Irgendwo rauschte es. Apolonia träumte, dass sie unter Wasser war. Alles an ihr war kalt und feucht, sie fror und konnte sich nicht bewegen. Haare klebten ihr im Gesicht. Hände streiften sie. Oder waren es nur die eisigen Wasserströmungen? Egal was es war, es drückte sie nieder, drückte ihr auf den Mund und erstickte sie.
Mit einem Luftschnappen kam Apolonia zu sich und riss die Augen so schnell auf, dass ihr ein Stich durch die Schläfen ging. Erst allmählich gewöhnte sie sich an das dämmrige Dunkel, und die verschwommenen Farben formten sich zu Gegenständen. Bevor sie sich fragen konnte, wo um Himmels willen sie gelandet war, entdeckte sie Vampa. Er saß direkt vor ihr und starrte sie an, als hätte er sie schon länger beobachtet.
„Wo bin ich?“ Ihre Stimme klang heiser. Sie befanden sich in einem engen, niedrigen – nun, einen Raum hätte sie dieses Loch nicht unbedingt genannt. Überall um sie türmten sich Bücher auf, verdeckten die schimmeligen Wände und dienten Vampa als Hocker. Sogar unter der zerfledderten Matratze, auf der sie lag, spürte sie etwas verdächtig Hartes, Eckiges.
„Keine Angst“, sagte Vampa. In demselben Ton hätte er auch Ich werde dich aufschlitzen sagen können.
Apolonia war nicht allzu beruhigt. „Was ist passiert?“
„Die Polizei hat Tigwid gefasst. Du hattest einen Schwächeanfall. Ich habe dich in Sicherheit gebracht.“
Apolonia runzelte die Stirn. „Wo sind wir?“
„Wo ich schlafe“, erwiderte Vampa.
Apolonia rieb sich den brummenden Schädel. „Dagegen ist Tigwids Zuhause ja reiner Luxus. Gewesen.“ Sie warf Vampa einen nervösen Seitenblick zu. Er guckte sie ja immer noch an! Selbst wenn sie es nicht zugegeben hätte, war ihr in seiner Gegenwart ein wenig flau … Genau genommen fürchtete sie sich gewaltig. Ihm war alles zuzutrauen. Und wenn er tatsächlich unsterblich war …
„Und Tigwid ist bei der Polizei?“
Vampa nickte.
„Wir müssen sofort hin und die Dinge aufklären, damit er freigelassen wird!“
Als Apolonia die braunen Decken zurückschlagen wollte, hielt Vampa sie am Handgelenk fest. Sie erschauderte, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.
„Wir können nicht zur Polizei. Sie suchen mich und der Polizist wurde vom Zug platt gemacht.“
Bilder kamen Apolonia in den Sinn … furchtbare Bilder, und gallige Übelkeit befiel sie. Sie hatte gesehen, wie jemand überfahren worden war. Und wenn sie Mitschuld trug – nein, daran durfte sie nicht denken! Nicht jetzt.
„Was sollen wir denn machen?“
„Es ist Nacht und sehr kalt draußen.“ Vampa zögerte kurz. Dann hob er die Decken hoch und legte sie Apolonia um die Schultern. Sie waren so schwer, dass sie den Rücken krümmte.
Vampa schaute schon wieder so. Wie schwarze Monde waren seine Augen auf sie gerichtet, fern und tot und doch mit unheimlicher Schärfe. „Schlaf jetzt, Apolonia.“ Seine Stimme schwang seltsam um, als er ihren Namen sagte. Als habe er ihn allein deshalb ausgesprochen, um seinen Klang mit der Zunge zu formen.
Apolonia riss sich von seinem Blick los und entdeckte ein Buch, das er auf dem Schoß liegen hatte. Es war ein dunkelroter, schwerer Foliant aus Leder.
„Was ist das?“, fragte sie.
Sofort legte Vampa eine Hand darauf, als könne das Buch aufschnappen – oder Apolonia es ihm wegreißen. „Es ist Der Junge Gabriel.“
Es dauerte einen Moment, ehe Apolonia verstand. „Tig… Gabriels Buch, das echte?“
Vampa nickte.
„Gib es mir.“ Apolonia streckte sich nach dem Buch aus, aber Vampa zog es weg. „Du kannst es nicht lesen.“
Apolonia zog die Augenbrauen zusammen. „Wieso?“
„Du hast deine Identität und Vergangenheit. Wenn du Der Junge Gabriel liest, hast du plötzlich zwei und wirst verrückt.“
Apolonia erinnerte sich an die drei Polizisten in Eck Jargo, die einen einzigen Satz in einem Blutbuch gelesen hatten. Ja, sie wusste von der Macht der Bücher. Aber hatte Morbus nicht gesagt, dass Motten fähig wären, zwei Identitäten zu tragen? Und schließlich war sie sogar resistent gewesen, als Morbus in ihre Erinnerungen eingedrungen war.
„Ich werde nicht schizophren“, sagte sie entschieden und wollte abermals nach dem Buch greifen. „Ich bin eine Motte. Gib her.“
„Nein“, antwortete Vampa leise. Er schloss beide Hände um das Buch. „Es ist …–Wer die Erinnerungen eines anderen liest, liebt ihn wie sich selbst. Das hast du selbst erzählt.“
Augenblicklich ließ Apolonia den Arm sinken. „Ach. Ich kann … Ich sollte Der Junge Gabriel besser nicht lesen.“ Sie schwieg kurz, dann sah sie Vampa fragend an. „Soll das heißen – du liebst Tigwid?“
Sie hätte schwören können, dass er errötete. Aber gewiss war es nur das Licht der Petroleumlampe, das auf seinem totenblassen Gesicht flackerte.
„Nein. Ich kann nicht lieben.“
Apolonia zog die Knie an den Körper und verfiel in nachdenkliches Schweigen. Als sie seinen kalten, reglosen Blick abermals bemerkte, wurde sie unruhig.
„Was ist denn?“, fragte sie ein wenig gereizt. „Habe ich Popel an der Nase oder was?“
„Nein. Ich … Hast du Hunger?“ Er stand überhastet auf und zog rechtzeitig den Kopf ein, um ihn sich nicht an der Decke anzustoßen. „Du hast lange nichts mehr gegessen. Du brauchst Essen, sonst bekommst du wieder einen Schwächeanfall.“
„Wo willst du hin?“
„Ich besorge dir etwas zu essen. In Ordnung?“ Irgendetwas in seinem Gesicht verzerrte sich; es schien, als versuche er zu lächeln. Er öffnete die Lippen und zeigte die Zähne. Im schummrigen Licht sah er wie ein Totenkopf aus. Apolonia lächelte nicht zurück.
„Ich bin gleich wieder da. Gleich. In Ordnung?“ Nach einem Augenblick legte er das Blutbuch behutsam auf einen Bücherstapel. Dann verschwand er hinter der Zimmerwand.
Apolonia hörte, wie seine Schritte verhallten, und überlegte, was sie nun tun sollte. Wann war sie das letzte Mal zu Hause gewesen? Es schien Jahre zurückzuliegen. Als sie den zerbrochenen Spiegel bemerkte, der über der Matratze lehnte, betrachtete sie sich: Sie sah ja aus wie eine Bettlerin! Nicht ganz ohne Ekel strich sie sich über die strähnigen Haare und die schmutzigen, bleichen Wangen. Sie fühlte sich also nicht nur, als wäre sie Jahre nicht zu Hause gewesen, sie sah auch so aus.
Mit einem Seufzen wandte sie sich vom Spiegel ab. Und ihr Blick fiel auf Tigwids Blutbuch.
„Das ist also Gabriel“, murmelte sie. Nach kurzem Zögern kroch sie unter den Decken hervor. Ihre Finger zuckten zurück, als sie das Buch berührte – doch schließlich war es ein Buch, kein Lebewesen. Was sollte schon passieren? Apolonia nahm es in die Hände und musterte den roten Ledereinband. Er war schlicht und ohne Aufschrift. Ein paar dunkelbraune Flecken von getrocknetem Blut waren zu erkennen.
Hier hielt sie also Tigwids schönste Erinnerungen in den Händen. Es war bizarr. Für einen Augenblick überlegte sie, wie es wäre, wenn ihre Erinnerungen in einem Blutbuch stünden. Wäre sie dann noch sie selbst? Was machte sie überhaupt zu ‚ihr selbst’? Vampa hatte seine Identität mit seinen Erinnerungen verloren, seine Menschlichkeit aber war ihm mit seinen Gefühlen geraubt worden. In gewisser Weise war er tatsächlich eine Leiche, ein leerer Körper, dessen Seele in einem endlosen Schlaf aus Buchstaben gefangen war. Oder? Oder hatte nur der Geist, nicht aber die Seele etwas mit Erinnerungen zu tun? Aber was war schon eine Seele, wenn nicht die Gabe zu fühlen und zu empfinden …
Apolonia strich mit den Fingern über das kühle glatte Leder und stellte sich vor, dass das tatsächlich Tigwid war. Aber nein. Dieses Buch hatte nichts mehr mit dem Tigwid zu tun, den sie kannte. Der Junge im Buch war ein Zwilling aus einer parallelen Traumwelt, nur real in der Vergangenheit, in Blut und Tinte.
Sollte sie nicht mal hineingucken? Sie war schließlich eine Motte, ein kurzer Blick konnte doch nicht schaden.
Und trotzdem traute sie sich nicht, das Buch zu öffnen, bis ihr klar wurde, dass sie sich nicht traute – da atmete sie tief ein und fasste Mut. Resolut klappte sie den Buchdeckel auf.
Die erste Seite war gelblich und leer. Die zweite auch. Gleich musste sie sich auf die Macht der Wahren Worte gefasst machen. Ihre Finger zitterten, als sie umblätterte. Auf der dritten Seite stand geschrieben:
Der Junge Gabriel.
Von Professor Rufus Ferol:
Das Neunzehnte Buch.
Sie starrte die Worte eine Weile an. Aber sie spürte nichts Außergewöhnliches, außer dem kalten Wassertropfen, der von der Decke in ihren Nacken gefallen war. Sie wischte sich das Wasser wütend weg und blätterte um.
Eine Zeichnung aus dunkelroter Bluttinte füllte die Seite aus. Apolonias Herz blieb stehen.
Die Zeichnung war Tigwid.
Er sah sie an, direkt aus der Tinte heraus, er war es, ganz unverkennbar, so unglaublich echt, dass Apolonia der Atem stockte und sie sich nicht regen konnte, als sehe er sie an, wohlwissend, dass sie seine geheimste Wahrheit in den Händen hielt und soeben dabei war, sie zu ergründen. Sie konnte sich nicht von der Zeichnung losreißen. Auf die Schrift war sie gefasst gewesen, ja – aber das … die schiere, unglaubliche Echtheit, die Schönheit der Zeichnung war überwältigend.
Erst als Apolonia Geräusche hörte, klappte sie das Buch hastig zu, legte es auf den Stapel zurück und rollte sich in die Decken. Ihr Herz raste. Noch immer sah sie die Zeichnung vor ihren geschlossenen Augen, als hätte sie sich in ihre Netzhaut gebrannt.
Schritte näherten sich. Dann trat jemand zwischen sie und die Petroleumlampe und warf einen Schatten über sie. Apolonia tat, als wäre sie eingeschlafen – wenn sie sich jetzt Vampa zuwandte, würde er ihr bestimmt von den Augen ablesen können, was sie gesehen hatte.
Sie hörte, wie Stoff raschelte, als Vampa in die Hocke ging. Sein Atem ging schnell, er musste gerannt sein. Plötzlich berührte er eine Strähne ihrer Haare. Ganz vorsichtig nahm er sie in die Hände und strich mit den Fingern darüber.
Erschrocken drehte sie sich um. Er starrte sie an – und für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als sei da eine Regung in seinen Augen. Ein Schimmer von Entsetzen. Er ließ ihre Haare los und wich so hastig zurück, als hätte er sich verbrannt.
„Ich habe Essen geholt“, sagte er schnell und hob einen riesigen Hochzeitskuchen an, den er auf einem Bücherstapel abgelegt hatte. Seine Finger gruben Dellen in die Sahnewände, als er Apolonia den Kuchen hinhielt.
Apolonia richtete sich auf. „Wo hast du denn den her?“
„Aus einer Konditorei.“
„Welche Konditorei hat jetzt noch offen? Ich dachte, es wäre Nacht.“
„Die Konditorei war nicht offen.“
„Verstehe.“ Apolonia sah ihn misstrauisch an, wie er ihr so den Kuchen anbot, als würde er erwarten, dass sie ihr Gesicht hineintauchte. Schließlich bohrte sie ihren Zeigefinger in die Sahne und kostete. „Hm.“ Es schmeckte köstlich. „Wieso eine Hochzeitstorte?“
„Die Brote waren alle noch nicht gebacken. Und … ich dachte …“
„Du dachtest, für jemanden wie mich wäre etwas Exquisiteres angebracht.“
Vampa nickte.
Apolonia bohrte noch einmal den Finger in den Kuchen und schleckte ab. „Hast du Besteck?“
Vampa sah sie an, als hätte sie in einer fremden Sprache gesprochen.
„Also nicht.“ Sie zögerte. „Wenn ich das hier mit den Fingern essen soll, dann musst du dich umdrehen. Man guckt sich nicht beim Essen zu, wenn man gezwungenermaßen wie ein Schwein isst. Verstanden?“
Wieder nickte Vampa, dann stellte er behutsam den Kuchen vor ihr ab, drehte sich um und stützte die Arme auf die Knie. Apolonia vergewisserte sich, dass er nicht zu ihr zurückschielte, dann griff sie vorsichtig mit der Hand in den Kuchen und stopfte sich alles auf einmal in den Mund. Köstlich!
Eine Weile futterte sie leise in sich hinein und Vampa starrte die Wand an. „Apolonia?“
Sie verschob einen Riesenbissen in die linke Backe. „Hm?“
„Es … tut mir leid wegen der Ohrfeige.“
Sie schluckte hinunter. „Nun. Was geschehen ist, ist geschehen.“
Vampa zögerte kurz. „Aber ich wünschte, es wäre nicht geschehen.“
„Vergiss es einfach.“ Wenn er es jetzt so bereute, warum hatte er es dann überhaupt getan?
Er wollte sich zu ihr umdrehen, da fiel ihm auf, dass sie noch aß, und er wandte sich gehorsam wieder der Wand zu.
Als ihr größter Hunger gestillt war, erwachte Apolonias Mitgefühl. Sie nahm eine Hand voll Kuchen und fragte: „Willst du denn nichts essen?“
„Ich … doch …“
„Streck die Hand aus.“ Apolonia ließ den Kuchen in seine Hand fallen und ihre Finger berührten sich.
„Danke“, murmelte er.
Apolonia setzte sich zurück und betrachtete ihn, während sie aßen. Vampa war nicht gerade zart gebaut, trotzdem verhieß seine Statur kaum die Kraft, die er besaß. Sein Rücken war schmal und der weiße Nacken, der unter dem dunklen Haar sichtbar war, wirkte fast mädchenhaft. Dabei fiel Apolonia auf, dass sich etwas verändert hatte … Sie runzelte die Stirn. Waren seine Haare nicht vorhin noch zehn Zentimeter kürzer gewesen?