnehmbar. „Ich liebe die Dichter. Ich hasse Erasmus Collonta! Ich hasse Erasmus Collonta!“
Morbus lächelte. „Jetzt sind wir einer Meinung, nicht wahr? Saug die Wahrheit auf. Du liebst die Dichter. Du bist ein Dichter. Du hasst Erasmus Collonta.“ Er senkte langsam das Blatt und drehte Apolonias Kopf, sodass er ihr in die Augen sehen konnte.
Mehrere Momente lang starrte sie ihn an wie eine Leiche. Dann blinzelte sie träge. „Ich … die Dichter … nicht.“ Sie schluckte trocken, denn ihre Stimme war nicht mehr als ein Atemringen. „liebe sie … nicht.“
Morbus ließ sie los und trat zurück, als hätte er sich verbrannt. „Was? Was hast du gesagt?“
Apolonia keuchte. Sie fühlte sich matschig wie Brei. Als hätte sie fünf Stunden lang versucht, eine schwierige Mathematikaufgabe zu lösen. Ihr Inneres war aufgewühlt, Vergangenheit und Gegenwart und Zukunftsvorstellungen strömten durcheinander, Erinnerungen zerflossen mit Träumen und wahllosen Zusammenfügungen von Gedanken. Und überall und immer wieder die drei Sätze! Du liebst die Dichter … Du bist ein Dichter … Du hasst Erasmus Collonta! Aus jedem Winkel ihres Hirns schlüpften die Worte. Sie konnte kaum unterscheiden, was wahr war und was nicht; was ihre echten Erinnerungen waren und welche Worte Trude, ihr Vater, ihre Mutter, ihr Hauslehrer, Tigwid – nie gesagt hatten …
„Wieso hat es nicht gewirkt?“, murmelte ein großer blonder Mann und warf einen Blick zu den anderen zurück. Noch immer lag der junge Dichter bewusstlos auf dem Tisch. „Es war Manthans echter Glaube!“
„Vielleicht war es nicht genug Blut“, überlegte Jacobar, ein kleinerer Dichter mit einem Schnauzer.
„Es war verdammt noch mal genug Blut!“, fauchte Morbus. Mit zuckenden Mundwinkeln strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Das Mädchen ist eine Motte. Sie ist resistent.“
Jacobar und Kastor blickten auf Apolonia, die sich vor Übelkeit kaum aufrecht halten konnte. Morbus zerknüllte das Papier in der Faust.
„Wie … machen … Sie das?“
„Wie bitte, meine Liebe?“ Morbus zog Apolonias Stuhl herum und ignorierte ihr kränkliches Augenrollen. „Du willst wissen, was soeben geschehen ist? Willst du wissen, was sich gerade in dein Köpfchen gebrannt hat, ja? Ich will es dir erklären, schließlich bist du eine Kameradin, eine Gleichgesinnte, eine Mitstreiterin, wenn du so willst. Hinter uns liegt, wie du zweifelsohne bereits erkannt hast, der ohnmächtige Dichter Michaelis Manthan. Er hat das Bewusstsein verloren, wie es für gewöhnliche Menschen nach den psychischen Strapazen, die er erleiden musste, nicht ungewöhnlich ist, aber für eine Motte ist er zugegeben eine richtige Flasche. Ein absolutes Weichei!“ Sein rasselndes Lachen umwehte ihr Gesicht. „Ich habe ihm ein Stück seines Glaubens, seines Wissens, seiner Überzeugung aus dem Hirn geschrieben – aus dem Hirn oder dem Herz, woraus, überlasse ich deiner Vorstellung. Denn er liebt die Dichter. Er ist ein Dichter. Und er hasst Erasmus Collonta. Diese drei Wahrheiten seiner Person habe ich mir ausgeliehen, mit seinem Einverständnis natürlich, und mit Blut und Tinte auf das Blatt geschrieben. Gewiss wird Manthan bald wieder wohlauf sein. Schließlich ist das Wissen, das ihm genommen wurde, leicht wiederherzustellen. Was hast du mir doch am Hochzeitstag deiner Tante gesagt? Ja, richtig: Wahrheit ist Schönheit, Schönheit Wahrheit. Nur wolltest du mit deinem kleinen Mottenkopf diese Schönheit nicht aufnehmen, nicht wahr? Apolonia? Hörst du mich noch, meine Liebe?“
Langsam hob sie den Blick. Das Schwindelgefühl in ihr ebbte zurück, Stück für Stück, ganz langsam, und der Wirbel der Worte verstreute sich zu flirrenden Strudeln. Sie sah Morbus an. In diesem Augenblick war sie sich sicher, ihren Mörder anzusehen. Gewiss. Er würde sie umbringen, früher oder später. Nichts hinderte ihn und die Dichter daran, sie ihre schrecklichen Wahrheiten lesen zu lassen. Selbst wenn es stimmte, was Morbus gesagt hatte, dass sie resistent war, würde sie unter der Last längerer Texte zusammenbrechen. Oder verrückt werden. Deshalb waren seine Bücher so schön – sie manipulierten ihre Leser! Abscheu keimte in ihr auf, weil etwas so Schönes von so boshaften Menschen kommen konnte. Sie sammelte ihren Mut und ihre Kraft, um ihm ins Gesicht zu sagen: „Ich wusste, dass an ihnen was faul ist!“
„Faul!“ Morbus wandte sich mit einem lautlosen Lachen an Kastor und Jacobar. Dann schnellte seine Hand vor und umschloss eine Haarsträhne von ihr, die er heftig hin- und herschwenkte. „Es sind Meisterwerke!“
Apolonia rang nach Luft, so stechend wurde der Schmerz in ihrem Hinterkopf. Dann ließ Morbus sie los und klopfte ihr auf die Backe.
„Nichts für ungut, Fräulein Spiegelgold. Ich nehme deine Bemerkung als Kompliment und deute die Erwähnung meiner Bücher als Interesse daran, wie die Meisterwerke entstehen. Das erkläre ich dir gerne.“ Er verschränkte die Arme auf dem Rücken und blickte zu den anderen Dichtern am Tisch zurück. Manthan war aus der Bewusstlosigkeit erwacht. Leise beschworen ihn die anderen Dichter, dass er einer von ihnen war, sie liebte und Erasmus Collonta hasste. Mit geringschätziger Miene wandte sich Morbus ab.
„Die Bücher, die ich veröffentliche, sind keine reinen Wahrheiten. Wie du soeben am eigenen Leib erfahren konntest, sind diese nämlich nicht sehr leicht zu verkraften. Man muss sie erst filtern, um sie einem breiten Publikum ohne Mottenresistenz vorsetzen zu können. In meinen publizierten Werken sind nur Auszüge der Wahren Worte, des Grundtextes. Ich träufle die Wahren Worte in das Buch hinein wie die Stimmen von Sirenen in ein sterbliches Lied. Was glaubst du, was geschähe, würde man ein Lied komponieren mit dem puren Gesang der Sirenen? Kein gewöhnlicher Mensch würde es ertragen! Und so verträgt auch kein gewöhnlicher Mensch die echten Bücher mit dem wahren Text. Alle Leser würden davon verrückt, weil sie die Geschichte nicht mehr von ihren eigenen Erinnerungen unterscheiden könnten. So mächtig sind die Geschichten! So wahr können sie werden, wahrer als die Wirklichkeit … Wer von meinen Figuren liest, nimmt sie in sich auf und besitzt mit einem Mal zwei Persönlichkeiten. Du hast ja gesehen, was mit den armen Polizisten in Eck Jargo geschehen ist. Sie haben einen einzigen Satz gelesen, nur einen winzig kleinen, aber er war wahr: Du bist tot.“ Morbus lächelte. „Ist das nicht wundervoll? Endlich haben wir die Wahrheit gefunden! Und wir haben sie gefangen, mit den Regeln unserer primitiven Sprache. Wir können die Wirklichkeit festhalten, eine Wirklichkeit, an die jeder, jeder Mensch in der Welt glaubt. Nur Motten, die von Geburt an fähig sind, in die Geister anderer einzudringen, die von Geburt an fähig sind, neben ihrer eigenen Persönlichkeit beliebig viele weitere in sich zu beherbergen, können die pure Wahrheit ertragen, ohne schizophren zu werden. Deshalb, Apolonia, hat sich die kleine Wahrheit von Manthan nicht in deinen Verstand eingefügt, sondern blieb ein Fremdkörper im Wortstrom deines Bewusstseins.“
Apolonia dachte an die Polizisten und ihren schrecklichen Tod. Waren sie wirklich nur wegen eines Satzes gestorben? Jetzt, da sie selbst die drei Blutsätze hatte lesen müssen, schien es ihr absolut vorstellbar.
„… Woher hatten Sie den Satz?“
„Oh, eine interessante Frage. In der Tat war es äußerst schwierig, ihn zu gewinnen. Um nicht zu sagen, es war eine kleine Meisterleistung meinerseits. Ich musste ihn gerade in dem Augenblick aufschreiben, in dem der Junge mit den aufgeschlitzten Pulsadern erkannt hat, dass er starb.“
Apolonias Gedanken befanden sich in einem fieberhaften Taumel. Mein Gott, dachte sie. Mein Gott, das kann nicht sein … Eine Gänsehaut zog ihr wie eine Eiskruste über den Rücken. „Sie schließen echte Menschen in Ihre Bücher. Deshalb sind sie wahr! Die Bücher sind echt, weil in ihnen echte Menschen gefangen sind …“
Morbus musterte sie geduldig. Dann ging er vor ihr in die Knie. Er wischte ihr eine Träne von der Wange, von der sie gar nicht gemerkt hatte, dass sie da war, und zerrieb das Wasser nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger. „Menschen … was sind Menschen? Findest du es schlecht, Menschen in Bücher zu schließen, wie du es nennst?“
„Ja“, hauchte Apolonia. Sie schluckte. „Ja, natürlich, Sie Wahnsinniger!“ Sie hatte es gewusst. Die Motten hatten keine Seele. Sie waren boshaft, durch und durch.
Morbus senkte den Kopf und lächelte. „Weißt du, was ich wirklich schlecht finde? Wirklich böse? Selbstsucht. Und das Schlimme ist, dass wir alle ausnahmslos selbstsüchtig sind. In unseren Herzen lieben wir nur uns, und alles, was wir tun, wird von dieser Selbstliebe gelenkt – jedes noch so noble Opfer. Es mag aussehen, als wären wir den Menschen nahe, die wir lieben, aber im Augenblick der Wahrheit, im Angesicht des Todes stehen wir einsam in der Weite einer Nacht, in der uns kein Licht schimmert. Wir lieben nur uns, weil wir nur uns spüren können und nur unsere eigenen Gedanken wirklich begreifen.“ Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie fühlte seine Finger über ihre Haare streichen, sachte wie ein Luftzug. „Was verbindet uns schon mit anderen Menschen? Die flüchtige Berührung zweier Körper! Die leere Hülle der Wörter, abgehackter Laute, die das Namenlose, Ungreifbare in Form zu drücken versuchen, das in unserem Verstand und unserem Herzen verborgen liegt … Was wäre die Welt, wenn es keine Wörter gäbe, keine Sprache, sondern nur Wahrheit! Reine, klare, unverschlüsselte Wahrheit! Wenn wir fühlen könnten – nicht hören –, was andere fühlen. Wenn wir die Liebe fühlen könnten – nicht erklärt bekämen –, die andere in sich tragen! Dann würden wir wahrlich lieben, die Liebe würde die Fesseln sprengen, mit der das Herz in seine eigene Brust gekettet ist. Du fühlst nicht meine Traurigkeit, wenn ich dir sage, dass ich traurig bin. Traurigkeit, Hass, Liebe, Glück, all die komplexen, faszinierenden Wirbelstürme aus Licht und Schatten, die im Wesen unserer Seelen fließen, sind nicht zu beschreiben, man kann sie nur fühlen. Könntest du fühlen, Apolonia, was ich gerade fühle, könnte ich dir meine Gedanken schenken. Und genau das will ich. Ich will den Menschen wahre Liebe geben! Ich will der Heuchelei ein Ende setzen, dass Worte ausreichen könnten, um jemanden zu lieben. Ich schenke den Menschen ein zweites Herz! Sie lesen meine Bücher und spüren die Seele hinter der Sprache wie ihre eigene! Sie lernen das erste Mal im Leben jemanden wirklich lieben! Sie lernen, wie ein anderer Mensch zu denken. Sie lernen aus ihrem eigenen Ich zu schlüpfen. Welches Buch hast du von mir gelesen, Apolonia?“
Sie schluckte schwer. Am liebsten hätte sie nicht geantwortet, doch ein Teil von ihr wollte, dass Morbus weitersprach – eine morbide Neugier, die sich nicht darum scherte, wie sie später mit der Wahrheit umgehen musste. „Das Mädchen Johanna.“
„Ah, das Mädchen Johanna. Sag, hast du sie verstanden wie dich selbst? Hast du sie geliebt? War es dieselbe süße, bittere Selbstliebe, die dein Herz für sie hat schlagen lassen, als du ihre Geschichte gelesen hast, die du bis dahin nur für dich empfinden konntest?“
Apolonia presste die Lippen so zusammen, damit er nicht sah, wie sehr sie zitterten. Doch Morbus nickte zufrieden. „Meine Mottengabe ist der Segen der Menschheit. Ich stehe in der Finsternis der blinden Masse, und um mich will jeder mit Worten beschreiben, wie sein Gesicht aussieht. Ich stehe dort, im Dunkeln, und trage eine Laterne mit mir. Ich bringe der Menschheit das Licht, auf dass kein Wort mehr gebrüllt, kein Laut mehr geächzt werden muss, um das zu erklären, was man nicht beschreiben, nur erleben kann! Gefühle! Gefühle, die sich in keine Worte zwingen lassen!
Menschen verlieren ihre Vergangenheit für meine Bücher, ja. Das stimmt. Aber werden sie nicht tausendfach entlohnt? Ihre Geschichten sind eingesperrt im Dunkel ihrer Schädel, wo niemand sie je erleben kann, bis ich sie hervorbringe! Bis ich sie herausschreibe … Und was geschieht dann! Ihre Geschichten zerspringen in Millionen Funken und lassen sich in jedem Herzen nieder, das auf dieser Erde schlägt! Auch du, Apolonia, trägst einen Funken von dem Mädchen Johanna in dir. Kein Mensch war dir je so nahe wie sie, eine Buchfigur! Sie wurde geopfert, damit das Ich von Hunderten, von Tausenden wächst! Und auch dein Herz ist durch ihre Opferung größer geworden, denn du hast das erste Mal in deinem Leben einen anderen Menschen wahrhaftig geliebt.“ Eine Ader pochte an seiner Stirn. Er lächelte und seine erschreckenden Augen schimmerten vor Tränen.
„Sie sind verrückt“, flüsterte Apolonia.
Er blinzelte. „Ich bin verrückt? Das wagst du zu sagen, zu mir, dem Einzigen, der unter all den selbstsüchtigen Menschen nicht selbstsüchtig ist?“
„Sie tun es nicht aus Nächstenliebe! Sie tun es, weil Sie aus tiefstem Herzen böse sind, und Ihre Bosheit gebietet Ihnen, andere Menschen in Ihre Bücher zu schließen! Mehr – mehr ist es nicht.“
„Einzelne müssen geopfert werden, damit die Masse profitiert. Im Leben ist nichts umsonst. Aber manchmal wiegt das Ergebnis mehr als die Entbehrung. Ich will nur die Welt gerechter machen. Tausende Menschen können sich dank mir an den Erinnerungen erfreuen, die ohne meine Bücher nur einem Einzigen gehört hätten. Das ist die Mission der Dichter. Der Menschheit, die in der Finsternis durcheinanderbrüllt und sich doch nie versteht, das Licht zu bringen. Den Menschen die Gesichter der anderen zu zeigen. Wir geben ihnen eine Laterne in die Hand.“
Apolonia schüttelte verwirrt den Kopf. Alles, was er sagte, war so verwirrend. Sie wusste nicht mehr, ob er böse oder gut oder beides und verrückt war. „Wozu brauchen Sie dann mich?“
Morbus sah sie an. Das Grün seiner Augen durchdrang sie, schlüpfte durch jeden Gedanken, jedes Geheimnis ihres Verstandes. Sosehr sie auch versuchte, es zu verhindern, sie schaffte es nicht. Er hatte eine Verbindung zu ihr erzwungen, die keiner Worte bedurfte.
„Du, Apolonia, musst mir vertrauen. Du musst begreifen, dass die Wahrheit wichtiger ist als jeder Einzelne von uns. Du musst einsehen, dass du eine Gabe hast, die du nicht leugnen kannst. Du musst eine von uns werden.“