Die Gaben

 

 

„Nach dir“, sagte Collonta vergnügt und wies in die Schwärze, die sich vor ihnen auftat. Verblüfft streckte Tigwid eine Hand aus und tauchte sie in den unbekannten Raum. Eine leichte Kühle kroch ihm über die Haut. Dann trat er durch die Öffnung. Er fühlte weder einen Boden unter den Füßen noch schwebte er. Tigwid drehte sich zu Collonta um, der gerade eingetreten war, und sah gerade noch, wie das Bad hinter ihnen in die Ferne gerissen wurde und in einem kleinen Farbstrudel verschwand. Er schluckte hörbar. Obwohl es keine Lichtquelle mehr gab, konnte er Collonta gut erkennen, so als würde er von innen leuchten, und auch seine eigenen Hände schienen plötzlich merkwürdig hell. Gänsehaut überzog seinen Körper.

„Nun. Die nahe liegende Frage ist, wo wir uns befinden.“ Collonta wies mit seinem Stock in die Schwärze. Dem Widerhall seiner Stimme nach zu urteilen hielten sie sich in keinem besonders großen oder keinem zu kleinen Raum auf. „Leider kann ich es selbst nicht sagen. Ich vermute allerdings, dass das hier ein Ort jenseits von Zeit und Raum ist. Dein Verstand sagt dir womöglich, dass das, was deine Sinne erfahren, unmöglich ist – dass du die absolute Abwesenheit von Materie nicht erleben kannst, weil du selbst Materie bist. Aber die Tatsache, dass wir beide hier sind und uns unterhalten, beweist, dass dieser Ort existiert, weil wir existieren. Oder aber es ist wirklich unmöglich, was bedeuten würde, dass auch wir beide nicht existieren.“ Collonta seufzte friedlich. „Die ewige Frage der Menschheit: Sind wir alle nur Träumer und die Welt nichts als der Traum jedes Einzelnen?“

„Ich versteh das nicht“, sagte Tigwid mit rauer Stimme. „Wie – aber wo sind wir?“

„Unsere Mottengaben sind ein hauchdünner Faden, dem wir vorsichtig folgen können, und dann gelangen wir hierher: an den Anfang und das Ende von allem. Natürlich kann auch ich nur auf das beschränkte Denkvermögen zurückgreifen, das das menschliche Hirn uns zur Verfügung stellt, doch wenn ich den logischen Schritten des Verstandes folge, dann müsste der Geburtsort der Welt, ja selbst das Herz des Universums, ein Ort sein wie dieser. Vielleicht ist es sogar ein und derselbe. Hier, wo die Existenz selbst relativ ist, ist alles möglich. Du hast gefragt, wo wir sind. Nun, das liegt in deiner Hand.“

„Soll das heißen … das hier ist eine Transportmaschine?“

„Maschine würde ich es nicht nennen, denn eine Maschine ist von Menschen gebaut, um die Natur zu imitieren oder auszunutzen. Ich bezweifle, dass der menschliche Kopf erfinden kann, was der Ursprung des Lebens selbst ist. Ein Kind gebärt nicht seine Mutter.“ Collonta lächelte. „Denk dir einen Ort aus.“

„Einen Ort?“

„Irgendeinen. Na los!“

„Gut … ich habe mir einen überlegt.“

Collonta legte gespannt beide Hände auf den Gehstock. „Stell ihn dir so detailliert wie möglich vor.“

Tigwid versuchte es, so gut er konnte. Plötzlich lief ein Vibrieren durch seinen Körper, als würde die Schwerkraft einen Husten bekommen. Das Herz schien ihm buchstäblich in die Hose zu rutschen und für einen kurzen Augenblick schwebten seine Hände leicht wie Federn vor ihm. Dann erschien flimmernd und flackernd die runde grüne Tür neben ihm, so wie auf der Wand im Badezimmer.

„Ah!“, machte Collonta wie jemand, der einen Groschen auf der Straße findet. „Das ging ja ganz flott. Nun – wie immer nach dir, Tigwid.“ Er klopfte mit dem Gehstock gegen den Grünen Ring und sie flog auf. Tigwid trat aus der Dunkelheit in ein schwach beleuchtetes Zimmer mit kahlen Wänden und einem massiven Schreibtisch, über dem ein Kruzifix hing. An dem Schreibtisch saß eine ältere Nonne mit einer spitzen Nase und Pausbacken, die etwas schrieb. Erst als Collonta seinen Gehstock auf den Boden setzte, blickte sie auf. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, bekam sie vor Schreck einen halben Herzinfarkt.

„Nanu, wo sind wir denn hier gelandet?“, erkundigte Collonta sich freundlich und sah sich im Zimmer um. Tigwid konnte nur die Nonne anstarren – die Erzieherin des Waisenhauses, mit der ihn so manche Erinnerung verband. Und so manche Tracht Prügel.

„Guten Abend … Fettwanst“, sagte Tigwid. In vielen Träumen hatte er sich ausgemalt, wie süß jede Beleidigung Schwester Mathildes schmecken musste. Aber das Fettwanst war noch viel köstlicher, als er gedacht hatte.

Schwester Mathilde starrte ihn an wie eine paralysierte Wachtel.

„Wohin hast du uns geführt, Tigwid?“ Noch immer blickte Collonta interessiert umher.

„Das Zimmer einer alten Bekannten. Erinnern Sie sich an mich, Schwester? Sie hatten recht, als Sie sagten, der Teufel würde mich eines Tages holen. Hier bin ich mit ihm – um Sie abzuholen, Sie buckelige Kröte!“

Collonta stimmte ein väterliches Lachen an, als die Schwester einen Schreckensschrei ausstieß. „Tigwid … nun ist aber gut. Keine persönlichen Rachefeldzüge mit dem Grünen Ring.“ An die Nonne gewandt, fuhr er fort: „Meine Teuerste, adieu.“ Dann klopfte er mit seinem Gehstock in die Luft, wo augenblicklich der Grüne Ring erschien.

„Das nächste Mal, Schwester! Nächstes Mal kommen Sie mit!“ Tigwid schaffte es sogar noch, eine unflätige Geste zu machen, ehe Collonta ihn in die Dunkelheit gezogen hatte und das Zimmer der Nonne verschwand wie Wasser in einem Abfluss. Tigwid war von der Begegnung so erquickt, dass er kaum mehr einen Gedanken daran verschwendete, wieso er keinen Boden unter den Füßen spürte. „Das war unglaublich! Mit dem Grünen Ring kann man wirklich überall hin? Und ich hab immer ein blödes Brecheisen benutzt!“ Er musste lachen. „Entschuldigung, dass Sie das eben mit ansehen mussten. Aber glauben Sie mir, der alten Vettel tut es nur gut, einen Vorgeschmack von dem zu bekommen, was sie nach dem Tod erwartet.“

Collonta schmunzelte. „Nun … ich denke, hin und wieder darf man sich auch ein Späßchen mit den gewöhnlichen Leuten erlauben.“

„Kann man auch an Orte, die man noch nie gesehen hat?“, fragte Tigwid begierig weiter, ohne ihn recht gehört zu haben.

„Nein, das ist schwierig … Aber lass uns an einem anderen Ort darüber sprechen, wo es gemütlicher ist.“ Wieder erschien die Tür und Tigwid und Collonta betraten einen runden Raum, der von meterhohen Bücherregalen umschlossen wurde – die Regale reichten so weit empor, dass sie dem Licht der Petroleumlampen entschwanden und sich in ferner Dunkelheit verloren. Eine bewegliche Leiter war durch Schienen an den Regalen befestigt und führte ebenfalls in die Finsternis hoch oben, die aussah wie der Nachthimmel vom Grund eines Brunnens aus.

Ein halbkreisförmiger Eichentisch stand in der Mitte der Bücher, über und über beladen mit Schriftrollen, Kästchen, Schatullen und Gerätschaften wie einem silbernen Kompass, einem kleinen, von selbst rotierenden Globus, einer goldenen Sanduhr, einer tickenden Kugel, einem bronzenen Auge, das im Drei-Sekunden-Takt auf- und zuklappte, und einer schwarzen, fest verschlossenen Muschel. Tigwid war so von den geheimnisvollen Gegenständen fasziniert, dass ihm erst nach einer Weile auffiel, dass das Zimmer überhaupt keine Tür hatte – auch der Grüne Ring war längst verschwunden. Immer mehr kam er sich vor wie auf dem Grund eines Brunnens. Zugegeben, eines sehr schmucken Brunnens, denn der Boden war mit feinen Teppichen ausgelegt und Collonta bot Tigwid einen gemütlichen Sessel an. Als der alte Geisterherr sich auf einem Sessel auf der anderen Seite des Tisches niedergelassen hatte, faltete er die Hände vor dem rundlichen Bauch und seufzte zufrieden. „Dies ist mein Arbeitszimmer. Ich hoffe, du verstehst, dass ich dir nicht den direkten Weg hierher zeigen kann; niemand kennt ihn außer mir. Solltest du oder ein anderes TBK-Mitglied nämlich den Dichtern in die Hände fallen – ich bete, dass es nie dazu kommen wird –, würden sie den Weg zu diesem geheimen Zimmer aus euch herausschreiben. Kein Wissen, und wenn man es noch so gut vor ihnen zu verschließen versucht, ist vor den Dichtern sicher. Selbst wenn es einer begabten Motte gelingt, ihre Erinnerungen nicht ans Papier zu verlieren, so kann sie doch nicht verhindern, dass die Dichter in ihrem Wissensschatz herumwühlen und alles in Erfahrung bringen, was sie in Erfahrung bringen wollen.“

Eine Weile beobachtete Tigwid schweigend das träge blinzelnde Bronzeauge. Irgendwo fernab dieser kleinen Wunderhöhle, in der realen Welt, wühlten die Dichter vielleicht gerade in Apolonias Wissensschatz.

„Bitte, erklären Sie mir alles. Wer sind die Dichter und wieso stehlen sie den Menschen ihre Erinnerungen? Und was macht der TBK? Was sind unsere Gaben, können wir dasselbe wie die Dichter? Was sind denn nun endlich Geisterherren?“

„Du stellst diese Fragen zu Recht, Tigwid, und es tut mir leid, dass ich sie nicht eher beantworten konnte. Doch es war viel los in den vergangenen Tagen – hauptsächlich wegen der Dichter. Und wegen eines Mädchens, das du kennst. Ihr Name ist Apolonia Spiegelgold.“

Tigwid spürte einen Kloß im Hals. Weil ihn plötzlich hundert Fragen auf einmal bestürmten, kam ihm keine einzige über die Lippen.

„Fangen wir an: Wer sind die Dichter und wieso tun sie, was sie tun? Nun. Die Dichter sind eine kleine Gruppe von Motten mit besonderen Fähigkeiten. Im Grunde sind ihre Gaben denen der Geisterherren nicht unähnlich – sie sind sogar fast identisch. Aber das wissen die Dichter natürlich nicht, und sie würden es auch nicht glauben wollen. In ihren Augen ist ihre Gabe einzigartig. Dabei ist das Können, das sie entwickelt haben, nichts weiter als eine Verkehrung der Ursprungskraft. Ich werde versuchen, dir zu erklären, was genau diese Kraft ist, doch vorher ein paar Worte zu den Motiven der Dichter. Wieso stehlen sie Erinnerungen? Die Antwort ist einfach und doch für keinen normalen Menschen nachvollziehbar. Den Dichtern fehlt es schlicht und ergreifend an Moral. An Mitgefühl. Sie vernichten Menschen, weil sie es können. Die Faszination ihrer Bücher, die sie ihrer eigenen Genialität zuschreiben, beruht in Wirklichkeit auf der Faszination von Gefühlen und Erinnerungen, die sie irgendwelchen armen Seelen gestohlen haben. Das ist der eine Beweggrund für die Dichter: Ihre Selbstliebe, ihre Selbstverherrlichung, getarnt als heuchlerische Liebe zur Kunst. Sie fühlen sich wie Götter, weil sie das Schöne der Menschen aus dem Dunkel ihrer Köpfe herausholen und ins Licht bringen können, wie sie sagen. Diese Narren! Dabei ist die Schönheit der Gefühle gar nicht in jedem Einzelnen gefangen. Wer liebt, der teilt sein Innerstes mit der ganzen Welt.“ Collonta blickte verdrießlich vor sich hin, während er die Lehnen seines Sessels mit den Händen umschloss. Dann wurden die Runzeln auf seiner Stirn tiefer und seine Augen hart. „Aber es gibt noch einen Grund, weshalb die Dichter sich darauf spezialisiert haben, das Innere anderer Menschen auszuschlürfen. Sie haben gelernt, dass sie das Wissen, die Erinnerungen, die Identität – die Begabungen – eines Menschen nicht nur stehlen können, sondern dabei auch sich selbst aneignen … Wenn ein Dichter eine andere Motte ausraubt, nimmt er sich auch seine Gabe. Und das ist der springende Punkt. Die Dichter wollen Macht – mehr noch als den Ruhm wollen sie die Herrschaft über die Welt. Darum gibt es auch uns, den Treuen Bund der Kräfte. Wir versuchen die Menschen vor den Dichtern zu schützen, indem wir uns selbst vor den Dichtern schützen. Denn wenn Nevera oder Morbus oder einer ihrer Lehrlinge unsere Gaben in die Hände bekommt, dann werden sie noch mächtiger. Und immer mächtiger. Bis sie ihre Kräfte nicht mehr verborgen halten müssen und die ganze Welt damit beherrschen können. Es ist schwer, es sich vorzustellen, und ich will am liebsten gar nicht daran denken – doch wir alle sind längst nicht so sicher, wie wir glauben. In unserer direkten Nähe gibt es Menschen, die uns unsere Freiheit von einem Augenblick zum nächsten rauben könnten.“ Stille breitete sich nach diesen Worten aus, nur das Ticken der geheimnisvollen Kugel war noch zu hören und das feine Rieseln der Sanduhr.

„Was genau sind nun die Gaben der Dichter und der Geisterherren? Wie funktionieren sie?“

„Siehst du, wir alle werden mit einem Körper geboren. Manche werden schnelle Läufer, andere konzentrieren sich auf ihre geistigen Fähigkeiten und wieder andere zeigen großes Geschick mit den Händen und Augen und werden Künstler. Trotzdem haben alle Fähigkeiten einen Ursprung – den menschlichen Körper, Verstand und Psyche mit eingeschlossen. Im Prinzip bestimmt der Mensch selbst, wer er ist. Und er macht das, was seiner Natur entspricht, denn so soll es sein und nicht anders.

Die Gaben der Motten machen eine kleine Ausnahme. Viele Gaben sind auch mir noch unergründlich, und ich bin mir nicht sicher, ob wir sie je begreifen können – zum Beispiel Bonnis Visionen. Wie kann sie Dinge sehen, die noch nicht eingetreten sind? Es stellt mich vor Rätsel und … vielleicht ist das auch gut so. Es lässt mich an einen Gott glauben, weißt du. Andere Gaben sind mir schon etwas verständlicher. Zum Beispiel die Gabe der Dichter und die der Geisterherren – ich habe mir ein paar plausible Erklärungen zusammengereimt, auch wenn das natürlich nur Vermutungen sind.“

„Ich würde sie trotzdem gerne hören“, sagte Tigwid.

„Nun. Ich gehe davon aus, dass alle Dinge, die wir irgendwie begreifen oder nachvollziehen können, auf den Regeln der Physik beruhen. Ich habe mir gedacht, wenn die Mottengaben im Grunde einfach nur Kräfte sind, Energie, die verschiedene Formen annehmen kann, dann muss man sie mit der Physik erklären können. Ich fragte mich also, wie die meisten – wenn nicht alle – Kräfte des Universums entstehen. Die Antwort ist: Magnetismus.“

Tigwid runzelte skeptisch die Stirn.

„Alle Dinge, die größten wie die kleinsten, werden gelenkt durch Anziehungskraft. Der Mond und die Erde – die Erde und die Sonne – alles eine Frage der Anziehung! Genauso in den winzigsten Atomen, wo Elektronen um Neutronen herumschwirren, ohne je dem Bann ihrer Anziehung zu entkommen. Jede Kraft, jede Energie, die wir besitzen oder nutzen oder beobachten können, rührt in ihrem Kern von einer solchen Anziehungskraft her. Ohne sie gäbe es nichts, kein Leben, keine Planeten, kein Universum. Wieso sollten die Mottengaben also eine Ausnahme sein? Nein, ich vermute, dass sie den gleichen Regeln folgen.“

Tigwid starrte den Globus an, der sich unermüdlich um sich selbst drehte. Stockend streckte er die Hand aus und konzentrierte sich … der Globus hielt allmählich inne. Schließlich drehte er sich in die entgegengesetzte Richtung, langsam und schleppend.

Collonta beobachtete das Ganze aufmerksam.

„Und wenn alles eine Frage der Anziehung ist … wie kommt es dann, dass ich frei darüber verfügen kann, ohne den Globus zu berühren?“, fragte Tigwid leise. Er ließ die Hand erschöpft sinken und der Globus wackelte ein wenig, ehe er seine gewohnte Runde wieder aufnahm.

Collonta lächelte. „Hier kommt die Elektrizität ins Spiel.“

Tigwid runzelte wieder die Stirn. Die Geschichte mit dem Magnetismus hatte er Collonta gerade noch glauben können – aber jetzt auch noch Strom? Collonta schien ihm die Zweifel anzusehen und legte die Fingerkuppen aneinander.

„Nun, wir können es auch anders nennen. Sagen wir, die Energie, die uns ständig und überall umgibt, die in der Luft schwebt, manchmal in Form von Hitze, in Form von Lärm oder in magnetischen und elektrischen Impulsen. Wenn ich spreche, so stoße ich Energie aus, die an meine Umwelt verloren geht und weiterexistiert, selbst wenn meine Worte verklungen sind. Und während du dort sitzt und mir zuhörst, gibst du Wärme ab, die nicht nur deinen Körper heizt, sondern auch eine Aura kaum zu spürender, menschlicher Hitze um dich ausbreitet. Diese Energien fliegen frei um uns herum. Und was wir Motten machen – wir können diese Energieströme, die eigentlich an die Umgebung verloren sind, lenken.“

„Wie?“

Collonta tippte die Finger gegeneinander. „In der Tat eine schwierige Frage. Dies ist meine Erklärung: Unser Gehirn funktioniert durch winzige Stromstöße, die durch das Organ schießen und Informationen transportieren. Wie jede Energie muss auch diese elektrische Energie einen Teil von sich an die Umgebung abgeben – das heißt, uns umgibt ein unsichtbarer Nebel elektrischer Impulse. Wir Motten können offenbar Impulse nach draußen transportieren, in denen noch Informationen aus unserem Gehirn gespeichert sind. Die Impulse treffen auf die Energien in der Luft, vermitteln die Information weiter – wie Dominosteine schlagen Milliarden unsichtbare Elektronen gegeneinander und bewirken zum Beispiel das, was du gerade mit meinem Globus gemacht hast.“

Tigwid musste diese abenteuerliche Theorie erstmal auf sich wirken lassen. Er kaute auf seiner Unterlippe und starrte Collonta an. „Ich dachte immer, dass es irgendwas mit Magie zu tun hätte …“

„Was ist denn Magie? Ist Magie keine Magie mehr, sobald man sie begreifen kann?“ Er lächelte wieder. „Ich betrachte unsere Gaben mit den Augen eines Wissenschaftlers, und gleichzeitig bergen sie für mich einen wundervollen, atemberaubenden Zauber, sie sind ein Geschenk Gottes. Wenn ich dir erklären würde, wieso ein Gemälde schön ist, würde es dadurch seine Schönheit doch nicht verlieren. So ist es auch mit den Wundern der Natur.“

Tigwid schwieg.

„Du hattest gefragt, wie die Gaben der Dichter und Geisterherren funktionieren“, erinnerte Collonta. „Nun, ich denke, beide beruhen auf denselben Regeln. Die Geisterherren beschwören in Wirklichkeit natürlich keine Geister. Wir können die verlorenen Energien der Luft entziehen und sie zu neuen Kräften ballen, die uns wie mächtige Geister erscheinen. Und wir haben herausgefunden, dass wir nicht nur so etwas wie die Wärme eines Feuers für uns benutzen können … Wir können auch Energien bündeln, die noch in ihren Körpern stecken. Wenn du so willst, können Geisterherren anderen Wesen Lebenskraft abzapfen.“

„Sie könnten mir also meine Energie wegnehmen. Und was würde dann mit mir passieren?“

„Ohne Energie funktioniert kein Körper. Es wäre tödlich.“

„Das ist … furchtbar. Solche Kräfte zu haben … ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich nicht so begabt bin. Ich hätte Angst vor mir selbst.“

Collonta nickte ernüchternd. „Es ist eine sehr große Verantwortung. Macht wiegt mehr als Stahl und Eisen und nur die wenigsten Menschen können sie tragen. Leider will der Zufall es so, dass es immer wieder Motten mit mehr Talent als Moral gibt.“

„Sie meinen die Dichter.“

Wieder nickte er. „Ihre Gabe funktioniert wie gesagt ähnlich wie die der Geisterherren. Sie ziehen elektrische Energien aus den Köpfen anderer Menschen – ihre Erinnerungen. Sie haben sich darauf spezialisiert, nur diese eine Energiequelle anzuzapfen. Wir Geisterherren versuchen dagegen, uns auf verlorene Energien in der Luft zu konzentrieren. Höchstens im Falle der Notwehr rauben wir einem anderen Lebewesen seine Kraft. So könntest auch du, Tigwid, einen Gegenstand festhalten, damit er nicht auf dem Boden zerbricht, oder du könntest eine Kugel nehmen, um sie jemandem ins Herz zu jagen. Es liegt immer daran, wie man seine Gabe einsetzt.“

Die Sanduhr war abgelaufen und drehte sich von selbst um. Tigwid beobachtete nachdenklich, wie der Sand wieder zurückrieselte.

„Was tut der TBK gegen die Dichter? Es reicht doch nicht, dass wir uns vor ihnen verstecken, damit sie sich nicht auch noch unsere Gaben aneignen können. Wir müssen sie irgendwie in dem aufhalten, was sie jetzt schon tun!“

Collonta sah ihn aus blitzenden Augen an. „Du hast recht … und genau aus dem Grund bist du hier, Tigwid. Wie ich schon sagte: Es geht um ein Mädchen, das du kennst.“

„Was hat Apolonia damit zu tun?“, fragte Tigwid und seine Stimme schwankte leicht.

Der alte Geisterherr faltete die Hände vor dem Bauch. „Vor nicht langer Zeit hat Bonni eine Prophezeiung gemacht. Sie sagte, es werde ein Mädchen geben, eine außergewöhnlich talentierte junge Motte, die Ratten tanzen lässt, ihre Schnürsenkel nicht binden kann und ein Herz hat, scharf wie ihr Verstand. Sie wird sich auf eine Seite stellen, entweder auf die der Dichter oder auf unsere – und ihre Gegner vernichten. Und Bonni hat dich gesehen. Sie sagte, ein Kleinganove – ich meine, ein Überlebenskünstler namens Jorel – werde dieses Mädchen finden und es entweder zu den Dichtern oder zum Treuen Bund führen.“

Tigwid sah ihn reglos an. „Das ist also der Grund, wieso ihr mir geholfen habt.“

Überraschung, dann Mitgefühl breitete sich auf Collontas Gesicht aus. „Nein, nein, Tigwid … wir hätten dich auch so bei uns aufgenommen! Wir nehmen jede Motte bei uns auf und jedes Opfer der Dichter, das wir aufspüren können!“

Tigwid nickte und winkte ab. „Schon gut, ich versteh das. Übrigens brauchen Sie sich wegen Apolonia keine Sorgen machen. Wenn es ihr wirklich bestimmt ist, eine Mottengruppe zu vernichten, dann werden das garantiert die Dichter sein. Sie ist längst dabei, ihnen das Handwerk zu legen.“

„Alleine?“

„Ich wollte ihr ja helfen. Aber dann …“ Er wies schnaubend auf seine bandagierte Schulter.

„Du musst sie finden und herbringen, Tigwid“, sagte Collonta eindringlich. „Das ist der einzige Weg. Alleine die Dichter vernichten, das ist unmöglich! Die Prophezeiung besagt, dass sie sich einer Gruppe anschließen muss.“

„Ja, ich wollte sie suchen! Ich kann eigentlich sofort losge–“

Collonta erhob sich abrupt und starrte auf eine Stelle hinter Tigwid. Tigwid drehte sich um. Die Luft schien an einem Fleck zu flimmern. Dann erschien der Grüne Ring und die Tür sprang auf. Einen Augenblick später war ein Mann erschienen, der eine braun karierte Jacke und zu lange Hosen trug. Tigwid erkannte Rupert Fuchspfennig wieder, Collontas engen Freund und Mitstreiter.

„Kommt schnell – Bonni sieht etwas“, sagte er und war mit einem Bein schon wieder im Grünen Ring.

„Magdalenas Tochter?“, fragte Collonta knapp. Fuchspfennig nickte. Collonta eilte um den Schreibtisch herum auf den Grünen Ring zu. „Tigwid, beeil dich – wir setzen unser Gespräch ein anderes Mal fort. Husch, husch.“

Sie traten in die Dunkelheit und einen Moment später führte die runde Tür sie zurück in das Badezimmer mit den Glühbirnen in der Wanne. „Kommt“, rief Collonta und lief ihnen voran durch die Wohnung. Tigwid warf noch einen letzten Blick auf die gemalte Tür und vergewisserte sich, dass sie im Spiegel nicht zu sehen war – dann folgte er Collonta und Fuchspfennig. Im Flur stießen sie auf Loo.

„Wir waren gerade beim Kartoffelschälen fürs Abendessen und haben geredet, und plötzlich ist Bonni aufgestanden und drei Schritte gegangen und zusammengebrochen. Und dann haben wir gesehen, dass es wieder so weit ist, dass sie eine Vision hat … – sie ist hier, in ihrem Zimmer.“ Loo öffnete die Tür. Auf einem schmalen Bett saßen Fredo und Zhang. In ihren Armen hing Bonni.

Das silberne Haar fiel ihr wirr ins Gesicht, während sie sich drehte und wandte wie eine Schlafende in einem Albtraum. Ihre Augen flatterten.

„Um Gottes willen“, murmelte Tigwid. „Bonni! Bonni, hörst du mich?“

Jemand hielt ihn am Arm zurück, als er auf Bonni zugehen wollte. Er blickte auf und sah, dass Kairo neben ihm stand. Er hatte ihn noch nie von nahem gesehen. Unter dem dichten schwarzen Haar und dem wuchernden Bart konnte man ein Gesicht erahnen, das noch jung war.

„Lass sie“, sagte Kairo leise. „Gleich vorbei.“

Tigwid gehorchte und beobachtete sorgenvoll, wie Fredo und Zhang Bonni festzuhalten versuchten. Dann sank Bonni zusammen und regte sich nicht mehr. Vorsichtig legten Fredo und Zhang sie auf das Bett und strichen ihr die Haare aus dem Gesicht. Eine halbe Minute herrschte Stille. Dann zuckten Bonnis Finger und sie öffnete stöhnend die Augen.

Collonta trat neben sie. „Bonni?“

Ihr Blick irrte über die Zimmerdecke. Dann stiegen ihr Tränen in die Augen. „Es ist zu spät. Es ist geschehen.“

„Was ist geschehen?“, fragte Zhang verzweifelt.

„Magdalenas Tochter … sie hat gewählt.“ Zhang umklammerte Collontas Arm. Nicht nur sie, auch er schien zu zittern.

„Sie hat sich den Dichtern angeschlossen“, sagte Bonni, und Zhang schüttelte den Kopf, als wolle sie es nicht glauben.

Tigwid trat einen Schritt vor. „Redest du von Apolonia? Das ist unmöglich. Apolonia – niemals.“

Zhang drehte sich zu Bonni um. „Bist du dir ganz sicher? Ich meine … hast du das auch wirklich gesehen?“

Gebannt warteten alle auf eine Antwort. Doch Bonni starrte nur an die Decke und zwang sich schließlich zu einem knappen Nicken. Collonta sank zu Boden. Sein Gehstock schlug klappernd gegen das Bett. Mit dumpfen Augen starrte er ins Leere.

„Nein“, stammelte Tigwid. „Wartet einfach hier … keine Angst. Ich werde sie finden!“