Wie riesig war der Himmel hier draußen, auf dem Land, wo keine Hausreihen ihn eingrenzten. Er öffnete sich über Apolonia wie ein unfassbares, blindes Auge, milchig trüb, mit einem Blick, der überall und nirgends hinging. Einen Moment verweilte sie zwischen Haustür und Hof und starrte hinauf in die blaudunstige Morgendämmerung. Dann streifte sie die Handschuhe über und folgte Nevera in die Kutsche, die sie in die Stadt zurückbringen sollte. Ein Peitschenknallen, klirrendes Pferdegeschirr, Hufschlag und das Knirschen von Kies unter den Wagenrädern – schon verließen sie das Anwesen von Caer Therin und die dunklen Bäume huschten vorüber wie schlafende Traumgestalten.
Es war bereits alles bis ins kleinste Detail besprochen worden, sodass Schweigen zwischen Apolonia und ihrer Tante herrschte. Während Nevera die Abwesenheit ihres Mannes tatkräftig ausnutzte und sich ihre erste Zigarette am Morgen anzündete, lehnte Apolonia ihre Schläfe gegen die gepolsterte Wand und sah aus dem Fenster.
Im Norden war der Himmel perlfarben, ganz rein und glatt, mit einem lila Hauch darüber, als wäre er über seine offensichtliche Schönheit in Verlegenheit geraten. Im Osten erschien das erste Licht der kränklichen Novembersonne. Die Farben des Horizonts sickerten durch die kahlen, grünlichen Steckenbäume, und der Horizont selbst schien schmutzig gelb, ein wenig entzündet, ein wenig schwach, aber mit der deutlichen Euphorie des Lebens, das den Kampf der Geburt überstanden hat.
Mit schläfriger Ruhe wartete Apolonia die lange Fahrt ab. Sie würde den Journalisten treffen, die bereits bekannten Fragen mit den wohl zurechtgelegten Antworten erwidern, nach Hause – das hieß, zu ihrem Onkel – fahren, „nach dem Rechten sehen“, wie Nevera gesagt hatte, und ihre Sachen abholen.
Es war besser, wenn sie in nächster Zeit in Caer Therin wohnte. Erstens konnte sie sich dabei ungestört ihren Studien mit Morbus widmen, zweitens war sie dort vor dem TBK sicher, der vom geheimen Hauptsitz der Dichter nichts wusste. Der Umzug machte Apolonia nichts aus. Wenigstens versuchte sie sich das einzureden. Schließlich war das Haus ihres Onkels nie ihr Zuhause gewesen. Sie hatte immer gewusst, dass es eine vorübergehende Bleibe war. Viel abzuholen gab es auch nicht: Ein paar Kleider, Bücher, ihre Geige … der bereits erwartete Sehnsuchtsschmerz stach ihr in die Brust, als sie an die Tiere dachte. Sie würde ihre Freunde eine lange Zeit nicht mehr sehen und ihnen vor allem nicht mehr helfen können, wenn sie in Not waren. Allein der Gedanke an Rache und Gerechtigkeit konnte dieses Opfer erträglich machen.
Die Zeit verstrich. Als es Tag geworden war, erreichten sie die Stadt und fuhren durch die belebten Straßen, die Apolonia viel lauter und irgendwie farbloser vorkamen als sonst, so als würde sie alles durch eine Linse der Trostlosigkeit sehen. Bald kamen sie zu einem Kirchplatz, der von zahlreichen Konditoreien und Cafés umgeben war. In einem der Cafés war Apolonia mit dem Journalisten verabredet. Die Kutsche hielt vor einem reich dekorierten Schaufenster, auf das mit weißer Farbe Der Pfefferminzprinz geschrieben stand. Apolonia atmete tief durch, dann gab Nevera ihr zwei Küsse auf die Wangen und umwölkte sie ein letztes Mal mit ihrem Parfüm und Zigarettenqualm. Apolonia war froh um den vertraut gewordenen Geruch.
„In eineinhalb Stunden holt dich die Kutsche ab und wir essen zu Hause zu Mittag“, sagte ihre Tante noch, dann öffnete der Kutscher die Tür und Apolonia stieg aus. Sie betrachtete ihr Spiegelbild im Schaufenster: ein blasses Gesicht, das ihr nichtssagend vorkam. Ein stiller, ferner Blick ... Hinter ihr ratterte die Kutsche durch den dünnen Schnee davon. Apolonia öffnete die Tür zum Pfefferminzprinz. Glöckchen klimperten und ein Serviermädchen begrüßte sie und nahm ihr Mantel, Schal und Handschuhe ab.
„Ich bin verabredet mit Herrn Brahms“, sagte Apolonia, und das Serviermädchen führte sie an plaudernden Pärchen und einer Kuchentheke vorbei zu einem Tisch in der hintersten Ecke, wo der Journalist wartete. Als er Apolonia sah, klappte er sein Notizbuch zu und erhob sich, um ihr die Hand zu schütteln. Er hatte ein fröhliches Gesicht mit einem fliehenden Kinn und einer Brille, die auf einer spitzen Nase und unglaublich weit abstehenden Ohren ruhte.
„Erfreut! erfreut, Sie kennen zu lernen, Fräulein Spiegelgold. Wilhelm Kastor hat mir schon von Ihnen erzählt. Bitte, nehmen Sie Platz. Darf ich Sie Apolonia nennen?“
„Natürlich.“
Sofort kritzelte Herr Brahms etwas in sein Buch – wie es schien, Notizen zu Apolonias Erscheinungsbild –, aber er schrieb so unleserlich, dass sie kein Wort entziffern konnte.
„Nun, bestellen Sie sich doch etwas. Ich empfehle Ihnen den Bananenkuchen, sehr köstlich. Oder die Pfefferminzschokolade, für die der Pfefferminzprinz so berühmt ist.“
Apolonia machte ihre Bestellung, damit das Serviermädchen verschwand. Sobald sie alleine waren, legte der Journalist seinen Stift zur Seite und funkelte Apolonia an. „Ich weiß bereits über alles Bescheid. Den Artikel bekommen Sie vor der Veröffentlichung natürlich zur Ansicht. Ich muss sagen“, fuhr Brahms fort und streichelte mit einem halb verkniffenen Lächeln den Henkel seiner Kaffeetasse, „ich finde es überaus aufregend, Schöpfer einer Terroristengruppe zu sein.“
„Wir erfinden den TBK nicht“, erwiderte Apolonia nüchtern. „Wir zeichnen lediglich das Phantombild einer Verbrecherbande, die das Gesicht verdient hat, das wir ihr verpassen werden.“
„Gewiss, gewiss.“ Brahms lächelte verstohlen. „Sie sind noch sehr jung. Sie werden merken, dass das Schreiben immer etwas mit Erfindung zu tun hat.“
„Das ist mir durchaus bewusst, wie Sie merken werden … Teil eins: meine Entführung.“
Allmählich ging es Tigwid immer besser und seine Schusswunde verheilte dank der sorgsamen Pflege des TBK. Loo bekochte ihn mit Linseneintopf, Hühnerbrühe, Auflauf und Pudding wie die liebevolle Schwester, die er nie gehabt hatte. Auch Bonni und die anderen Mitglieder des Treuen Bunds kümmerten sich wie eine Familie um ihn, und Tigwid wurde klar, dass er nie so viel Freundlichkeit erfahren hatte wie hier, in dieser heruntergekommenen Wohnung voller leckender Leitungen, Berge aus zerlaufenem Kerzenwachs und Löcher in der Wand. Anfangs war er misstrauisch, schließlich hatte das Leben ihn gelehrt, dass man nichts umsonst bekam – außer man war ein guter Dieb. Was erwartete der TBK also in Gegenzug von ihm? Aber vielleicht … vielleicht gab es ja wirklich so etwas wie aufrichtige Nächstenliebe, die nicht auf Berechnung beruhte. Tigwid gefiel die Vorstellung.
Während er wieder zu Kräften kam, hingen seine Gedanken fast pausenlos an Apolonia und Vampa. Er wusste noch immer nicht, was aus ihnen geworden war, und je öfter er sich die Situationen ausmalte, in denen sie gerade stecken mochten, umso schlimmer kamen sie ihm vor. Er hätte Bonni oder ein anderes TBK-Mitglied bitten können, sich nach den beiden umzuhören, aber er wollte niemanden in die Sache hineinziehen. Der TBK hatte ihm geholfen – er war es, der Apolonia helfen musste. Gut möglich, dass sie auch festgenommen worden war … wenigstens wäre sie im Gefängnis vor den Dichtern sicher …
„Woran denkst du?“, fragte Bonni, als sie sich neben Tigwid setzte und ihm ein Glas Wasser reichte. Er nahm dankbar das Glas entgegen.
„Du bist doch diejenige, die alles sieht und weiß. Kannst du das nicht mit deiner Mottengabe, die Gedanken anderer ausspionieren?“
Bonni lächelte ein wenig. „Ich bin Visionistin, aber das heißt noch lange nicht, dass ich allwissend bin. Meistens sehe ich Dinge, nach denen ich gar nicht Ausschau gehalten habe.“ Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und Tigwid nippte an seinem Wasser. „Du denkst an das Mädchen, stimmt’s? Die, die ich dir damals prophezeit habe.“
„Siehst du, doch ausspioniert.“
„Es ist nicht schwer zu erkennen, dass du an ein Mädchen denkst.“
Tigwid verbarg das Gesicht hinter dem Glas und nahm zwei große Schlucke. „Ähm, wie bist du eigentlich zum TBK gekommen? Wo hat Collonta dich aufgegabelt?“
„Ich bin von mir aus zu Collonta gekommen. Das war vor fünf Jahren, ich war vierzehn und habe gesehen, dass ich hierher gehöre.“
„Ach, dann kommst du auch aus dem Waisenhaus?“
„Nein“, sagte Bonni, „ich habe eine Mutter und einen kleinen Bruder. Ich besuche sie noch manchmal.“
Tigwid konnte sich Bonni kaum als Tochter – oder als Schwester – von irgendwem vorstellen. Sie war doch viel zu … unnahbar. „Wissen sie denn über dein Leben Bescheid? Ich meine, der TBK und alles?“
Bonni zuckte die Schultern. „Sie wissen, wie ich bin … mehr wollen sie auch gar nicht hören. Es ist alles in Ordnung, wie es ist, denke ich. Ich habe den Platz gefunden, an den ich gehöre, und niemand ist gekränkt.“
Nachdenklich drehte er das Glas in den Händen. Als Kind hatte er sich immer eingeredet, Eltern brächten nur Ärger. Aber dass es mit einer Familie und einem festen Leben, in das man geboren wurde, manchmal tatsächlich schwieriger sein konnte als ohne, verstand er erst seit Kurzem. Was wenn er einen verrückten Vater hätte wie Apolonia? Oder eine Mutter und einen Bruder, die er wegen seiner Mottengabe verlassen musste wie Bonni?
Ein lautes Scheppern drang aus einem anderen Zimmer und Bonni erhob sich. Dann waren Schritte im Gang zu vernehmen, und einen Augenblick später stürmte ein alter, gebrechlicher Mann auf sie zu.
„Jorel!“
Tigwid konnte es kaum fassen. „Mart?“ Es war zweifelsohne Mart, der Obdachlose – der Knopfsammler.
„Wie geht’s dir?“, jauchzte der Alte und ließ sein Bündel von der Schulter fallen. „Alles wieder in Butter, he? Hab mir Sorgen gemacht, aber so einer wie du lässt sich nicht so schnell wegkriegen, nich wahr? Ja, wir sind vom gleichen Schlag, hart wie Backstein und zäh wie Stiefelleder!“
Tigwid lächelte. „Was machst du denn hier? Gehörst du etwa auch zum TBK?“
„Natürlich! Bin ein Geisterherr und treuer Anhänger von Collonta. Ich hätt’s dir viel eher gesagt, wenn ich gewusst hätte … aber du hast mir ja auch nie gesagt, dass du eine Motte bist!“ Das Lachen des Alten war so ansteckend, dass Tigwid mitmachen musste. Ausgerechnet Mart war hier! Und Tigwid hatte ihn immer für ein bisschen verrückt gehalten.
„Ich dachte immer …“ Tigwid räusperte sich. „Die Knöpfe und all das! Natürlich ist das eine geheime Sache des TBK gewesen, nicht? Jetzt kannst du mir endlich sagen, warum du immer so versessen darauf warst.“
Marts zahnloses Grinsen war unverändert. „Wie meinsten das? – Oh, sieh mal, ich hab hier neue Exemplare!“ Er drehte sich um und wühlte in seinem Bündel, das, wie Tigwid erkannte, vor Knöpfen fast überquoll. Mit einem verdatterten Blick wandte Tigwid sich an Bonni, die lächelnd die Schultern zuckte. Mart war also doch – einfach Mart.
„Wie ist … übrigens … die Wunde verheilt?“, erkundigte sich der Alte noch immer wühlend. „Ich war mir nicht sicher, ob ich richtig vernäht hab.“
Tigwid wurde aschfahl. „Du hast die Operation durchgeführt?“
„Na klar! – Ah, hier ist das Prachtstück!“ Und mit seinen schmutzigen Fingern hielt Mart einen strahlenden Silberknopf ans Tageslicht.
Mit der Zeit lernte Tigwid die Mitglieder des Treuen Bunds besser kennen. Die meisten von ihnen stellten sich als Geisterherren vor – eine besondere Art von Motte, die Tigwid aber niemand genau beschreiben wollte, denn offenbar war Collonta derjenige, an den man sich mit Fragen wandte. Selbst die gesprächige Zhang, die oft zu ihm kam, ihm lesen und schreiben beibringen wollte, mit ihm Karten spielte und sogar ein paar Tricks zeigte, die er noch nicht kannte, wollte Tigwid nicht erklären, was einen Geisterherr oder eine Geisterherrin ausmachte.
„Weißt du – nein, ich kann’s dir nicht erklären. Frag Collonta. Ich könnte dir schon sagen, was es ungefähr ist, aber ich würde es wahrscheinlich so kompliziert ausdrücken oder lauter wichtige Sachen auslassen, dass du mich bloß falsch verstehst. Collonta sagt dir alles, wenn er wiederkommt. Er ist so klug, weißt du. Er ist ein Genie.“ Zhangs Augen begannen zu leuchten, während sie die Karten mischte. „Als ich ihn das erste Mal getroffen habe, war ich ein Bankdirektor. Erasmus ist auf der Straße stehen geblieben, hat mich angeguckt und gesagt: ‚Was für ein außergewöhnliches Talent! Eine fabelhafte Illusion, wie ich sie noch nie gesehen habe. Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?’ Stell dir vor, er hat mich erkannt, er hat meine Illusion erkannt! Dabei hatte mein Bankdirektor einen maßgeschneiderten Anzug plus eine frisch polierte Glatze mit Speckfalten im Nacken, echte Detailarbeit. Später hat Erasmus mir gesagt, er hätte die Magie um mich herum leuchten gesehen. Stell dir vor, jetzt versucht er mir beizubringen, wie ich auch Tiere schaffe. Und danach leblose Gegenstände! – O, hallo Emil!“
Im Zimmer war der blonde Junge aufgetaucht, den Tigwid bei seinem ersten Erwachen gesehen hatte. Er schenkte ihnen ein Lächeln, lief rot an und machte mit einem Haufen Bretter und Nägel kehrt, um nebenan ein eingebrochenes Fenster zu schließen.
„Was ist seine Gabe?“, raunte Tigwid, sobald Emil aus dem Zimmer war.
„Ich habe keine Ahnung … das weiß nur Erasmus genau. Manche hier glauben, Emil kann Gedanken lesen.“
Tigwid überlegte rasch, ob er etwas Unfreundliches oder Anstößiges gedacht hatte, als der Junge im Raum gewesen war. Es war nachvollziehbar, wenn sich andere in Emils Gegenwart unbehaglich fühlten – war er vielleicht deshalb so scheu?
„Erasmus sammelt gerne Leute mit außergewöhnlichen Talenten um sich“, fuhr Zhang etwas leiser fort. „Die meisten des TBK sind natürlich Geisterherren und -herrinnen. Ihre Kräfte sind für unseren Kampf am wichtigsten. Aber deswegen verachtet Erasmus nicht die anderen Talente, im Gegenteil. Wie er sich um Emil kümmert, ist der beste Beweis. Und jeder weiß, wie hoch er Bonni und ihre Visionen schätzt. Oder Rupert Fuchspfennig –“
„– du meinst den Mann mit den braunen Haaren und den …?“
Zhang zog angestrengt die Brauen zusammen und verwandelte ihr Gesicht in das eines vierzigjährigen Mannes mit dünnem braunem Haar, tiefen Furchen und mausartigen Augen. „Ja, der hier, Fuchspfennig, unser Gelehrter. Er ist zwar ein Geisterherr, aber auch ein Traumwandler, das heißt, er kann seinen Körper verlassen und als Geist wandeln … ich versuch nicht, dir das zu erklären, das macht Collonta. Jedenfalls ist Fuchspfennig immer bei Collonta. Sie besprechen Philosophie und Parapsychologie und so was. Ich glaube, die beiden sind schon seit Jaaahren befreundet. Nun, und ich bin eine Illusionistin und Collontas beste Schülerin. Die Mitglieder, die keine Geisterherren sind – Emil, Bonni, Fuchspfennig und ich –, wir stehen Collonta eigentlich am nächsten.“
„Was ist mit Loo?“, fragte Tigwid und nahm die Karten in die Hand, die Zhang ihm austeilte.
„Natürlich mag Collonta Loo auch gerne, wer mag sie nicht? Aber sie ist eben eine Geisterherrin.“
Während sie eine Spezialversion von Poker spielten, die Tigwid sich ausgedacht hatte, erzählte Zhang ihm von den anderen Mitgliedern des TBK. Laus zum Beispiel hatte Tigwid erst einmal flüchtig gesehen, als sie vorbeigekommen war, um ihm gute Besserung zu wünschen. Laus war eine hagere ältere Frau mit kurzem weißem Haar und einem Faible für Schals, die sie in großen Mengen um ihre Schultern, ihre Hüfte und ihren mageren Hals geschlungen trug. Laut Zhang gab es drei Sachen, die sie interessierten: ihre Schals, ihre Mottengabe und ihre Katzen.
„Das ist auch der Grund, warum Laus nicht hier wohnt“, erklärte sie. „Sie hat im Norden der Stadt eine Einzimmerwohnung mit zwölf Katzen und ihrem Strickzeug. Wenn ich sie nicht kennen würde, würde ich denken, dass sie verrückt ist. Na ja, ein bisschen verrückt ist sie wahrscheinlich. Aber Erasmus hält unheimlich viel von ihr. Sie strickt auch wirklich ganz beeindruckende Schals.“
Was Zhang über manche andere Mitglieder berichtete, war weniger amüsant. So wie die Geschichte von dem dunklen Mann, den Tigwid ein paarmal hatte vorbeilaufen sehen und den die anderen Kairo nannten. Er war in einem fremden Land mit fremden Bräuchen zur Welt gekommen, doch Motten wurden auch dort nicht akzeptiert, im Gegenteil – als Kairos Eltern die Gabe ihres Sohnes entdeckten, fürchteten sie, die übrigen Kinder könnten sich bei ihm anstecken wie mit einer gefährlichen Krankheit und schickten ihn zu einem Onkel in die Lehre. Der Onkel war ein frommer Mann, der sein Leben dem Verkauf religiöser Artefakte, ausgiebigen Gebeten und langem Fasten verschrieben hatte und seinen Geiz gerne Genügsamkeit und seine Lieblosigkeit Disziplin nannte. Kairo ertrug viele Jahre die harte Arbeit, die harten Worte und die harten Schläge, mit denen sein Onkel ihn in etwas Besseres zu biegen gedachte. Doch ein Mensch ist kein Eisenklumpen. Er besteht zu neunzig Prozent aus Wasser, und das lässt sich in keine Form schlagen. Mit siebzehn war Kairo noch immer so verschlossen, finster und begabt wie einst – die Erziehung seines Onkels hatte diese natürlichen Züge nur noch stärker hervortreten lassen. Er war ein Geisterherr. Ob er wollte oder nicht, er besaß Kräfte, die zerstörerisch und gefährlich und – verführerisch – waren … Nachts begann er sich darin zu üben, das Dunkle in ihm zu beherrschen, und errichtete Stück für Stück das mächtige Gebilde, dessen Bauplan er seit seiner Geburt in sich trug. Er machte rasche Fortschritte, bis sein Onkel ihn eines Tages im Morgengrauen beobachtete. Überzeugt, dass Kairo mit dem Teufel persönlich im Bunde sei, prügelte er auf ihn ein und sperrte ihn anschließend in den Keller, wo er für seine Sünden büßen sollte. Sobald Kairo sich von den Schlägen erholt hatte, brach er das Schloss auf – ein Leichtes für einen Geisterherrn –, um das Haus seines Onkels und seine Kindheit und alles hinter sich zu lassen, was ihm nur Qual und Trauer bereitet hatte. Als sein Onkel ihn aufhalten wollte, kam es zum Gerangel. Kairo streckte instinktiv die Hand aus. Ehe er es verhindern konnte, sammelten sich die Kräfte … er spürte das Zucken in seinen Fingerkuppen, spürte, wie sie durch seine Glieder schossen wie ein kalter Stromschlag und seinen Onkel trafen.
Der Mann schrie auf und fiel zurück. Seine Arme und Beine drehten sich wild in der Luft. Die Gelenke krachten – knack, knack! – knack knack! – und die Schreie steigerten sich zu einem unmenschlichen Laut des Schmerzes.
Kairo saß ganz reglos auf dem Boden, keuchend, und starrte seinen Onkel an, der sich nicht mehr bewegte. Ein Zittern lief noch durch seine Finger, dann hatten ihn sein Leben und die Geister verlassen.
Kairo floh noch in derselben Stunde, doch er kam nicht weit. In den verwinkelten Gassen der Stadt, in der er aufgewachsen war, schnappte ihn die Polizei und er wurde ohne viel Federlesen als Mörder eingesperrt. In jenem Land wurde das Gefängnis mehr gefürchtet als der Strick, denn dort zu landen, tief unter der Erde mit tonnenschweren Gittern und Gestein über dem Kopf, war wie ein lebendiges Begräbnis.
Zwei Jahre – oder waren es drei? – starb Kairo einen langsamen Tod in den Schatten der Einsamkeit. Wie alle Gefangenen litt er an Kälte, Hunger, mangelnder Luft und Bewegung; vor allem aber litt er an dem Wahnsinn, der sich mit all diesem Elend an seine Opfer heranschleicht, ein hinterlistiger Gefährte in einem langen Trauerzug. Kairo sah ein, dass seine Eltern und sogar sein Onkel recht gehabt hatten: Seine Begabung war böses Zauberwerk und er hatte sie mit seinem Ehrgeiz und seiner Neugier genährt, bis er ihr schließlich die Kontrolle überlassen und sie ihre schwarzen Schwingen nicht nur über ihn – sondern auch seinen Onkel ausgebreitet hatte. Er wusste, dass er dafür bezahlen musste.
Aber was nützt der Gedanke an Gerechtigkeit gegen Wahnsinn … Nach drei qualvollen Jahren hielt Kairo das Verlies nicht mehr aus. Wenn er jetzt nicht floh und rannte, egal wohin, von ihm aus direkt in die Hölle hinab, dann würde er verrückt werden, und kein Licht führt aus dem grellen Funkenspiel des Wahnsinns zurück. Dann wollte er eben nicht büßen – dann wollte er sich eben dem Bösen in ihm ergeben, wenn er dadurch die Sonne, den Mond und Bäume wieder sehen könnte!
Zum tausendsten Mal hatte Kairo den Entschluss zur Flucht gefasst, doch seine Gedanken zerrieselten schon nach Sekunden wie Sandgebilde, sodass er immer wieder vergaß, was er gerade eben noch überlegt hatte. Er musste den Moment nutzen. Die Chance ergreifen. Jetzt!
Für einen Geisterherr gibt es keine Tür und kein Schloss, das ihn aufhalten kann. Was Kairo drei Jahre von der Flucht abgehalten hatte, war allein das Wissen, dass er sein Leiden verdiente. Aber nun, was zählte da schon Wissen und Denken – das alles zerschmolz unter der Erinnerung an glühende, goldene Sonnenaufgänge. Kairo tat, was er seit dem Mord nicht mehr getan hatte, und brach die Kerkertür auf, indem er die Fingerspitzen auf das Eisen legte. In gleichmäßigen, ruhigen Schritten durchquerte er den Flur und stieg die Spiraltreppen empor, auf direktem Weg in seine Freiheit. Zwei Wärter kamen ihm entgegengerannt und Kairo ließ seine dunkle Seite auf sie los. Er sah nicht hin und sah nicht weg, als die Männer starben, auch wenn ihr Tod ihn in noch tiefere Verzweiflung stürzte. Aber seine Gabe war ein tollwütiger Hund: Er konnte ihn lediglich von der Leine lassen, doch keine Befehle erteilen.
So setzte er seinen Weg aus dem Gefängnis fort und seine Freiheit kostete fünf Männer das Leben. Als er auf die vom Sternenlicht geglättete Straße trat, den Rücken streckte, die Nacht einatmete, trugen seine Füße ihn weiter auf ein Ziel zu, von dem er nur wusste, dass es in der Ferne lag – so fern, dass es vermutlich ein Traum war und nie zu erreichen.
Kairo ging. Er ging und räumte alles aus seinem Weg, was ihn am Voranschreiten hinderte. Tage und Nächte ging er einfach, beobachtete die Lichter des Himmels und das Winken der silbrigen Blätter und die Vögel, die ihr Reich dazwischen hatten. Die Welt war wunderschön. Dann kam er zu einem Hafen und sah das Meer. Wenn er im Land blieb, würde die Polizei ihn weiter verfolgen und er würde mehr Männer töten müssen. Kurzerhand schlich er sich auf den nächsten Dampfer, der die Küste verließ, und sah zu, wie seine Heimat im grauen Qualm verblasste. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Fast war ihm, als könne er sich selbst verblassen sehen.
Das Schiff trug ihn an eine neue Küste, zu einem fremden Land. Was in seiner Heimat sandig, gelb, heiß und trocken war, war hier nebelblau, matschig, kalt und feucht.
Kairo setzte seinen Weg fort, nicht auf der Flucht vor der Polizei, sondern vor seinem eigenen Schatten. Er betrat und verließ große Städte, schlief auf einsamen Straßen und in verwitterten Heiden, durchwanderte ein kleines Gebirge und kam in eine Stadt. Die Reise durch die Natur hatte ihn geschwächt, in einer Stadt aber gibt es immer Abfall, in dem man Essen finden kann, oder leichte Opfer. Nach einigen Tagen raubte Kairo einen Mann aus. Gerade hatte er sich mit dem Geld davongemacht und lief zählend durch die dunklen Gässchen, da trat Erasmus Collonta in sein verlorenes, junges Leben.
Der ältere Herr stand am anderen Ende des Gässchens, eine Hand auf den Gehstock gelegt, die andere auf dem Rücken, und musterte Kairo durch die ausgeblichenen Schatten der Häuser. „Guten Tag. Ich … sehe dich. – Nein!“
Gerade rechtzeitig hob Collonta die Hand und wehrte Kairos Angriff ab. Kairo starrte ihn an. Das hatte er noch nie erlebt. Offenbar konnte der Alte das, wovon Kairo längst nicht mehr zu träumen wagte: Er konnte das tollwütige Biest zähmen.
Collonta sprach besänftigend auf ihn ein. Sie verständigten sich allmählich und Collonta brachte ihm die ersten Worte in seiner Sprache bei. So erfuhr Kairo, dass er nicht die einzige Motte auf der Welt war, dass man die Gaben beherrschen konnte und der TBK sich im weitesten Sinne um genau das kümmerte: die Kontrolle übersinnlicher Kräfte …
Tigwid dachte über die Mitglieder des TBK und vor allem die Geschichte von Kairo nach, als Zhang gegangen war, um draußen frische Luft zu schnappen. Obwohl sechs der zehn Anhänger Collontas in der Wohnung lebten, gingen sie ein und aus, als wären sie in den Schatten der Stadt ebenso zu Hause wie in ihren Zimmern.
„Wir sind eben Motten“, hatte Zhang mit einem Grinsen gesagt. „Wir müssen nachts ausflattern und uns unter die Leute mischen. Wer sich abkapselt, findet irgendwann gar keine Verbindung mehr zu den gewöhnlichen Menschen.“
Und Collonta? War er auch in der Stadt unterwegs, um eine Weile zu vergessen, dass er eine Motte und ein gesuchter Terrorist war?
„Blödsinn“, erwiderte Zhang, während sie sich die dichten, langen Haare zu einem Zopf flocht. „Erasmus widmet sich seinen Studien. Er hat soo viel zu tun, der hat keine Zeit zum Rumspazieren.“
Nach einem Augenblick schlüpfte Tigwid aus dem Bett. Er hatte nicht mehr die Ruhe, dazuliegen und den Stimmen seiner letzten Erinnerungen zu lauschen. Mit tapsigen Schritten durchquerte er das Zimmer. Draußen war es Abend geworden; durch das wellige Fensterglas konnte er den Himmel hinter den Hausdächern sehen, wässrig blau und leuchtend wie ein abgetragenes Tuch mit einem Bühnenlicht dahinter. Seufzend blieb er am Fenster stehen. Ihm war, als dringe die Kühle des Abends durch das Glas. Er konnte es kaum erwarten, endlich wieder rauszukommen. Motten müssen nachts ausflattern und sich unter die Leute mischen … Nachdenklich befühlte er den Verband an seiner Schulter. Irgendwo da draußen, in dem Irrgarten der Backsteinhäuser, Kirchen, Stadtvillen und Fabriken, steckten Apolonia und Vampa. Und er hier drinnen, so unauffindbar, dass er genauso gut am Nordpol sein könnte.
„Du kannst schon aufstehen“, stellte eine Stimme dicht hinter ihm fest. Tigwid fuhr herum: Collonta stand direkt vor seiner Nase. Er hatte nicht gehört, wie die Zimmertür aufgegangen war, dabei konnten die quietschenden Angeln Tote wecken.
„Wie sind Sie reingekommen?“, fragte Tigwid verblüfft.
Collonta antwortete ihm mit seinem eigentümlichen Lächeln. „Wenn du dich wieder kräftig genug fühlst, dann zieh dich an und ich zeige es dir.“
Tigwid klaubte sein Hemd und einen großen dunklen Wollpullover zusammen, den Fredo ihm besorgt hatte, und streifte beides vorsichtig über. Während er mit einer Hand versuchte, sich Socken anzuziehen und in seine Schuhe schlüpfte, beobachtete Collonta, wie das Licht im Himmel immer schwächer wurde und seine Spiegelung im Fenster deutlicher. Dann stand Tigwid auf.
Collonta lächelte. „Fertig? Haare gekämmt, Ohren geputzt und Unterwäsche gebügelt?“
„Nee.“
„Dann lass uns gehen.“
Collonta führte ihn durch die Wohnung. Sie zwängten sich durch den engen Flur, an der großen, fast leer stehenden Küche vorbei und durch zwei lange Zimmer mit einer eingerissenen Wand. Hier und da führten Türen in die Zimmer von Bonni, Loo, Fredo, Kairo, Zhang und Emil, und im Vorbeigehen zählte Tigwid noch so manch weitere Tür, einige verschlossen, andere verrammelt oder zertrümmert. Ein kleiner Raum war voller Rohre, Bretter und Schutt. Dann trat Collonta in ein Badezimmer, dem die Tür und das Waschbecken fehlten, das aber noch mit einem großen, sehr verstaubten Wandspiegel und einer schiefen Badewanne auf drei Löwenpranken aufwarten konnte. Collonta knipste den Lichtschalter an und in der Badewanne schnurrte ein Büschel Glühbirnen auf. Durch die Reflektion der Wanne wurde der ganze Raum in ein unheimliches Licht getaucht.
„Komm, schau hierher“, ermunterte Collonta Tigwid, der sein kränkliches Spiegelbild betrachtet hatte, und wies auf die kahle Wand gegenüber. Ohne sich umzudrehen, musterte Tigwid die Wand im Spiegel. Die hellgrünen Kacheln waren alle abgefallen und legten den Blick auf eine Ziegelsteinmauer frei. Collonta schien seine Aufmerksamkeit diesen Ziegelsteinen zu widmen. Schließlich drehte Tigwid sich um und – blinzelte überrascht. Plötzlich war eine leuchtend grüne, kreisrunde Tür auf der Mauer erschienen. Wie hatte er die im Spiegel übersehen können?
„Das“, erklärte Collonta feierlich, „ist der Grüne Ring.“
„Das ist aufgemalt.“
Collonta warf Tigwid einen Seitenblick zu. „Gemalte Bilder sind Illusionen, visuelle Tricks. Unseren Augen wird eine Szene, ein Raum oder ein Gegenstand vorgetäuscht, der nicht existiert. Hier wird dir nichts vorgetäuscht, Tigwid.“ Mit einem Nicken wies er zum Spiegel. Tigwid sah hinein. Verwirrt drehte er sich wieder zur Wand. Kein Zweifel, da war die Tür. Aber sie hatte keine Spiegelung.
„Hier … wird dir nur etwas verschwiegen!“
„Wie funktioniert das? Ist das alles mit Mottengaben gemacht?“
Collonta schüttelte den Kopf und streckte gleichzeitig die Hand nach dem Türknauf aus. „Wir schaffen das Unbegreifliche nicht mit unseren Gaben. Unsere Gaben gewähren uns lediglich Zutritt zum Unbegreiflichen.“ Und plötzlich stand die gemalte Tür offen und in der Wand klaffte ein pechschwarzer Eingang.