Caer Therin

 

 

Sie verließen die Stadt und der Lärm der Menschen verklang jenseits der Fenstervorhänge. Bald war nur noch das Rattern der Kutsche zu hören, das Schnauben der Rösser und gelegentlich ein Rabenkrächzen. Apolonia warf wieder einen Blick nach draußen und erspähte eine verschneite Welt aus Feldern, Dörfchen und Wäldern. Die Aussicht wurde von kahlen Pappeln durchschnitten, die in immergleichen Abständen die Straße säumten. In der Ferne hörte sie das Läuten von Kirchenglocken.

Immer noch drehte sie den Brief in den Fingern, rollte ihn zu einer unförmigen Papierwurst und glättete ihn wieder. Gedanken, Ängste und Hoffnungen tanzten ihr durch den Kopf, doch sie war zu erschöpft, um daran festzuhalten. Vampa saß mit leerem, dunklem Blick neben ihr, seine Hände lagen auf dem Blutbuch. Ob er nachdachte? Es schien ihr sinnlos, ihn zu fragen. Für eine Weile schloss sie die Augen. Ihr Kopf schaukelte angenehm mit dem Rumpeln der Kutsche hin und her. Sie musste an ihre Tante denken, das katzenhafte Lächeln und die schnurrende Honigstimme … dachte an die Polizei und eine vage Unruhe befiel sie wieder … Sie dachte auch an Tigwid und sah sein Gesicht vor sich; das gezeichnete im Blutbuch und das wirkliche. Ob er tatsächlich in irgendeiner Zelle saß, zwischen dicken Steinwänden? Kurz kam ihr der Gedanke, er habe sich bereits befreit, mit irgendeinem Trick, den man nur als ausgebuffter Ganove kannte … Aber natürlich war das unmöglich, nicht mal Tigwid konnte aus dem Gefängnis ausbrechen. Selbst mit seinen Mottengaben und übrigen verbrecherischen Talenten nicht. Und doch – irgendwie fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, dass er einer Situation hilflos ausgeliefert war. Warum bloß? Ja, warum eigentlich … Ganz unbemerkt überkam sie der Schlaf.

 

Apolonia öffnete überrascht die Augen, als die Kutsche mit einem Ruck anhielt. Sie richtete sich so schnell auf, dass es in ihren Ohren sirrte, und sah sich nach allen Seiten um.

„Wo sind wir?“, fragte sie und schob den Fenstervorhang zur Seite. Sie sah, wie der Kutscher an den Pferden vorbeilief und ein hohes Eisentor öffnete. Die Kutsche stand auf einem breiten Kiesweg, der sich in die Höhe schlängelte. Auf ihrer Seite fiel der Weg in einem sanften Hang ab, auf dem sich eine Kolonie von knotigen Obstbäumen aus der Erde stemmte. Unterhalb des Gartens hockten aneinander gedrängte Bauernhöfe und rauchten aus verschneiten Kaminen. Das also war Caer Therin. Es war mehr ein zusammengewürfeltes Häufchen von Häusern als ein Dorf.

Noch weiter weg überzog ein dichter Wald die Landschaft; und dahinter, wie ein unförmiges, schmuddeliges Geschwür im weißen Gesicht der Welt, konnte Apolonia die Stadt ausmachen. Sie fühlte sich ein wenig bedrückt, als sie daran dachte, dass ihr ganzes Leben in diesem gräulich-braunen Fleck menschlicher Betriebsamkeit stattgefunden hatte, der flach zwischen Erde und Himmel klebte. Es kam ihr klein und unbedeutend vor.

Die Peitsche knallte. Der Kutscher war wieder aufgestiegen. Pferdehufe knirschten auf Kies und Eis und die Kutsche setzte sich erneut in Bewegung. Sie fuhren durch das Eisentor und gespenstische Eichen verschluckten die Aussicht auf die Obstgärten und Dörfer und die ferne Stadt. Apolonia strich sich über Augen und Stirn, um die Müdigkeit zu vertreiben, und ordnete, so gut es ging, ihre Haare. Sie fühlte ein paar grässliche Knoten, an denen sie sich später, wenn sie sich endlich wieder kämmen und waschen konnte, gewiss ein paar hundert Haare ausreißen würde. Nervös spähte sie aus dem Fenster. Sie fuhren in eiligem Tempo den Kiesweg hoch, die Schatten eines Wäldchens hetzten durch die Kutsche. Nach einer Weile machte der Weg eine Biegung und die Bäume wichen zurück. Vor ihnen eröffnete sich ein langer Garten. Gut hundert Meter weiter bildeten verschneite, zu schlanken Kegeln gestutzte Heckenbüsche einen Halbkreis um eine Terrasse mit einer weitläufigen Treppe und einem Springbrunnen. Die Terrasse führte zu dem imposantesten Haus, das Apolonia je erblickt hatte.

Nun, es war nicht direkt ein Haus – eher ein Schloss. Das Hauptgebäude wurde von Türmen flankiert, die aus dem Boden und aus anderen Türmen hervorsprossen wie schwarze Pilze. Die zarten Schneehauben konnten den spitzen Dächern kaum ihre Bedrohlichkeit und schon gar nicht ihre erdrückende Mächtigkeit nehmen. Das Anwesen wirkte düster, obwohl die Fassade von unzähligen Fenstern durchzogen war, deren dunkles Glas die Wälder ringsum reflektierte. Es war ein Anblick von so unzweifelhaftem Reichtum, dass Apolonia unweigerlich den Atem anhielt – was ganz sicher der vom Besitzer gewünschte Effekt war.

„Da sag noch mal einer, der Adel sei verarmt“, murmelte Apolonia vor sich hin, während sie sich dem herrschaftlichen Schloss in einer Wegkurve näherten. Wie konnte es bloß sein, dass sie nie von dem Grafen von Caer Therin gehört hatte? Allerdings wollte Apolonia sich von der Pracht des Anwesens nicht zu sehr beeindrucken lassen. Gut möglich, dass das Schloss alles war, was der Graf besaß. Wieso sonst würde man in dieser Abgeschiedenheit leben, fernab der Stadt und ihren Möglichkeiten?

Die Kutsche hielt auf einem runden Platz, der sich an die Hinterseite des Hauptgebäudes schmiegte und einen Springbrunnen in seiner Mitte präsentierte. Die verschwenderisch breite Haustür wurde sogleich geöffnet, als Apolonia und Vampa ausstiegen, und ein Diener mit hochgeschlossenem Frack eilte ihnen entgegen.

„Fräulein Apolonia Spiegelgold?“ Der Diener verneigte sich, als Apolonia nickte. „Sie werden bereits erwartet. Wenn Sie erlauben?“ Er wies zum Haus und verneigte sich abermals, als er Apolonia und Vampa den Vortritt ließ. Apolonia steckte den mittlerweile ziemlich mitgenommen aussehenden Brief in ihre Manteltasche und trat durch die Haustür.

Zwei geschwungene Wendeltreppen aus Eichenholz, flankiert von geschnitzten Engeln so groß wie Apolonia, führten aus der Eingangshalle ins Innere des Hauses. Der Boden war mit weißen und schwarzen Marmorplatten gefliest. Hoch über der Haustür fiel Licht durch die Fenster und malte helle Streifen auf die rötlich schimmernden Holztüren, die rechts und links der Treppen die getäfelten Wände durchzogen.

„Ihre Tante wartet im ersten Stock, mein Fräulein.“ Der Diener wies eine der Treppen empor und wartete geduldig, bis Apolonia sich vom Anblick der eindrucksvollen Eingangshalle gelöst hatte.

„Komm, Vampa“, sagte sie überflüssigerweise, denn er wich nicht von ihrer Seite und folgte sogar ihrem Blick überallhin. Der Diener ließ ihnen wieder den Vortritt und trippelte hinter Apolonia hinterher.

„Wenn Sie gestatten, der Korridor ganz links.“ Sie erreichten den balkonartigen Vorsprung über den Treppen und gingen bis zum Korridor ganz links. Ein Gemälde von einem Mädchen, das beim Lesen eines Buches weinte, bedeckte den Großteil der Wand.

Der Korridor blickte durch eine Vielzahl von Fenstern auf den Wald des Anwesens hinaus. Die karamellbraune Wandtapete fing das Tageslicht auf und glänzte matt wie aus zahllosen Augen. Bei genauerem Hinsehen machte das verwirrende Muster Apolonia beinahe schwindelig.

Der Gang mündete in ein schmuckes Vorzimmer. Der Diener vollführte abermals eine umständliche Verneigung.

„Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Ich vergaß zu fragen, ob ich Ihren Mantel waschen lassen soll, Fräulein Spiegelgold. Und natürlich auch den Ihren, junger Herr“, fügte er mit einem zögerlichen Blick auf Vampa hinzu. Apolonia wippte ungeduldig mit dem Fuß auf und ab, während der Diener sich vor ihr wand. Sie hatte keine Zeit, sich mit Höflichkeiten aufzuhalten. Mit einer einzigen Schulterbewegung schüttelte sie ihren Mantel ab, pellte sich aus den Ärmeln und übergab ihn dem Diener.

„Hier, danke. – Nein, du nicht.“ Energisch zog sie Vampa den Mantel vor der nackten Brust wieder zu. Dann wandte sie sich an den Diener. „Wo ist meine Tante?“

„Dieses Zimmer, mein Fräulein.“ Der Diener hatte sich ihren Mantel bereits über den Arm gelegt und klopfte an die Tür. Gedämpft erklang die Erlaubnis einzutreten und der Diener öffnete Apolonia und Vampa.

Es war ein helles Zimmer mit einer pfefferminzgrünen Tapete und einem minzgrünen Teppich. Das Mobiliar war, wie im ganzen Haus, in dunklem Holz gehalten, die Fenster hatten keine Vorhänge, dafür waren sie in lackierte Rahmen gefasst. Vor einem der Fenster stand Nevera Spiegelgold und drehte sich zu ihnen um.

Sie trug ein hauchdünnes, blutrotes Chiffonkleid, das entweder Unterwäsche oder sehr gewagt war. Ihr dunkelblondes Haar war im Nacken zu einem eleganten Knoten gesteckt und auf ihrem katzenhaften Gesicht lag eine Mischung aus Sorge und Erleichterung. Wenn sie tatsächlich von den Dichtern entführt worden und das Ganze eine Falle war, hatte man Nevera zumindest genug Zeit gelassen, sich herauszuputzen. Sie breitete die Arme aus und schwebte durch das Zimmer auf Apolonia zu, während ihr Zigarettenrauch aus dem Mund waberte. Apolonia hörte, wie der Diener diskret die Tür schloss.

„Meine Liebe!“ Mit einer Hand, zwischen deren Zeige- und Mittelfinger der Zigarettenhalter klemmte, strich Nevera ihr über das Kinn und umarmte sie zart. Dann wanderte ihr Blick zu Vampa. Ihre perfekt geschminkten Augen glänzten verstört.

„Ich … ich bin, bin froh, dass du so heil hier …“ Nevera verstummte, als sie sich nicht von Vampas Gesicht losreißen konnte. Sie schluckte hörbar.

„Guten Tag, Nevera“, sagte Apolonia. „Darf ich vorstellen, das ist Vampa. Hoffentlich stört es Sie nicht, dass ich ihn mitgebracht habe.“

Nevera rang um ein Lächeln. „Durchaus nicht.“ Sie zog an ihrer Zigarettenspitze und verbarg ihr Gesicht einen Moment lang hinter einer Rauchwolke.

„So kommt – setzt euch! Ich habe leider nur Frühstück für dich anrichten lassen, Apolonia, ich werde gleich noch nach einem Teller und einer Tasse für unseren Gast schicken.“ Sie tänzelte zu einem ovalen Tisch, den mit grünem Samt bezogene Sofas umstellten. Brötchen, Toast und Croissants standen mit Marmelade, Honig und verschiedenen Käsesorten bereit, dazu gab es Rührei und Tee, Milch und duftenden Kaffe.

Nevera ließ sich auf einem der Sofas nieder und klingelte mit einem Glöckchen. „O bitte, nehmt Platz, setzt euch!“ Sie wies mit ihrer Zigarette auf die umstehenden Sofas und Apolonia und Vampa setzten sich nebeneinander. Kaum hatte Nevera das Glöckchen wieder auf den Tisch gestellt, öffnete sich eine Nebentür und ein Diener erschien. „Frau Spiegelgold?“

„Bring noch Teller und Tasse für eine dritte Person.“

„Wie Sie wünschen.“ Er verschwand geräuschlos.

Nevera kämpfte offensichtlich gegen den Drang an, Vampa offen anzustarren. Verkrampft lächelte sie Apolonia an und befühlte den freizügigen Ausschnitt ihres Kleides. „So, und nun, nun erzähle mir, meine Liebe – erzähle mir alles und wie dir diese schrecklichen Dinge zustoßen konnten.“ Bevor Apolonia den Mund auch nur öffnen konnte, seufzte Nevera weiter: „Ich habe mich so gesorgt, meine Liebe! Wenn du wüsstest, was für ein Schock es war, die Polizei zu empfangen, nachdem du verschwunden warst! Wieso bist du eigentlich verschwunden? Aber nein – mach dir keine Sorgen, ich bin dir nicht böse. Gewiss hattest du deine Gründe und du kannst sie mir anvertrauen. Ich höre dir zu. Es hat mich nur alles sehr mitgenommen, dein leeres Zimmer, dein verzweifeltes Kindermädchen, die schreckliche Furcht um dich …“ Nevera schloss ergriffen die Augen.

„Es war auch für mich ein Schock“, erwiderte Apolonia, während sie daran dachte, was sie alles erlebt hatte. Doch in Neveras unbeschwerter Gegenwart, zwischen Samtkissen und frischen Brötchen, begannen all die schrecklichen Strapazen zu verblassen … War sie wirklich vor zwei Tagen noch durch die düstersten Winkel von Eck Jargo geflüchtet? Jetzt, wo sie ein wenig Zeit hatte, darüber nachzudenken, konnte sie kaum fassen, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte. Das hieß – in der größten schwebte sie noch.

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Tante, darf ich Ihnen zuerst einige Fragen stellen?“

Nevera drückte ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus, zog eine neue aus einem Silberetui und steckte sie in ihren schwarzen Halter. „Aber gewiss, meine Liebe. Wir haben viel zu besprechen und dafür alle Zeit der Welt.“

Apolonia wollte nach dem Brief greifen, als ihr einfiel, dass sie ihren Mantel ja abgegeben hatte. Ärgerlich über sich selbst zog sie die Hand zurück. „Erst einmal der Brief. Wie haben Sie das geschafft?“ Ihre eigentliche Frage war, ob die Dichter sie dazu gezwungen hatten – doch Neveras Gelassenheit ließ die Furcht vor einer Falle mehr und mehr schwinden.

Nevera zündete ihre Zigarette an. Der Rauch umschmiegte ihr hohlwangiges Gesicht. In diesem Moment öffnete sich die Tür und der Diener von eben erschien mit Geschirr für Vampa. Er deckte den Tisch und faltete die Serviette mit so viel Sorgfalt zu einem stehenden Dreieck, dass Apolonia ihm am liebsten auf die Finger geschlagen hätte. Dann deutete er endlich eine Verneigung an und fragte: „Haben Sie noch einen Wunsch, Madame?“

Nevera wies auf Apolonia. „Was möchtest du trinken, Apolonia? Und du, Vampa?“

Apolonia wollte bloß, dass der Diener verschwand und sie ihr eigentliches Gespräch weiterführen konnten. „Schwarzer Tee, drei Teelöffel Milch, den Honig gebe ich selbst dazu. Danke.“ Sie bedeutete dem Diener, dass er genug in ihre Tasse geschenkt hatte.

„Der junge Herr?“, fragte der Diener.

Vampa nickte bloß.

„Wünschen Sie dasselbe?“

Vampa räusperte sich leise. „Ja. Tee.“

Apolonia betrachtete ihre schmutzigen Fingernägel, während der Diener auch ihm Tee einschenkte. Dann schaute sie zu Nevera. Ihre Tante beobachtete Vampa mit einem unergründlichen Ausdruck. Kurz überfiel Apolonia Scham, als sie an Vampas unmöglichen Aufzug dachte, doch sie ahnte, dass das nicht der Grund für Neveras starren Blick war.

„Du kannst gehen“, sagte Nevera und winkte den Diener fort. Als die Tür ins Schloss fiel, wiederholte Apolonia ihre Frage: „Wie konnten Sie dem Marder den Brief geben?“ Es so klar auszusprechen bereitete ihr fast eine Gänsehaut. Natürlich gab es nur eine Antwort – und die kannte sie genauso gut wie ihre Tante.

Mit einem Blinzeln wanderte Neveras Blick von Vampa zu Apolonia und sie lächelte. „Apolonia … süße Apolonia. Wir sind eine Familie, nicht wahr? Ich bin die große Schwester deiner Mutter … verstehst du?“

Apolonia nickte erwartungsvoll. Ein Kloß stieg ihr in den Hals.

„Natürlich war ich der schönen Magdalena schon immer unterlegen, was all unsere Begabungen betraf. Und doch – du siehst, ich habe es geschafft, dir meinen Brief zukommen zu lassen.“

„Das heißt … Sie können das auch … wie ich? Mit den Tieren?“

Ein merkwürdiges Leuchten glitt durch Neveras stahlblaue Augen. „Oh, ich maße mir nicht an, meine Fähigkeiten mit den deinen zu vergleichen. Du hast Magdalenas Talent geerbt. Auf mich hat es nur abgefärbt, so wie ein unbedeutendes Geschöpf im schönen Licht des Mondes selbst überirdisch scheinen mag.“

Apolonia schwieg, da die Wahrheit sie sprachlos machte. Nevera … ausgerechnet ihre Tante Nevera war die ganze Zeit eine Motte gewesen und sie hatte es nicht bemerkt. Endlich bekam sie heraus: „Sie wussten, dass ich es konnte? Seit wann?“

Nevera zupfte einen imaginären Tabakkrümel von ihrer Unterlippe. „Ich ahnte es die ganze Zeit. Ein Talent, wie Magdalena es hatte, geht über eine Generation schließlich nicht verloren. Genau weiß ich es natürlich erst seit diesem Augenblick. So wie du von mir.“

„Wieso haben Sie es für sich behalten?“, fragte Apolonia verwirrt.

„Hast du denn die deinen nicht ebenfalls für dich behalten? Das ist unser Los, Apolonia. Das weißt du.“ Ihre Stimme war längst nicht mehr so honigsüß und hauchend wie sonst. „Hat dir schon einmal jemand gesagt, wieso man Menschen wie uns Motten nennt?“

Apolonia zuckte kaum merklich zusammen, als Nevera das Wort aussprach. Es klang unwirklich, Motten aus Neveras Mund zu hören. Nie hatte jemand außer ihr in einem ernsthaften Gespräch Motten erwähnt – dass ausgerechnet Nevera das jetzt ändern sollte, schien vollkommen absurd.

„Ich weiß es nicht“, gestand Apolonia.

„Natürlich nicht, wer sollte auch mit dir darüber sprechen? Du hast ja selbst bis jetzt nicht geglaubt, dass du eine Motte bist.“ Sie wich Apolonias misstrauischem Blick aus und tat einen weiteren Zug. Anmutig legte sie einen Arm über die Sofalehne und schlug die Beine übereinander. Ihre Augen fixierten irgendeinen fernen Punkt hinter Apolonia. „Wir, Apolonia, du und ich und unseresgleichen – wir flattern durch den Lärm der schreienden Menschen, passen uns an, sind unentdeckt und unscheinbar wie Motten … Natürlich gibt es noch einen anderen Grund, wieso sich unser Name bei dem einfachen Volk eingebürgert hat. Schmetterlinge, im Griechischen Psyche genannt, symbolisieren seit jeher die Seele und die Verbindung zwischen dem Menschen und allem Göttlichen. Für die Leute sind wir genau das Gegenteil, Motten, die schwarzen Zwillinge des Schmetterlings, die Wesen der Nacht; unsere Gaben verkörpern die Verbindung zwischen Mensch und Teufel. Natürlich ist das völliger Schwachsinn … – Willst du etwas essen, meine Liebe?“ Sie schob ihr den Korb mit den Brötchen und Croissants zu.

Apolonia nahm sich ein Mohnbrötchen und strich mechanisch Himbeermarmelade darauf, dann machte sie einen viel zu großen Bissen und schluckte überhastet hinunter. Vampa nahm sich nichts – die Tatsache, dass er sie nicht nachahmte, überraschte Apolonia schon fast. Sie warf ihm einen Seitenblick zu und erkannte, dass er gebannt Nevera anstarrte.

„Apolonia?“, fragte Nevera sanft. „Möchtest du mir jetzt vielleicht erzählen, was in den vergangenen Tagen geschehen ist? Ich weiß nur das, was die Polizei mir gesagt hat und was ich in den Zeitungen lesen konnte. Demnach gehe ich davon aus, dass Vampa … der Boxer aus Eck Jargo ist?“ Sie runzelte zögernd die Stirn.

Apolonia legte das Brötchen auf ihren Teller und schluckte. „Wie Sie gesagt haben, wir sind eine Familie. Und ich kann auf Ihre Hilfe zählen, nicht wahr, Tante? Wo wir beide doch dasselbe wissen und können?“

Nevera nickte. „Du musst mir nichts verheimlichen, meine Liebe.“

Apolonia holte tief Luft. „Tante, ich werde verfolgt. Man will mich umbringen oder noch Schlimmeres, fürchte ich.“

Nevera beobachtete sie reglos. Der Rauch ihrer Zigarette stieg in wabernden Fäden an ihrem Gesicht empor.

Apolonia fuhr unbeirrt fort und versuchte, so sachlich und verständlich wie möglich, zu erklären. „Die Leute, die mich verfolgen, nennen sich Dichter und es sind … sie sind Motten. Sie sind Verbrecher. Sie sperren Menschen mithilfe ihrer Gaben in Bücher, um die schönsten, wahrsten Geschichten der Welt zu erschaffen. Sie machen vor nichts und niemandem Halt, Tante. Vampa ist eines ihrer Opfer.“ Apolonia war leiser geworden, doch ihr Blick erwiderte Neveras fest. „Er hat keine Vergangenheit und kann nicht sterben. Die Dichter haben ihm alles genommen, seine Erinnerungen und seine Gefühle. Sie haben es auch bei mir versucht. Ihr Meister, Jonathan Morbus, wollte mir die Erinnerungen an Magdalena nehmen. Ich weiß nicht wieso, aber sie wollten, dass ich eine von ihnen werde, und hätten mich dabei fast umgebracht. Ich brauche Ihre Hilfe, Nevera – nicht nur, um dieses entsetzliche Missverständnis mit dem toten Polizisten aufzuklären. Sie müssen mir helfen, die Dichter anzuzeigen. Weil Sie wissen, dass es Motten gibt, und es bezeugen können. Ich schwebe in Lebensgefahr, solange Morbus auf freiem Fuß ist. Außerdem … Ich bin mir sicher, dass sie Magdalena ermordet haben. Die Dichter sind ihre Mörder.“ Apolonia hatte die Fäuste im Schoß geballt. Nevera schwieg.

„Glauben Sie mir?“ Apolonias Stimme zitterte. „Helfen Sie mir, Nevera? Es … es geht um mein Leben.“ Sie schluckte, ihr Hals war schrecklich trocken. „Und es geht um meine Mutter. Ihre Schwester.“

Nevera zog an ihrer Zigarette und tippte die Asche in den Aschenbecher. „Wieso wollten diese Dichter, dass du dich ihnen anschließt?“

Apolonia blickte ihre Tante nur an. Ihr Herz pochte schnell und schwer, sie spürte jeden Schlag dumpf in der Brust. „Ich …“ Sie räusperte sich mühsam. „Sie sagten, meine Gaben seien unentbehrlich für sie.“

Nevera deutete auf Apolonias Tasse. „Nimm einen Schluck, meine Liebe, für deine Stimme.“

Apolonias Finger schlossen sich zitternd um den Griff und sie führte die Tasse an die Lippen, ohne sich fähig zu fühlen, einen Schluck zu nehmen.

„Du musst keine Angst haben“, sagte Nevera, mit einer Stimme, die nichts mehr von dem süßen Ton von früher hatte. „Ich werde gut auf dich aufpassen und niemand wird dir Schaden zufügen, solange du in meiner Obhut bist. Schließlich bist du meine Nichte.Und ich bin die Schwester deiner Mutter … und schließlich sind deine Gaben unentbehrlich für uns.“

Apolonia würgte, als ihr der heiße Tee die Kehle hinabrann. Sie stellte die Tasse leise klirrend ab und griff nach der Serviette. Ohne Nevera ansehen zu können, presste sie sich den Stoff auf die zitternden Lippen.

Nevera blies den Qualm zur Seite und beobachtete seinen trägen Tanz in der Luft. „Du hattest recht, Apolonia, von Anfang an. Es gibt einen verbrecherischen Mottenbund. Ihr einziges Ziel ist es, dich zu finden. Und zu töten. So wie deine Mutter.“

Apolonia schwindelte. Ihr Magen zog sich zusammen, sie rang nach Atem. Ihr Blick fiel auf die Serviette, um die sich ihre verkrampften Finger geschlossen hatten. Zwei Buchstaben waren eingestickt. Die Initialen des Hausherrn.

J. M.