Dotti saß eine Weile auf dem Sofa, ohne sich zu bewegen, und drückte sich das Taschentuch unter die Nasenspitze. Ein eigenartiger Gedanke hatte von ihr Besitz ergriffen. Eine Idee.
Vielleicht war es falsch. Vielleicht würde es ihn nicht aufhalten, vielleicht würde er wiederkommen und sich an ihr rächen.
Aber zur Hölle mit den Ängsten – sie hätte das, was sie jetzt tun würde, schon vor Jahren tun sollen. Und sie hatte nichts mehr zu verlieren.
Sie stand auf und ging in den Flur. An der Wand hing das modernste Gerät, das man in ihrem mit antiken Schätzen vollgestopften Haus finden konnte: ein Telefon. Sie nahm den Hörer ab. Das Knistern der Leitung flüsterte ihr ins Ohr. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer der Polizei ...
„Also, fassen wir noch einmal zusammen“, sagte der Polizeibeamte gewichtig und setzte die Fingerspitzen aneinander. „Sie behaupten, dass es Menschen mit übernatürlichen Kräften gibt, so genannte Motten. Diese Motten stehlen Erinnerung und schreiben sie in Bücher, die so wahr und schön sind, dass man seinen Verstand verliert, wenn man sie liest. Und Ihnen wollen die Motten ebenfalls Erinnerungen entwenden, speziell die Erinnerung an Ihre verstorbene Mutter.“
„So ist es“, bestätigte Apolonia. „Und in diesem Augenblick befinden sie sich in einer Lagerhalle beim alten Bahnhof und werden nur von Krähen und Hunden bewacht.“
Die Augenbrauen des Beamten waren irgendwo in die Höhe seines spärlichen Haaransatzes gewandert. „Ah. Krähen und Hunde.“ Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und zeigte Apolonia ein kurzes, unfreundliches Grinsen. „Fräulein Spiegelgold, Sie hätten nicht zur Polizei gehen sollen, wie mir scheint, sondern zu einem Arzt. Hier verschwenden Sie nicht nur Ihre, sondern auch meine kostbare Zeit. Die Polizei hat schon genug Verbrechen zu bekämpfen, die keinem Hirngespinst entspring–“
Apolonia schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wissen Sie nicht, wer ich bin! Ich wurde entführt, die Polizei ist verpflichtet, mir zu helfen!“
Der Beamte legte die Hände auf die Armlehnen und betrachtete sie mit verächtlicher Genugtuung. „Solange Sie Ihre Geschichte nicht mit Beweisen untermauern können, sehe ich mich nur meinem Verstand verpflichtet.“
„Beweise?“, schrie Apolonia. „Sehen Sie mich an! Glauben Sie, ich komme gerade vom Gottesdienst?“ Sie schob den Ärmel zurück und zeigte ihm den blutigen Schnitt an der Innenseite ihres Oberarms. „Glauben Sie, das habe ich selbst gemacht?“
Der Beamte schob sich die Brille zurecht und räumte ein paar säuberlich gespitzte Bleistifte nebeneinander. „Ich denke so einiges, Fräulein Spiegelgold, was aber nichts an den Fakten ändern wird. Die Polizei schreitet ein, wenn es handfeste Beweise für einen Gesetzesbruch gibt.“
„Ich habe eine Zeugenaussage gemacht, die genau das bestätigt!“ Apolonia konnte es nicht fassen. Die Gerechtigkeit war drauf und dran, an einer kleinlichen Büromaus zu scheitern!
„Ohne Ihnen nahe treten zu wollen: Ich erachte Ihre Aussage nicht als glaubwürdig. Zauberer und verhexte Bücher, in denen Erinnerungen gefangen sind oder Menschen oder was sonst … Ich bitte Sie.“ Der Beamte erhob sich, ging durchs Zimmer und öffnete die Tür. „Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.“
Apolonia konnte sich einen Augenblick lang nicht rühren. Dann erhob sie sich und drehte sich mit funkelndem Blick zu dem Beamten um. „Für Ihre anmaßende Impertinenz werden Sie vor Gericht stehen, das verspreche ich!“ Damit riss sie ihm die Türklinke aus der Hand und knallte die Tür so laut zu, dass es schallte.
Eine Weile stand sie nur da, fassungslos über das, was geschehen – oder nicht geschehen war. Sie fühlte sich so allein ... Aber nein – so leicht gab sie nicht auf! Sie brauchte einen Beweis? Dann würde sie einen Beweis beschaffen. Sie würde es ihnen allen zeigen, den Dichtern, der Polizei, der ganzen Welt, wenn es sein musste, und am Ende würde sie triumphieren!
„Die werden noch staunen“, knurrte Apolonia, als sie losging. Festen Schrittes verließ sie den Korridor, lief die Treppen hinunter, durch den Empfangssaal und an den dichten Trauben der Fotografen vorbei. Gerade wurde ein berühmter Verbrecher in Handschellen abgeführt. Apolonia bahnte sich mit Ellbogen einen Weg durch die Menge und setzte ein grimmiges Gesicht in den Hintergrund der Fotos.
Ein Lastzug rauschte in der Nähe vorüber und ein paar erschrockene Tauben flatterten aus den kaputten Fenstern. Ansonsten ließ sich kein Tier blicken. Die Lagerhalle lag still und verlassen da.
Apolonia öffnete vorsichtig die Hintertür. Die rostige Feuertreppe war im spärlichen Licht, das hoch oben durch die Fenster fiel, kaum auszumachen. Sie hob ein altes Holzbrett mit verbogenen Nägeln vom Boden auf und schlich, so bewaffnet, die Stufen empor.
In der Halle war niemand mehr. Die Glasscherben der Dachfenster übersäten den Boden und ein paar Kisten waren umgestoßen. Irgendwo trappelte eine Ratte durch die Unordnung und sandte Apolonia einen knappen Gruß.
Sie ließ das Brett sinken.
Die Dichter waren weg. Sie wusste nicht, ob sie das erleichterte oder besorgte.
Langsam durchschritt sie die Halle. Sie blickte in Kisten voller Papierrollen und unter verstaubte Planen, unter denen gewaltige schwarze Maschinen schlummerten. Nirgendwo ein Hinweis auf die Dichter.
Der Stuhl war noch da, auf dem Apolonia gesessen hatte, und auch die zernagten Fesseln. Apolonia hob sie auf und erwog eine Weile, ob sie als Beweis zählen würden …
Schließlich schnaubte sie und warf die Fesseln wieder auf den Boden. Was sie brauchte, war ein echter Beweis, keine faden Puzzlestücke. Seufzend ließ Apolonia die Schultern hängen. Sie fühlte sich erschöpft, war hungrig und müde. Trotzdem zweifelte sie keine Sekunde daran, dass es richtig war, noch einmal zurückgekommen zu sein. Vielleicht war es gefährlich – aber richtig. Schließlich ging es um ihre persönliche Rache an Morbus und den Dichtern. Und um Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit, die sie ihrer Mutter und ihrem Vater schuldete.
Sie entdeckte eine schmale Metalltreppe, die in ein Büro führte, von dem aus man die ganze Halle überblicken konnte. Wahrscheinlich hatte von hier aus der Fabrikbesitzer das Treiben seiner Arbeiter überwacht. Sie erklomm die Stufen und bekam die Bürotür nach einem kurzen, verbissenen Kampf mit dem Schloss auf. Durch ein eingeschlagenes Fenster wehten Schneekörner und überzogen den breiten Schreibtisch und die Bodendielen mit einem glitzernden Teppich. Fröstelnd trat Apolonia an den Schreibtisch. Ein eisiger Windhauch wirbelte ihr gegen den Mantel. Sie lehnte ihr Holzbrett an die Wand und strich den Schnee vom Schreibtisch. Feuchte alte Bücher kamen zum Vorschein. Und eine Pistole. Mit klammen Fingern nahm Apolonia die Schusswaffe in die Hand. Klein und in geschwungener Schrift waren die Initialen J. M. in den Griff eingraviert: Jonathan Morbus. Wenigstens konnte sie jetzt beweisen, dass er existierte. Apolonia schloss beide Hände um die Pistole. Ihr Zeigefinger legte sich auf den Abzug. Ob sie geladen war?
Plötzlich knarrte die Tür.
„Apol–!“
Sie fuhr herum und drückte vor Schreck den Abzug – was die Frage, ob die Pistole geladen war, beantwortete. Eine Kugel fegte quer durch das Büro und riss ein Loch in die gegenüberliegende Holzwand, genau unter Tigwids ausgestrecktem Arm.
Langsam drehte er den Kopf zurück und starrte das Loch in der Wand an. Ein Rauchwölkchen drang hervor.
„O Gott.“ Apolonia ließ die Pistole fallen. „Tigwid!“ Sie lief auf ihn zu und blieb kurz vor ihm stehen. Erst jetzt entdeckte sie einen Jungen an der Tür, der sie aus dunklen Augen ansah. Erschrocken trat Apolonia zurück, bis sie gegen den Schreibtisch stieß. Der Fremde hatte etwas an sich, das ihr eine Gänsehaut bereitete … seine Augen wirkten wie eingesetzte Glasscherben. „Was machst du hier?“, fragte sie Tigwid misstrauisch. Der Verdacht, er wollte sich an ihr rächen, brodelte unheilvoll in ihr hoch. Unbemerkt tastete sie nach ihrem Nagelbrett ... Zugegeben war das keine großartige Verteidigung gegen zwei Gegner, die größer als sie und wahrscheinlich auch kampferprobter waren, aber besser als nichts.
Tigwid starrte sie an, als sei ihm gerade furchtbar übel geworden. „Ich wollte dich retten“, sagte er mit piepsiger Stimme.
„Oh … wieso?“
Tigwid räusperte sich schwer. „Tja. Sieht so aus, als ging’s dir ganz gut.“
„Wie hast du mich gefunden?“ Apolonia merkte, wie sich der fremde Junge hinter Tigwid schlich, ohne sie aus den Augen zu lassen.
„Wir sind – sozusagen – eigentlich zufällig vorbeigekommen.“
Der widerwillig sorgenvolle, enttäuschte Ausdruck in Tigwids Gesicht strafte seine abweisende Haltung Lügen. Apolonia fühlte sich um gut dreihundert Pfund schwerer, als sie ihm in die karamellbraunen Augen sah und begriff, dass er trotz ihres Verrats nach ihr gesucht hatte. Schuldgefühle nagten an ihr. Wie grässlich!
„Tigwid, es tut mir … leid. Das mit Eck Jargo.“ Ihre Stimme war plötzlich heiser, die Worte kosteten sie Mühe. „Nun. Gott sei Dank konntest du fliehen.“
Er steckte die Hände in die Hosentaschen und warf einen Blick aus dem Fenster. „Tut mir auch leid, dass ich dich mit den Dichtern allein gelassen habe.“
„Wirklich?“, fragte Apolonia langsam.
„Nein. Eigentlich ist alles deine Schuld.“ Er lächelte zögernd. „Wo du mich so dran erinnerst, weißt du, könnte ich dir glatt eine runterhauen.“
Apolonia lächelte. Da – WHUMM – traf sie plötzlich eine Ohrfeige und ihr Kopf flog so heftig zur Seite, dass ihr die Luft wegblieb.
„VAMPA!“ Tigwid fuhr verzweifelt herum, ohrfeigte Vampa und packte Apolonia an den Armen. „Alles in Ordnung?“
Sie ließ sich blinzend wieder von ihm aufrichten und berührte ihre brennende Wange. Die Haut fühlte sich an wie gespanntes Papier.
Tigwid drehte sich zu Vampa um. „Bist du verrückt geworden?! Wofür war das denn, du Spinner!“
„Du wolltest ihr doch eine runterhauen“, sagte Vampa leise.
Tigwid starrte ihn fassungslos an. „Sie ist ein Mädchen, Vampa! Du bist ein verdammter Boxer! Du kannst sie doch nicht – ich hab das doch nicht ernst gemeint!“
„Wieso hast du es dann gesagt?“
„Was geht dich das an? Warum hab ich eigentlich das komische Gefühl, dass du mich die ganze Zeit nachmachst?“ Einen Moment lang wartete Tigwid auf eine Antwort, aber als keine kam, wandte er sich wieder Apolonia zu. „Geht es?“
Apolonia wehrte seine Hilfe ab und strich sich die Haare zurück. „Stell dich nicht an, Tigwid, es ist nur eine Ohrfeige. Ja. Und was die Tatsache betrifft, dass ich ein Mädchen bin, so ist meine Backe doch nicht verletzlicher als die von einem Jungen, oder?“
Tigwid biss sich lächelnd auf die Unterlippe. „Falls du dich trotzdem bei ihm revanchieren willst, lass deiner Wut freien Lauf. Ehrlich, du brauchst nicht zimperlich mit ihm sein, hau rein! Er ist nämlich unsterblich.“
Die drei hatten sich auf dem Ledersofa niedergelassen, das in einer Ecke des Büros stand und vom Schnee fast unberührt geblieben war. Apolonia erzählte, was sie über die Dichter erfahren hatte, wie ihr ihre Befreiung geglückt war und wie halsstarrig die Polizei sich verhalten hatte. Dann berichtete Tigwid, wie Vampa ihm bei seiner Flucht geholfen und von seinem Blutbuch erzählt hatte. Apolonia hörte ihm aufmerksam und ohne Mitleid zu, was Tigwid sehr tröstend fand. Genau ihre Sachlichkeit brauchte er jetzt, um nicht bekümmert zu werden. Oder verrückt vor Zorn.
Nur Vampa machte während der ganzen Zeit den Mund nicht auf, sondern starrte nur Apolonia und manchmal Tigwid an. Apolonia hatte ihm die Ohrfeige verziehen, oder, besser gesagt, sie erachtete den Zwischenfall angesichts ihrer eigentlichen Probleme nicht als wichtig genug, um wütend zu sein.
„Du kannst also nicht sterben“, stellte sie bloß fest und Vampa nickte langsam. „Die Dichter vermögen also nicht nur Erinnerungen in ihre Bücher zu schließen, sondern ganze Menschen. Ein ganzes Leben …“
Als sie zu Ende erzählt hatten, stand Apolonia auf, strich sich ihren Mantel glatt und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Also, meine Herren: Folgt mir. Wir holen jetzt das Blutbuch von Tigwid und gehen zur Polizei. Einen besseren Beweis als das Buch könnten wir gar nicht finden. Und wenn wir Glück haben“, setzte sie leise hinzu, „verliert ein ganz besonderer Polizeibeamter sein bisschen Verstand, wenn er es liest.“
„Nein“, sagte Tigwid entschieden.
Apolonia senkte die Arme. „Was soll das heißen? Wieso nicht?“
„In dem Buch steht meine Vergangenheit! Und die verlief nicht immer ganz gesetzmäßig, wenn du verstehst. Ich kann nicht zur Polizei, unmöglich.“
„Tigwid, hier geht es nicht um ein paar gestohlene Äpfel. Wir können die Dichter zu Fall bringen.“ Sie presste die Lippen aufeinander. „Also schön. Wenn dir wegen des Buchs Ärger beschert wird, dann verspreche ich, dass ich dir den besten Anwalt bezahle, den ich finde, und Geld spielt keine Rolle.“
Tigwid fuhr sich durch die Haare. „Es sind mehr als nur gestohlene Äpfel, Apolonia. Wenn die Polizei durch mich etwas von Mone Flamm erfährt, bin ich innerhalb der nächsten zwanzig Stunden von Kugeln durchsiebt. Mein Boss ist da nicht zimperlich.“
Apolonia musterte ihn ungeduldig. Warum musste das einzige Buch, das sie hatten, ausgerechnet Tigwids Missetaten beinhalten! Aber schließlich war sie kaum in der Position, um ihm böse zu sein. Im Stillen fragte sie sich, ob sie ihm vergeben hätte, wäre sie an seiner Stelle gewesen und er hätte Eck Jargo verraten … wenn sie darüber nachdachte, konnte sie sein Verhalten kaum nachvollziehen. Doch im Augenblick gab es Wichtigeres: ihr Elend zum Beispiel.
Geschlagen ließ sie sich wieder auf das Sofa fallen. „Na fein, hast du also einen anderen Vorschlag?“
„Also …“
Sie zog die Knie an den Körper und schlang die Arme um ihre Beine, als sie plötzlich etwas unter sich fühlte. Sie drehte sich um und zog ein dünnes Buch zwischen den Sofakissen hervor. Es war ein kleines Notizbuch. Unlesbares Gekrakel füllte die Seiten, nur ein kleines Gedicht war fein säuberlich aufgeschrieben.
„Was steht da?“, fragte Tigwid interessiert, dem der Themenwechsel gerade recht zu kommen schien. Apolonia las vor:
„Auf Erden wandeln alle blind,
geeint durchs Wort – welch loser Bund!
Verschweigt es doch, wer Menschen sind …
Hätte ich nur ein Licht im Mund!“
Sie las es noch einmal durch. „Das klingt nach den Dichtern“, murmelte sie. „Und eigentlich … ist es gar nicht so verfehlt. Wenn man darüber hinwegsieht, was die Dichter im Namen dieser Idee alles tun, könnte man glatt zustimmen.“
Tigwid blickte nachdenklich aus dem Fenster. Eine Weile schwieg er. „Glaubst du daran?“
„Woran?“
„Na, an das, was da steht. Glaubst du, dass wir blind sind? Dass unsere Worte nie ausreichen, um den anderen wirklich zu kennen?“
Apolonia sah ihn verwundert an. „Du hast das Gedicht ja verstanden.“
„Nur weil ich nicht lesen kann, bin ich nicht dumm.“
„Ich wollte dich nicht beleidigen“, sagte Apolonia. „Eigentlich bin ich überrascht, dass du … na ja. Ich glaube, man kann das Licht manchmal finden. Vielleicht versteht man manche Menschen und ihre Gefühle sogar ganz ohne Worte.“
„Das glaube ich auch“, murmelte Tigwid und sah sie an. Vernehmliche Stille trat ein.
„Ach, herrje, diese Kälte, ich werde ja ganz rot!“ Sie klatschte in die Hände und rieb sich die Finger. „Meine Nase ist bestimmt ganz rot, was? Und meine Wangen glühen, ich merke schon, diese Kälte …“
„Soll ich das Fenster … ach, ist ja keine Scheibe drin.“ Tigwid, der bereits aufgesprungen war, wiegte sich angesichts des glaslosen Fensters unentschlossen von den Zehen auf die Fersen. „Tja, ähm … Vielleicht ist Vampa ein ausreichender Beweis für die Polizei.“
„Ein Junge mit Gedächtnisschwund beweist gar nichts. Und mit seiner Unsterblichkeit kommen wir höchstens in einen Zirkus.“
„Hm.“ Tigwid kratzte sich den Hinterkopf. Vampa sah ihn an und zerzauste sich unauffällig die Haare.
Eine Weile herrschte beklommenes Schweigen. Apolonia ließ das Notizbuch sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
„Ich habe Hunger“, flüsterte sie erstickt. In Wirklichkeit war es viel mehr als das. Sie war so allein … Seit dem Tod ihrer Mutter war sie völlig hilflos. Und das Gefühl der Ohnmacht war durch das Verrücktwerden ihres Vaters bloß stärker geworden. Niemand glaubte ihr. Sie war ganz auf sich selbst angewiesen. Und jetzt war ihr kalt, sie war müde und hatte seit mehr als einem Tag nichts mehr gegessen.
„Hier! Apolonia, ich habe Brot.“
Sie hob den Kopf und sah zu, wie Tigwid sich ein halbes Brot aus der Hose fischte.
„Hast du dir das aus dem Hintern gezogen?“
Ein schalkhaftes Blitzen trat in seine Augen. „Tja, woher weißt du so was bloß immer?“
Mit einem ungewollten Grinsen nahm Apolonia das Brot entgegen und biss ab. Wenn Trost sich in etwas Essbares verwandeln könnte, es hätte für Apolonia wie dieses Brot geschmeckt. Sie zog die Brauen hoch, während sie kaute, und versuchte, nicht allzu begierig auf den nächsten Bissen zu wirken.
Tigwid begann auf und ab zu gehen. „Also, wir alle drei wollen die Dichter finden und ihnen das Handwerk legen. Die Polizei hilft uns erst, wenn wir einen Beweis haben. Ein perfekter Beweis wäre Vampas Buch.“
„Ich habe mehr als sieben Jahre lang versucht, es zu finden“, sagte Vampa.
Apolonia schluckte den letzten Bissen hinunter und legte das Brot vorerst neben sich ab. „Wo hast du Tigwids Buch gefunden?“
„Du meinst Der Junge Gabriel?“, fragte Vampa.
„So, Gabriel heißt du?“ Bevor Tigwid antworten konnte, stand auch sie auf und setzte nachdenklich einen Finger an die Lippen. „Also, Vampa? Wo hast du sein Blutbuch her?“
„Aus der Bibliothek von Professor Ferol.“
Apolonia und Tigwid starrten sich an.
„Du weißt, wo der Professor wohnt?“, fragte Tigwid mit zitternder Stimme. „Wieso hast du das denn nicht gleich gesagt? Verdammt, du – du verrückter Kerl! Den Professor knüpf ich mir vor, diesen schwammigen Bücherwurm, diesen … Vampa, als Boxer weißt du doch, wohin man schlagen muss, damit es schön wehtut? Wir prügeln einfach alles aus ihm raus, was wir wissen wollen, und dann schleppen wir ihn zur Polizei, damit er beichtet!“ Tigwids Augen leuchteten. „Glaub mir, ich weiß, wie man Leute zum Sprechen bringt. Die Dichter sind uns ausgeliefert!“
Apolonia lächelte. Wie war das doch gerade mit der Hilflosigkeit gewesen …? Wie sie sich auch eben noch gefühlt haben mochte, es schien wie weggeblasen. Vampas Unsterblichkeit und dazu sein Blutbuch waren der beste Beweis für die Schreckenstaten der Dichter – sie würden Morbus und seine Lehrlinge vernichten!
Tigwid ergriff ihre Hände. Seine Finger drückten ihre warm und fest. „Apolonia, glaub mir, wir beide –“
Die Bürotür stieß auf. Ein Polizist in blauer Uniform betrat das Zimmer, drei weitere folgten ihm.
„Wer von euch ist der Boxer aus Eck Jargo?“