Der Himmel war von rosafarbenen und goldgelben Wolkenschleiern verhüllt, die in sanften Wirbeln bis zum Horizont liefen. Vor ihm erstreckte sich ein endloses Feld von Wildblumen: Blutroter Klatschmohn und schulterhohe Veilchen, riesenhafte Orchideen und Wasserlilien wisperten in der warmen Brise. Tigwid hielt vor Staunen und Glück den Atem an. Er streckte die Hände aus und berührte die Blüten mit den Fingerspitzen. Eine Sonne, die von überall und nirgends strahlte, erwärmte sein Gesicht und tauchte ihn in den herrlichen, süßen Duft der Seeligkeit.
Tigwid …
Erst als er ihre Stimme hörte, wurde ihm bewusst, wer er war – Tigwid, natürlich! War er je ein Bandit namens Jorel gewesen oder der Waisenjunge Gabriel, so schien es ein ganzes Leben hinter ihm zu liegen. Er war Tigwid, nur noch Tigwid. Er war, was auch immer sie ihn nannte.
„Apolonia?“, flüsterte er in die tiefen, bunten Wiesen. Das Gras rauschte lauter. Er war sich nicht sicher, ob er darin eine Stimme hörte, ihre Stimme, die seinen Namen hauchte, als atmete sie den Klang. Er drehte sich. Die Gräser schienen höher geworden zu sein, er sah kaum mehr den Horizont. Ein aufbrausender Wind heulte durch die Felder und bog die Mohnblumen.
„Apolonia? Bist du da?“ Er blinzelte. Das Licht war plötzlich verschwommen, die rauschenden Blumen zerliefen ineinander. Gleißende Streifen aus Farbe und Dunkelheit spülten an ihm vorbei.
Tigwid!
Die Stimme war ein dumpfes Fauchen, das den Boden vibrieren ließ. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin brüllte der Wind in die entgegengesetzte Richtung, die Gräser blähten sich auf und grelle Farbtentakel sprossen in die Höhe. Aus der Erde kroch tiefes, sattes Tintenschwarz empor und verfinsterte das farbenfrohe Feld. Irgendetwas tanzte durch die Luft … Es sah aus wie Ascheflocken … Tigwid spürte, dass er sank. Er riss erschrocken den Mund auf, konnte aber nicht schreien. Die Finsternis fasste nach seinen Schultern und er spürte einen gleißenden Schmerz irgendwo am Oberkörper. Dann war alles dunkel.
Er lag oder stand oder schwebte, genau konnte er es nicht sagen. Ein rasselndes Geräusch näherte sich ihm. Es schwoll an, wurde lauter, kam von überall – es war das Geräusch schlagender Flügel und zischender, schnarrender, quietschender Insekten. Die Dunkelheit rings um Tigwid war gar keine Dunkelheit. Es waren Tausende und Abertausende flatternder Motten. Und nun spürte Tigwid, dass er selbst eine von ihnen war.
Seine schuppigen schwarzen Flügel schlugen schnell und heftig und bereiteten ihm brennende Schmerzen in der Schulter. Irgendwo hier war Apolonia. Doch wie konnte er sie finden? Es gab ja kein Licht!
„Apolonia!“ Er schrie und hörte sich selbst kaum. „Das Licht! Finde Licht! Du bist blind in dieser Schwärze!“
Das Gezischel und Geflatter war ohrenbetäubend. Fremde Flügel streiften und schlugen ihn und das Grauen überkam ihn in einer Welle von Übelkeit.
„Aufhören! Bitte …“ Er wimmerte kläglich und gab das panische Flattern auf. Er stürzte und taumelte durch das Gedränge, fiel immer tiefer, wurde geschubst und niedergedrückt. Zuletzt landete er hart auf der schwarzen Erde. Sein zerbrechlicher Körper zitterte. Die Geräusche der Motten verschwammen … Nichts blieb mehr, Tigwid lag in stille Nacht gehüllt da wie in einem dichten Kokon. So schlief er Jahrhunderte … Wenn er erwachte, was würde er werden? Ein dunkler Nachtfalter? Ein Schmetterling?
Aus weiter Ferne und doch ganz nah erreichten ihn fremde, vertraute Stimmen.
„Hörst du, er spricht im Fieber.“
„Habt ihr Erasmus Bescheid gesagt, dass er hier ist?“
„Er ist schon auf dem Weg.“
„Glaubst du, wir können das Mädchen finden, bevor es zu spät ist?“
„Wenn der Junge wieder zu sich kommt, hoffentlich. Beruhige dich, Mart.“
„Was meinst du, wird er überleben?“
„Ich glaube, ja.“
Apolonia starrte die Initialen auf der Serviette an. Morbus. Jonathan Morbus war der Graf von Caer Therin. Und Nevera …
Ihre Tante inhalierte tief den Zigarettenqualm, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Schätzchen, du bist aschfahl. Stimmt etwas nicht?“
„Morbus.“ Ihre Stimme versagte, man hatte das Wort kaum gehört. „Morbus und die Dichter, Nevera …“
„Beunruhigt dich das, meine Liebe? Dass ich die Dichter befehle?“ Nevera flüsterte das letzte Wort.
Apolonia ließ die Serviette fallen, schoss auf die Füße und stand wie versteinert da. Sie wäre weggerannt, hätte sie gewusst, wohin. Doch es gab keinen Ort, an den sie hätte flüchten können. Es gab keinen Menschen, der ihr helfen würde.
„Wieso? Warum ausgerechnet Sie? Nachdem …“ Ihr würde speiübel. „Sie haben meine Mutter auf dem Gewissen, Ihre eigene Schwester!“
Nevera stieß ein leises Geräusch aus, halb Schnauben, halb Seufzen. „Sei nicht albern, Apolonia. Ich bin ihre Schwester, wie du schon gesagt hast, und ich bin deine Tante. Glaubst du ernsthaft, ich wäre eines Mordes fähig? Wenn ich nicht um deinen momentanen Zustand wüsste, könnte ich glatt gekränkt sein.“
Apolonia kniff die Augen zusammen. „Aber Sie gehören zu den Dichtern, Sie haben es selbst gesagt! Und die Dichter –“
„– wollen dich retten!“, sagte Nevera scharf und drückte ihre Zigarette aus. „Setz dich, Apolonia. Du weißt nicht, was du redest. Ich kann es dir natürlich nicht verdenken, schließlich hat dir niemand die Wahrheit gesagt. Aber nachdem du Jonathan bereits näher kennen gelernt hast, solltest du ihm gegenüber nicht so voreingenommen sein.“ Nevera drückte sich Zeigefinger und Daumen gegen die Nasenwurzel. „Das heißt – ich weiß ja nicht, wie er sich in seiner Verzweiflung verhalten hat. Womöglich hat dich die Wahrheit so sehr erschreckt, dass du irgendwie … ihn dafür verantwortlich gemacht hast! Jedenfalls hast du ihn ganz und gar falsch verstanden.“
Apolonia begriff überhaupt nichts mehr. Welche Wahrheit? Was sollte das bedeuten, ‚in seiner Verzweiflung’?
„Ich denke“, sagte sie schwer atmend, „es gibt nichts falsch zu verstehen, wenn man entführt, bedroht und fast umgebracht wird! Dieser – dieser Mann, von dem Sie sprechen, als wäre er ein Freund, wollte mich mit seinen Mottengaben manipulieren und die Erinnerungen an meine Mutter stehlen!“ Sie konnte es nicht fassen. Nevera stritt einfach ab, dass die Dichter Verbrecher waren! „Und abgesehen von dem, was die Dichter mir antun wollten – was ist mit Vampa und all ihren anderen Opfern?“ Dabei zog sie Vampa neben sich, teils, um Neveras Augenmerk auf ihn zu lenken, teils, um sich an seinem Arm festhalten zu können, denn sie fühlte sich, als würden ihr gleich die Knie nachgeben.
Neveras Blick war eisig auf Vampa geheftet. Es schien, als lodere ein verborgener Hass in ihr auf, der allein ihm galt.
„Du musst noch so viel von uns erfahren“, sagte Nevera leise. „Wir Dichter sind Motten, ja, aber wir sind nicht die einzigen – ist dir das noch nicht in den Sinn gekommen? Es gibt uns Dichter … und es gibt die Verbrecher, nach denen du suchst. Nach denen wir suchen.“ Sie sah wieder Apolonia an und ihre Züge entspannten sich. „Du musst wissen, wir Dichter haben uns einer noblen Sache verschrieben. Wir wollen das volle Potenzial unserer Gaben ausschöpfen und damit der Menschheit dienen. Denn wir erkennen das Licht unter all den blinden Menschen, wir sind es, die die wahre Schönheit und die schöne Wahrheit sehen können. Wir sehen das Licht in jedem Menschen, Apolonia. Die Schönheit, die keiner Worte bedarf und in keine Sprache gefasst werden kann. Und wir wollen der Menschheit die Sicht auf ihre eigene Schönheit schenken, auf dass die Liebe sich nicht mehr auf das eigene Herz beschränken muss. Verstehst du das? Wir ermöglichen die einzig wahre Kommunikation, mit der man echte Gefühle und Empfindungen teilen kann. Nur so kann die Menschheit ihre Selbstsucht überwinden. Und lernen zu lieben.“
„Und diese Schönheit, von der Sie sprechen, die schenken sie den Menschen auf ihre eigenen Kosten, ja? Oder wie wollen Sie sonst rechtfertigen, was Vampa zugestoßen ist? Kein Blutbuch der Welt kann den Wert eines Menschen aufwiegen!“
Nevera neigte interessiert den Kopf. „Jonathan wird sich gewiss freuen, mit dir darüber zu debattieren. Schriftsteller, musst du wissen, lieben es, sich Fragen über den Wert eines Menschenlebens, die Verwurzelung von Eigennutz in unserer Natur und solcherlei philosophisches Geschwätz zu stellen.“
Als Apolonia keine Miene verzog, nahm Nevera den Arm vom Sofarücken und faltete die Hände. „Ich weiß, was du meinst. Natürlich wäre es eine große Sünde, unschuldige Menschen aus reinem Forschungsgeist oder Liebe zur Kunst in Blutbücher zu sperren.“
„Wollen Sie etwa abstreiten, dass Sie es tun? Morbus hat es längst zugegeben!“
Nevera lächelte zögerlich, ihre Zähne schimmerten hell zwischen den roten Lippen. „Und mehr hat Jonathan wohl nicht gesagt über den Sinn der Blutbücher? – Natürlich. Das Wichtigste heben Schriftsteller sich immer für den Schluss auf, nicht wahr?“
„Ach, es wird noch besser?“, erwiderte Apolonia mit einem Zynismus, der zweifelsohne Ergebnis ihrer Verzweiflung war – sozusagen ein letztes geistiges Trostgeschenk vor dem Ende.
„Schluss damit“, sagte Nevera. „Verspotte uns meinetwegen, wenn du alles weißt – aber davor erwarte ich, dass du mich anhörst. Das habe ich als Retterin deines Lebens wohl verdient.“ Ohne auf Letzteres einzugehen, fuhr Nevera fort: „Ich weiß, dass du es dir zum Ziel gesetzt hast, die Mörder deiner Mutter zu finden und sie bezahlen zu lassen. Nun, ich kann dich enttäuschen und ermutigen: enttäuschen, weil wir Dichter dir bereits zuvorgekommen sind, und ermutigen, weil es noch viel für die Gerechtigkeit zu tun gibt. Und ich will dir auch sagen, weshalb wir die Blutbücher überhaupt schreiben – wir tun es nicht aus Spaß und Böswilligkeit, wie du wahrscheinlich denkst, wir tun es nicht, weil wir verrückt sind oder schlichtweg, weil wir es können. Nein. Die Blutbücher sind unsere einzige Möglichkeit, andere Motten unschädlich zu machen.“ Nevera wartete einen Moment lang Apolonias Reaktion ab, dann löste sie die gefalteten Hände und griff nach ihrer Tasse. Nachdenklich rührte sie mit einem Löffel im Tee, obwohl er bestimmt nicht mehr heiß war. „Ich gehe davon aus, dass Morbus dir demonstriert hat, wie die Blutbücher funktionieren und was man mit ihnen bewirken kann.“
„Wenn Sie den Raub von Erinnerungen und die Beeinflussung des menschlichen Willens meinen, dann allerdings“, gab Apolonia zurück, doch es klang längst nicht mehr so angriffslustig, wie sie es sich vorgenommen hatte. Nevera hatte sie ins Zweifeln gebracht.
„Nun.“ Nevera hob den Blick nicht von ihrem Tee. „Wie ich mir gedacht hatte, Jonathan hat einen äußerst wichtigen Teil ausgelassen, was den Sinn der Blutbücher betrifft. Für ihn als Künstler mögen die Bücher einen gewissen Reiz besitzen, das muss ich wohl einräumen. Für mich aber sind sie nichts als Nutzobjekte. Notwendige Nutzobjekte. Begreifst du denn noch immer nicht, Liebes? Wir fangen nur die Erinnerungen von Motten, die eine Gefahr für die Menschheit darstellen! Es ist der einzige Weg, um ihnen Einhalt zu gebieten: Sie müssen vergessen, wer sie waren und was sie konnten, sonst zerstören sie die Ordnung der Welt mittels ihrer Kräfte! Denn Gaben wie die unsrigen gehen mit finsteren Brüdern einher – Gier und Macht und Größenwahn, Apolonia. Glaubst du allen Ernstes, die Menschheit hätte sich so friedlich entwickeln können, wäre es in der Vergangenheit allzu vielen Motten gelungen, ihre düsteren Absichten in die Tat umzusetzen? Kriege, Apolonia, Kriege von unermesslichem Ausmaß wären schon längst ausgebrochen, hätte es nicht immer Motten gegeben, die ihren dunklen Gabengenossen Einhalt gebieten! Die Welt, die du tagtäglich von deinem Fenster aus siehst, mag dir geregelt und harmlos erscheinen. Doch darunter wütet seit Jahrhunderten eine Schlacht zwischen Gut und Böse. Der Frieden der Welt liegt seit jeher in den Händen weniger, auch wenn ihre Namen nie berühmt, ihre Taten nie bekannt wurden. Wenige Motten sind es, die ihre außergewöhnlichen Gaben dazu einsetzen, das Böse in Schach zu halten – denn Gaben, wie wir sie haben, sind nicht dazu geschaffen, von Menschen eingesetzt zu werden. Zu groß ist die Macht. Zu groß die Verlockung … und nur wenige, so wenige können ihr widerstehen, um jene, die es nicht können, aufzuhalten. Wir Dichter sind diese wenigen.
Unsere Feinde, die einzigen wahren Feinde der zivilisierten Welt, Apolonia, haben einst deine Mutter getötet. Sie waren es, die das Geschäft deines Vaters in Brand gesetzt und ihm den Verstand geraubt haben. Sie sind es, vor denen ich dich beschützen wollte, indem ich dich hierher bringen ließ! Sie … nennen sich der Treue Bund der Kräfte. Kurz TBK. Ihre Gabe ist es, ihren Gegnern alle physische Kraft abzuziehen und für ihre Zwecke zu missbrauchen.“
„TBK?“, wiederholte Apolonia mit brüchiger Stimme. „Das ist doch die Terroristengruppe, die vor acht Jahren die Regierung stürzen wollte. Das waren Motten?“
„So ist es. Damals vor acht Jahren hätten wir alle beinahe unsere Freiheit verloren; wäre der Plan des TBK in Erfüllung gegangen, würden wir heute unter der Diktatur eines grausamen Tyrannen leben, eines Tyrannen mit Mottengaben. Kannst du dir vorstellen, wie katastrophal es wäre, wenn jemand in einer solchen Machtposition übersinnliche Kräfte hätte und keine Moral?“ Neveras Wangen glühten und ein Funkeln lag in ihren Augen, das erst allmählich wieder erlosch. Behutsam stellte sie ihre Teetasse ab. „Zum Glück ist es nie dazu gekommen und die einstige Macht des TBK ist am Schwinden. Sie halten sich versteckt und sind stets verschwunden, sobald wir ihren Unterschlupf ausfindig machen. Denn wenn es zu einer direkten Konfrontation mit uns Dichtern kommt, das wissen sie, sind sie uns unterlegen – das Böse unterliegt dem Guten zum Glück immer auf wundersame Weise. Der Grund dafür sind unsere Blutbücher.
Für den Kampf gegen den TBK sind die Blutbücher von unermesslichem Wert. Denn die Sprache ist ein Gefängnis für die Wahrheit. Ein Gefängnis, in das wir Erinnerungen sperren, weil sich in ihnen die Mottengaben verbergen.“ Ihr Blick irrte kurz, beinahe wie versehentlich zu Vampa, doch es genügte, damit Apolonia die Bedeutung von Neveras Erklärung begriff.
Eiseskälte rieselte ihr den Rücken hinab. Langsam, stockend wandte sie den Kopf und sah in Vampas ausdrucksloses Gesicht. Seine Augen waren auf ihre geheftet, lesend und vertieft. Hatte er verstanden, was Nevera gesagt hatte? War er ebenso schockiert wie Apolonia? Oder … oder wenn es wirklich stimmte, wusste er schon längst, wer er einmal gewesen war?
Apolonias Hand berührte seinen Arm nur noch leicht. Ihre Fingerspitzen schwebten über dem Stoff seines Mantels.
„Ja“, sagte Nevera sanft und ihr Gesicht glühte vor Hass. „Auch er, wie alle Opfer der Blutbücher, war einst ein Terrorist des TBK!“
Apolonia konnte erst den Blick von Vampa abwenden, als ein leises Geräusch von der Zimmertür her verriet, dass jemand eingetreten war. Ein Lächeln schlich über Neveras Gesicht. Apolonia drehte sich um und gefror zu Eis. Auf der Schwelle stand Morbus, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf leicht geneigt wie jemand, der tief in Gedanken ist.
Er trug einen schlichten, modischen Anzug mit einer Seidenweste, einem dunkelroten Schlips und silbernen Manschettenknöpfen. Sein Haar war nicht mehr, wie bei ihrer letzten Begegnung, ungeordnet und strähnig, sondern mit Duftpomade frisiert. Aus blassen Augen lächelte er Apolonia an.
„Guten Tag“, sagte er mit glatter Stimme. So ungezwungen, als seien sie schon immer Freunde gewesen, durchschritt Morbus das Zimmer und ließ sich am Tischende zwischen Apolonia und Nevera auf einen grünen Samtsessel sinken. Dann schlug er die Bein übereinander und warf einen freundlichen Blick in die Runde. Bei Vampa runzelte er leicht die Stirn. „Mir wurde bereits gesagt, dass du einen Gast mitgebracht hast. Das freut mich. Es ist besser, den Jungen gleich hier zu haben, als ihn erst suchen zu müssen.“
Apolonia war noch immer sprachlos. Sie starrte Morbus an und wusste nicht, was sie fühlen und denken sollte. Der elegante Herr, der dort neben ihr saß, schien so höflich und arglos, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun.
Sie rang leise nach Luft. War die Welt denn verrückt geworden?! Morbus war immer noch der Mann, der sie verschleppt und gequält hatte! In ihrem Kopf kreisten die Erinnerung an jene Nacht in der Lagerhalle … War sie denn gequält worden? Was hatte Morbus eigentlich getan? Er hatte versucht, sie mit dem Blutsatz zu manipulieren … und ihr die Erinnerung an ihre Mutter zu stehlen. Ja, genau – genau deshalb wusste sie, dass er nicht der war, der er jetzt zu sein vorgab!
Kaum merklich trat sie einen Schritt vor ihm zurück, obwohl er so friedlich in seinem Sessel saß, als wolle er über das Wetter plaudern. Gleichzeitig wich Apolonia auch von Vampas Seite.
„Schätzchen, willst du dich nicht setzen?“, fragte Nevera in die Stille und bedachte sie mit einem Blick, als sei sie die Verrückte.
„Sie sind ein Krimineller!“ Sie richtete den Zeigefinger auf Morbus, auch wenn sie das Gefühl hatte, dadurch eher ihre Hilflosigkeit statt seine Schuld zu offenbaren. Da er nicht reagierte, wandte sie sich wieder an Nevera. „Er hat versucht, mir die Erinnerungen an meine Mutter zu stehlen, an meine Mutter, Ihre Schwester! Wie können Sie so neben ihm sitzen? Er hat … er hat …“
„Er hat genau das getan, was jeder von uns tun würde, um dem Bösen Einhalt zu gebieten“, sagte Nevera. „Nichts ist so wichtig wie den Treuen Bund aufzuhalten, und jeder Sieg über sie, egal wie klein, ist seinen Preis wert. Wenn die Erinnerung an deine Mutter dich davon abgehalten hätte, dich uns anzuschließen, so hätte Jonathan recht daran getan, dir die Erinnerungen zu nehmen. Wir Dichter können uns im Kampf gegen die Bundmotten nicht leisten, Rücksicht auf uns selbst zu nehmen – schließlich stehen nicht nur persönliche Schicksale auf dem Spiel, sondern die Zukunft der gesamten Menschheit.“
Apolonias Blick glitt zu Morbus, der bei Neveras Worten sein Lächeln verloren hatte und dabei ernst, fast traurig geworden zu sein schien. Apolonia vermochte nicht zu sagen, was sich hinter seinen Augen abspielte. Sie wirkten nicht mehr halb so wahnsinnig wie damals in der Lagerhalle … Wie konnten sich Augen bloß so verändern?
„Nein. Dieser Mann ist ein Krimineller. Ich weiß es.“ Dabei wusste sie das überhaupt nicht mehr, und ihr Zweifel war kaum zu überhören.
„Apolonia“, hob Morbus an. „Wenn ich ein so großer Bösewicht wäre, wie du mir vorwirfst, meinst du dann nicht, dass ich vorgestern Nacht ganz andere Dinge getan hätte? Stattdessen habe ich doch versucht, dir zu erklären, was die Dichter tun – meinst du, das erzähle ich jedem? Ich wollte dich überzeugen, eine von uns zu werden. Daran musst du dich doch erinnern?“
Nevera nickte. „Wir sind bereit, alles zu tun, alles, damit du eine von uns wirst. Auch ich hoffe, dass dies mit deinem vollen Einverständnis geschehen wird. Genau wie Jonathan.“ Sie tauschten einen Blick. Nevera hatte eine neue Zigarette aus ihrem Etui gezogen, und Morbus lehnte sich zu ihr vor, um ihr Feuer zu geben. Etwas Zärtliches lag in der Geste.
Apolonia stand noch immer steif wie ein Brett da und betrachtete die beiden ungläubig. „Wieso wollt ihr unbedingt mich? Und wieso erst, seit ich Sie in Eck Jargo getroffen habe?“
„Das alles hat mit einer Prophezeiung zu tun, die dem TBK schon lange bekannt ist und von der wir durch einen glücklichen Zufall – oder sollte ich sagen, besondere Aufmerksamkeit – ebenfalls erfahren haben. Die Prophezeiung besagt, dass ein Mädchen mit herausragenden Mottengaben kommen wird, um den Treuen Bund und seine schrecklichen Pläne zu vernichten. Jenes Mädchen würde sich, so heißt es, an der Seite eines unbedeutenden Kleinganoven offenbaren, eines gewissen … Jorel war sein Name, glaube ich“, sagte Morbus.
Nevera schnaubte leise. „Dem TBK muss es gerade recht gekommen sein, dass es dieser Jorel war. Schließlich ist er einer von ihnen gewesen, bis wir ihn unschädlich gemacht haben.“ Nevera zog beiläufig an ihrer Zigarette.
Tigwid – Tigwid ein Terrorist? Apolonia spürte, wie ein lähmendes Kribbeln durch ihre Arme und Beine ging. Deshalb hatte er seine Erinnerungen verloren …
„Jedenfalls“, fuhr Morbus fort, als habe er Apolonias Erblassen nicht bemerkt, „hat sich der TBK eine kleine List ausgedacht. Da der Junge sich nicht mehr erinnern konnte, je zu ihnen gehört zu haben, und außerdem all seine Gaben verloren hat, mussten sie ihn – und somit dich – anders anlocken. Zufällig wussten sie von der penetranten Neugier dieses Bengels und haben sich ein Buch der Antworten ausgedacht, so lächerlich es auch klingen mag, und der kleine Straßendieb ist tatsächlich darauf hereingefallen. Er hätte dich geradewegs zum TBK geführt, hätten wir uns nicht schon früher in Eck Jargo postiert. Wir haben in diesem Erdloch Tage und Nächte lang darauf gewartet, dich zu finden. Denn wärst du Collonta in die Hände gefallen …“ Morbus machte eine vielsagende Pause.
„Wer ist Collonta?“, fragte Apolonia.
„Nun“, sagte Morbus gedehnt, „Erasmus Collonta ist der Anführer des TBK. Er ist nicht nur der Machtgierigste und Skrupelloseste von allen, sondern auch der Gefährlichste. Mit seiner Gabe kann er ganze Scharen von Geistern erwecken und nach seinem Willen lenken, heißt es. Hätte der Straßenjunge dich tatsächlich zu ihm geführt, wärst du schon längst tot.“
Apolonia erschauderte unwillkürlich. Sollte Morbus wirklich ihr Retter sein? Sie betrachtete sein Gesicht, die geheimnisvollen Augen, die schattige Haut unter seinen Wangen, die Falten auf seiner Stirn. Furcht und eine ungewollte Bewunderung dafür, dass er all seinen Mitmenschen überlegen zu sein schien, durchwogten Apolonia, obwohl sie es zu unterdrücken versuchte. Sein Blick erwiderte den ihren. Sie wollte wegsehen, denn er schien ihre Gefühle sehr deutlich zu erahnen – doch das wäre ebenfalls ein Zeichen von Schwäche gewesen, und so kam sie sich für einige schrecklich lange Momente gefangen vor. Sie schluckte schwer.
„Ihr sagt mir also, dass ich gar keine Wahl habe – dass ich eine Dichterin werden muss, ob freiwillig oder nicht?“
Morbus schlug die Augen nieder und entließ sie so aus dem Bann seines Blicks. „Du … bist noch sehr jung. Darum tut es mir auch besonders leid, dass ausgerechnet du in unseren Kampf mit hineingezogen wirst. Glaube mir, ich wünschte, ich hätte dir nie von uns Dichtern erzählen müssen! Aber du bist eben in gewisser Weise … auserwählt. Leider, fürchte ich. Und doch“ – er blickte kurz auf – „doch ist dies eine Chance, die die meisten Menschen, die wie du gelitten haben, niemals bekommen. Du kannst deine Eltern rächen. Deine Mutter, Magdalena. Und deinen Vater. Auch an seinem Elend sind die Bundmotten schuld, denn sie haben den Brand in eurer Buchhandlung gelegt. Ich glaube, das ist dein Schicksal, Apolonia: Du bist die Tochter einer großen Dichterin gewesen, und nun musst du das weiterführen, wofür deine Mutter einst ihr Leben ließ, denn ein Teil von ihr lebt in dir. Du hast, auch wenn es dich erschrecken mag, wirklich keine Wahl – aber wer hat die schon? Wir sind alle mit einem Schicksal geboren, mit Gaben und Kräften, über die wir nicht entscheiden können.“
Apolonia spürte, wie ihr Kinn zitterte. „Magdalena wollte mit ihren Gaben an die Öffentlichkeit gehen, darum wurde sie umgebracht. Ich habe nie mitbekommen, dass sie in einen Kampf verstrickt war. Dabei war der Putschversuch des TBK ja im gleichen Jahr. Ich hätte es wissen müssen –“
Morbus warf Nevera einen Blick zu, doch sie beachtete weder ihn noch Apolonia und verfolgte abwesend den wabernden Rauch ihrer Zigarette. „Du warst damals ein kleines Kind“, sagte sie leise. „Zudem hatte Magdalena ihr Schweigegelübde zu wahren. Wahrscheinlich wusste selbst dein Vater nichts von ihrer Mission – wir halten sie geheim. Magdalena ist nicht ermordet worden, weil sie mit uns Motten an die Öffentlichkeit gehen wollte. Sie wollte die Machenschaften des TBK aufdecken. Fast wäre es ihr gelungen. Aber der Treue Bund hat es vereitelt, indem sie erst Magdalena töteten, dann unsere Beweise zerstörten und abermals untertauchten. Bis jetzt ist es uns nicht gelungen, ihre Verbrechen ans Tageslicht zu bringen. Und ich sage ganz bewusst bis jetzt … denn nun bist du bei uns. Und wirst das Werk von Magdalena zu Ende bringen.“
Apolonia wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Morbus und Nevera schienen auch keine Antwort zu erwarten. Schweigen breitete sich aus. Schließlich wollte Morbus das Wort ergreifen, doch kaum hatte er den Mund geöffnet, klopfte es an der Tür. Alle drehten sich um.
Der Diener von vorhin steckte den Kopf durch die Tür. „Mein Herr, verzeihen Sie die Störung. Herr Noor und Herr van Ulir sind soeben eingetroffen.“
„Dann sind wir also komplett“, murmelte Morbus. „Schicke meine Gäste bitte herein, Philipp.“
Der Diener schloss die Tür.
Mit einem unsicheren Lächeln wandte Morbus sich an Apolonia. „Ich hoffe, du verzeihst, dass wir dich mit der Wahrheit so überfallen. Aber wir alle haben so bedauert, was bei unserer letzten Begegnung geschehen ist, dass die übrigen Dichter sich bei dir persönlich entschuldigen und vorstellen wollten. Ich fürchte, wir waren damals in der Lagerhalle einfach zu impulsiv – und auch ängstlich, du könntest uns missverstehen, was ja leider geschehen ist. Verzeih mir bitte, so wie du deinen treuen Mitstreitern verzeihen wirst.“
Sechs Männer betraten den Raum, die unterschiedlicher nicht hätten sein können und doch alle, jeder auf seine Weise, so unscheinbar wirkten, dass man sie in einer Menschenmenge nicht wiedererkannt hätte. In einer Reihe stellten sie sich vor Morbus auf und warteten, bis er sich erhoben hatte.
„Meine Herren“, sagte er feierlich, „begrüßen Sie unser jüngstes Mitglied: Apolonia Spiegelgold.“
„Wenn ich dir die Dichter vorstellen darf“, fuhr Morbus fort und zeigte mit der Hand auf den blonden Mann, den Apolonia als den Dichter wiedererkannte, der Morbus in der Lagerhalle Papier und Tinte gebracht hatte. „Wilhelm Kastor, seit zwei Jahren bei uns.“
„Es ist mir eine Ehre“, sagte der Dichter und deutete eine Verneigung an.
Morbus stellte den nächsten vor: „Alfonso Jacobar, der äußerst nützliche Verbindungen zur Unterwelt hat und bereits zahllose Bundmotten unschädlich machen konnte.“ Der Mann kam Apolonia wie ein Ganove vor, mit seinem bleichen Gesicht und dem dünnen Schnauzer. Er nickte ihr anerkennend zu.
„Michaelis Manthan“, fuhr Morbus fort, wobei er auf jenen jungen Mann mit dem unruhigen, schmalen Gesicht wies, der in der Lagerhalle ohnmächtig geworden war. „Unser guter Manthan ist erst seit neun Monaten bei uns und muss seine Fähigkeiten noch unter Beweis stellen.“ Obwohl Morbus freundlich klang, ging ein Zucken um die Mundwinkel des jungen Dichters und er schluckte nervös. Hinter ihm standen noch drei Dichter. Einer von ihnen war Professor Rufus Ferol. Sein Gesicht schien wie versteinert, er beobachtete Apolonia aus kleinen, wässrigen Schweinsaugen. Seine Stirn glänzte.
„Professor Ferol kennst du ja schon“, bemerkte Morbus.
Ferol vollführte eine krampfhafte Verbeugung und schloss die Hände zu roten Fäusten. „Ich fühle mich geehrt, Fräulein Apolonia.“
„Constantin van Ulir“, stellte Morbus den nächsten Dichter vor. Er war ein kompakter, älterer Herr mit schütterem weißem Haar und einer Narbe, die sich vom Hals bis zur rechten Wange zog. Mit einem ehrgeizigen Leuchten in den Augen nickte er Apolonia zu.
„Und schließlich Augustus Noor, mein alter Freund. In Kürze wird sein zweiter Roman erscheinen, der erste hat bereits im vergangenen Frühling für Furore gesorgt – was wir natürlich erwartet haben. Diese Veröffentlichungen dienen uns übrigens nur zur Tarnung. Aber ich muss gestehen, dass uns die Honorare bei der Bekämpfung des Bösen nicht ganz ungelegen kommen.“
Der alte Herr Noor sah nicht unbedingt wie ein Dichter und Künstler und schon gar nicht wie eine begabte Motte aus. Er trug einen dunkelbraunen Anzug, der an seinem mächtigen Bauch spannte, und hatte kurzes, pomadisiertes Haar, das eher zu einem Bankdirektor gepasst hätte. Seine fleischigen Wangen und sein Doppelkinn hingen ihm über den Hals wie zerlaufenes Kerzenwachs. Weder er noch sonst ein Dichter verkörperte und verschleierte die wahre Natur ihres Bundes so perfekt wie Morbus; keiner wirkte annähernd so elegant und erschreckend, vertrauenswürdig und undurchschaubar wie ihr Meister, und Apolonia bezweifelte, dass es überhaupt einen Menschen gab, der Morbus ähnelte.
Jetzt, da die Dichter vorgestellt waren, klatschte Morbus einmal in die Hände und wandte sich an Apolonia und Vampa. „So, da unsere Runde komplett ist, müssen wir uns von dem Jungen verabschieden. Meine verehrten Herren, darf ich Ihnen die Aufgabe überlassen, sich gemeinsam seiner anzunehmen? Manthan, dies ist eine gute Gelegenheit für Sie, um Ihre Fähigkeiten zu erproben.“
„Was meinen Sie?“, fragte Apolonia alarmiert, als die Dichter auf Vampa zukamen.
„Nun“, erklärte Morbus mit vor Bedauern gerunzelter Stirn, „der Junge hat unser Gespräch mit angehört und außerdem erfahren, dass er einst ein Mitglied des TBK war. Zudem weiß er, dass Caer Therin unser bescheidenes Versteck ist. Das alles sind Dinge, an die er sich später, wenn er zu Collonta läuft, erinnern wird … besser, er erinnert sich nicht.“
Der stämmige van Ulir und Kastor fassten Vampa an den Armen. Er wehrte sich nicht.
„Ist das wahr?“, flüsterte sie ihm zu, auch wenn sie keine Antwort von ihm erwartete.
„Verschwende deine Zeit nicht mit ihn“, mahnte Nevera. „Er war ein boshafter, tückischer Verbrecher, auch wenn er sich nicht daran erinnern kann – und er wird zu seinem einstigen Meister zurückkehren, falls wir den Namen Collonta nicht ein zweites Mal aus seinem Gedächtnis schreiben!“
Vampa schien das nicht zu hören. Fast abwesend starrte er Apolonia an, sein Blick saugte ihr Gesicht in sich auf, als wolle er es sich besonders gut einprägen.
„Sag was“, befahl Apolonia, aber ihre Stimme zitterte. Was dachte sie sich denn – dass Vampa ihr versichern könnte, es stimme nicht? Dass er widersprechen würde, dass er rufen würde, es sei nicht wahr – dass er nie ein Terrorist gewesen sei, dass die Dichter logen, dass Apolonia ihrer Freundschaft mehr vertrauen sollte als Morbus’ Worten? Nein, Vampa sagte nichts. Er wusste ja selbst nichts über seine Vergangenheit. Und über Freundschaft und Glauben und Vertrauen erst recht nicht.
„Ich schlage vor, dass die Sache in unseren Laborräumen erledigt wird“, warf Morbus ein, der mit verschränkten Armen am Fenster stand und allen anderen den Rücken gekehrt hatte, als könne er die Szene nicht mit ansehen.
„Komm, Junge“, sagte Ferol und winkte Vampa. Kastor und van Ulir zogen ihn zur Tür. Als die Dichter ihn umdrehten, wandte er den Kopf zurück, um Apolonia nicht aus den Augen zu verlieren. Tränen glänzten in seinen leeren Augen. Apolonia fühlte, wie es ihr die Kehle zuschnürte, doch sie regte sich nicht und sagte nichts.
„Apolonia“, murmelte Vampa – allein, um ihren Namen noch einmal auszusprechen, so schien es. Dann schloss sich leise die Tür und Vampa war mit den Dichtern verschwunden.
Eine Hand legte sich auf Apolonias Schulter. Sie zuckte kaum merklich zusammen. „Es ist besser so“, sagte Nevera und atmete erleichtert aus.
Irgendwo vernahm er leise flüsternde Stimmen. Stoff raschelte und Füße scharrten über den Boden.
„Ist der Verband sauber?“
„Loo hat ihn frisch besorgt.“
„Die Kugel hier rein …“
Ein zartes Klirren von Metall.
„Saß ganz schön tief, was?“
„Gerade noch mit dem Skalpell erreichbar.“
Tigwid kam zu sich. Allmählich kehrte sein Bewusstsein zurück, doch er erinnerte sich an nichts. Was war geschehen? Wieso hatte er das Gefühl, mit der Schulter in einem Schraubstock zu stecken? Er versuchte, die schweren Augen zu öffnen. Immer wieder überkam ihn die Panik, das Gleichgewicht zu verlieren und nach links oder rechts in irgendeine Tiefe zu stürzen – dann erst wurde ihm bewusst, dass er mit dem Rücken auf festem Boden lag.
Zwei verschwommene Gesichter erschienen über ihm. Das eine war breiter als das andere … Das Gesicht eines Mannes, durchschoss Tigwid ein Gedanke, obwohl er nur Schemen erkannte. Vielleicht war es auch eine ziemlich männliche Frau mit buschigen Augenbrauen. Daneben beugte sich das andere Gesicht über ihn, umrahmt von kurzem weißgrauem Haar.
Eine Hand berührte seine Stirn. Kühle Finger strichen ihm die Schläfe entlang. „Jorel …“ Die Stimme war erschreckend nah und eindringlich.
„Er ist noch im Fieberwahn.“ Eindeutig eine männliche, alte Stimme.
Das schmalere Gesicht beugte sich näher zu ihm hinab. „Hörst du mich?“ Es war ein Flüstern, doch es erreichte ihn so intensiv, dass Tigwid das Gefühl hatte, sein Kopf müsse zerspringen. „Keine Sorge. Du wirst nicht sterben.“
„Sterben?“, lallte er erschrocken. „Wieso?“ Er spannte die Nackenmuskeln und hob den Kopf. Wie zur Antwort ging ihm ein betäubender Schmerz durch das rechte Schulterblatt. Er stöhnte und sank zurück. Völlig unpassenderweise begleitete den Schmerz ein plätscherndes Lachen.
„Sei beruhigt“, sagte dieselbe Stimme wie zuvor. „Du bist in Sicherheit. Du bist beim Treuen Bund der Kräfte, Mottenbruder.“