Apolonia traf Morbus am späten Nachmittag in der Bibliothek seines Anwesens zur ersten Unterrichtsstunde. Es war ein weitläufiger Raum, fast eine Halle, mit einer bemalten Decke voller Szenen aus der griechischen Mythologie. Die dunklen Regale waren schlicht und ordentlich, die Bücher nach Bänden sortiert.
Als Apolonia eintrat, wandte er sich mit einem Lächeln um und winkte gleichzeitig seinem Diener, woraufhin dieser die schweren dunkelblauen Vorhänge zuzog. Das gräuliche Tageslicht schwand und Morbus knipste eine Lampe auf einem der Schreibtische an, die einen Kreis um die leer stehende Mitte der Bibliothek schlossen. Dann wartete er, bis der Diener sich verneigt hatte und verschwunden war. Leise schlossen sich die hohen Türflügel. Morbus trat in die Mitte des Raumes, wo kunstvolle Mosaike wie ein riesiges Mandala den Boden bedeckten und ein Marmorauge in ihrem Zentrum präsentierten. Auf dieses Auge presste Morbus eine Hand. Durch den Druck sprang die runde Fläche ein Stück aus dem Boden. Morbus drehte die dicke Marmorscheibe nach rechts. Augenblicklich lief ein Grollen durch den Boden. Plötzlich setzten sich die Fliesen rings um das Mandala in Bewegung. Die schweren Steinplatten erhoben sich und zogen Glasvitrinen ins Licht, in denen jeweils ein schlichtes rotes Lederbuch ruhte.
Morbus richtete sich auf und schob die Hände in die Hosentaschen. „Komm ruhig näher. Sieh sie dir an!“
Apolonia trat an den Tischen vorbei und näherte sich den Vitrinen. Die Bücher sahen alle aus wie Der Junge Gabriel. „Das alles sind …?“
Morbus nickte. „Einunddreißig Blutbücher, alle aus meiner Feder. Sie sind innerhalb der letzten neun Jahre entstanden. – Sie mal hier, das war mein allererstes.“ Er trat an eine Vitrine und seufzte gedankenverloren. „Der Junge Adam. Er war zwölf Jahre alt.“
„Und hat schon zum TBK gehört?“, fragte Apolonia ungläubig.
„O ja, sie fangen früh an. Darum dürfen wir uns vom Alter unserer Feinde auch nicht zu Milde verleiten lassen.“ Er wandte sich wieder dem Buch zu und lächelte leise. „Damals war die ganze Sache noch ein Experiment, ich hatte keine Erfahrung mit dem Herausschreiben von Erinnerungen. Ich entzog dem Jungen ganz wahllos alles, was ich greifen konnte, und am Ende wusste er die banalsten Dinge nicht mehr, zum Beispiel, wie er hieß und was ein Mensch ist.“
„Sie hätten ihm nur die Erinnerung an den TBK nehmen sollen“, sagte Apolonia vorwurfsvoll.
„Wie gesagt, ich war unerfahren. Aber manchmal ist es auch nicht genug, einem Terroristen allein das Wissen um seine Tätigkeit zu nehmen – viele von ihnen haben ein durch und durch böses Wesen und alles muss getilgt werden, bevor man sie guten Gewissens wieder auf die Straße lassen kann.“ Morbus zog einen dünnen Schlüssel aus seiner Westentasche und schloss die Vitrine auf. Dann nahm er das Blutbuch behutsam heraus und strich über den Einband. „Es ist vielleicht nicht das am stilvollsten geschriebene Werk meiner Sammlung. Doch ich denke, das gewisse Durcheinander an Informationen ist genau das Richtige für dich, um damit anzufangen.“
Apolonia stockte, als Morbus ihr das Buch hinhielt. Schließlich zwang sie sich dazu, die Hände auszustrecken und es entgegenzunehmen. Es war schwer und kam ihr plötzlich viel größer vor als in Morbus’ Arm.
„Keine Angst“, sagte er leichthin und ging ihr zu den Schreibtischen voran. Er zog zwei Stühle ins Licht und setzte sich. „Ich passe auf, dass nichts außer Kontrolle gerät.“
Mit einem flauen Angstgefühl ließ Apolonia sich neben ihm nieder. Ihre Finger machten mehrere Versuche, den Deckel zu öffnen, doch immer wieder verließ sie der Mut.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, brachte sie schließlich hervor. Soweit sie sich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass sie sich der gestellten Aufgabe eines Lehrers nicht gewachsen fühlte. Daran musste sie sich erst mal gewöhnen. „Damals in der Lagerhalle bin ich fast ohnmächtig geworden und … Sie wollen bestimmt nicht, dass ich mich in Ihrer Bibliothek übergebe.“ Gegen jede Erwartung begann Morbus bei dieser abschreckenden Drohung zu lachen.
„Ich glaube nicht, dass es dir diesmal ergehen wird wie beim ersten Mal. Jetzt bist du vorbereitet. Und du bist dir deiner Mottengaben bewusst. Nun atme tief durch. Denk immer daran, dass all das, was du gleich lesen wirst, nur deinen Kopf erreicht – obwohl es wahr ist, darf es dich nicht besiegen, verstehst du? Versuche, an dir selbst festzuhalten. Und egal, was passiert, vergiss niemals, wo du dich befindest – hier neben mir in der Bibliothek –, deinen eigenen Namen und dass du eine angehende Dichterin bist. Hältst du dich an diese drei Wahrheiten, kannst du dich gegen den Ansturm stellen, der dich in dem Buch erwartet.“
Apolonia atmete tief durch. Dann straffte sie den Rücken und klappte den Deckel auf. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Morbus sich gespannt zurücklehnte. Mit klammen Fingern strich sie die Seite um. In jugendlich geschwungener Schrift stand geschrieben:
Von Jonathan Morbus:
Das erste Buch.
Der Junge Adam
Apolonia blätterte um. Und da – da schmolz die Welt fort unter der neuen Welt, die aus den Worten auf sie niederstürzte. Wie ein Wasserfall aus leuchtenden Farben spülte der Junge Adam sie fort aus der Gegenwart, fort von sich selbst … Aber Apolonia zwang sich, in diesem Orkan der Gefühle an ihrer Vernunft festzuhalten. Tränen stiegen ihr in die Augen. Könnte sie sich der unglaublichen, unbegreiflichen Schönheit doch ganz und gar ergeben! Könnte sie sich doch einfach vergessen für dieses fremde, vertraute Leben, das auf seine intensivsten Emotionen komprimiert war, wie tausend Sirenenstimmen auf ein einziges Seufzen … Dann fing sie sich. Sie atmete tief. Es ist nur eine Geschichte, sagte sie sich. Nur eine Geschichte … das ganze, ganze Leben war nichts als eine Geschichte. Konzentriert, zwischen schwelgender Liebe und glühendem Schmerz, las sie das Blutbuch weiter.
Apolonia verlor jegliches Zeitgefühl. Erst als Morbus sie kräftig an den Schultern schüttelte, konnte sie sich von den Worten losreißen und erwachte mit einem trockenen Mund und kalten Fingern wie aus einem stundenlangen Tagtraum. Es war zwei Uhr nachts.
„Das reicht für heute“, sagte Morbus, der die ganze Zeit neben ihr gesessen und aufgepasst hatte. Apolonia brachte nur ein Nicken zustande. Als sie sich eine Viertelstunde später in ihr Bett sinken ließ, lag sie noch lange wach und starrte in die Dunkelheit, erfüllt von hundert wirr durcheinanderflatternden Gedanken. Erst nach einer Weile meldete sich eine Stimme zu Wort, die ihr verriet, dass diese Gedanken gar nicht ihre waren, sondern die des Jungen Adam, die noch durch ihr Bewusstsein schwammen wie Fische, die in fremdes Gewässer geworfen worden waren. Dann fiel sie in einen unruhigen Schlaf, nicht wissend, ob sie träumte oder wach war, und kam erst im grauen Licht des Tages wieder zu sich.
Etwas kränklich und zerknittert erschien sie zu ihrer nächsten Unterrichtsstunde. Doch in Apolonias Augen lag ein Funkeln, als die Glasvitrinen aus dem Boden stiegen und Morbus ihr Der Junge Adam überreichte.
„Jonathan?“ Sie wandte sich ihm zu, als sie am Tisch saßen. „Ich habe bis jetzt noch nichts von den Gaben des Jungen Adam gelesen. Wann tauchen die auf?“
Er lächelte kühl. „Seine Gaben sind hier.“ Er hob die dünnen Finger und klimperte damit in der Luft. „Auch wenn ich sehr freigiebig bin, alles teile ich nicht mit meinen Lesern.“
Apolonia zog eine verdrießliche Miene. „Wenn Sie die Gaben hineingeschrieben hätten, könnten wir sie uns doch alle aneignen! Dann hätten alle Dichter Nutzen davon gehabt.“
„Mach dir darüber keine Sorgen. Jeder von uns schreibt seine eigenen Blutbücher und behält seine Gabenfunde für sich. So ist es außerdem sicherer – sollte ein Blutbuch wieder in die Hände eines TBK-Terrorists fallen, könnte dieser womöglich seine alte Gabe zurückgewinnen. Noch sicherer als ein Buch ist ein Gehirn. Leider passt in Bücher einfach mehr rein.“ Er wies auf Der Junge Adam. „Nun, wenn du so weit bist, lass uns beginnen.“
Es war ein dunkler Nachmittag und es hatte aufgehört zu schneien. Still und versunken kamen die Häuser Tigwid vor, als er die Wohnung des Treuen Bunds verließ.
Zhang, Fredo und Loo hatten sich angeboten, ihn zu begleiten, doch er wollte sich lieber alleine auf die Suche nach Apolonia machen. Er hatte sich fest vorgenommen, niemanden in Gefahr zu bringen. Außerdem wollte er zuerst mit Apolonia allein sein, denn sie hatten sich viel zu erzählen.
Er vergrub die Hände in den Taschen seines Jacketts. Wie gut, dass er den Wollpullover von Fredo bekommen hatte, denn es war bitterkalt. In den Straßen roch es nach Tee und Gebäck und Tannennadeln. Die Zeit vor Weihnachten stimmte Tigwid immer ganz wehmütig. Es waren immer diese Tage, in denen er am deutlichsten spürte, wie alleine und heimatlos er doch war. Er begegnete nur wenigen Passanten, und die hatten es eilig, nach Hause zu ihren Lieben zu kommen. Irgendwo in einem Hinterhof erscholl der fröhliche Lärm einer Schneeballschlacht. Ein kleiner Junge rief nach seiner Schwester.
Es tat gut, wieder an der frischen Luft zu sein. Obwohl Tigwid sich noch ein wenig schwach fühlte und mit jeder Bewegung, die er mit seiner Schulter machte, ganz vorsichtig sein musste, war er froh, das Bett und die graue Wohnung verlassen zu haben. In den Jahren nach dem Waisenhaus hatte er sich angewöhnt, praktisch ständig draußen zu sein – in dem gemieteten Zimmerchen in Eck Jargo hatte er es höchstens zum Schlafen ausgehalten. Die Stadt war sein Zuhause. Die Straßen, die Marktplätze, die Brücken und die Gassenlabyrinthe, sie alle begrüßten ihn mit einem vertrauten, wenn auch schläfrigen Gesicht. Als er den Fluss erreichte, ergriff ihn ein Schauder. Die Wellen trugen weiße Schaumkronen. Am steinigen Ufer leckte das Wasser den Schnee auf. Zum Glück war die Stelle, wo er von der Brücke gefallen war, tief genug gewesen.
Der Kanal wurde bald breiter und kahle Ahornbäume und Birken säumten den Fußgängerweg. Rechts blickten stuckverzierte Haufassaden auf Tigwid herab und es roch stärker nach Zimt, Kaminfeuern und Punsch. Auf der anderen Straßenseite stieg ein Vater mit seiner kleinen Tochter aus einem Automobil. Der Chauffeur trug einen großen Stapel bunt verpackter Pakete hinter ihnen ins Haus.
Als die Turmspitze einer Kathedrale bei der Biegung des Flusses sichtbar wurde, kletterte Tigwid zum Ufer hinab und lief ein Stück über die flachen Steine. Große Abflussrohre erschienen vor ihm. Er zwängte sich an ihnen vorbei und sprang unter einem Vorhang herabtröpfelnden Wassers hindurch. Vor ihm war alles dunkel und das Rauschen der Rohre vibrierte im Boden. Tigwid zog eine Streichholzschachtel aus seinem Jackett, doch die Hölzchen waren von seinem Sturz in den Fluss aufgeweicht und brachen Stück um Stück, als er sie anzuzünden versuchte. Schließlich gab er es auf und stieg in die Dunkelheit hinab.
„Apolonia?“, rief er, als er die Leiter erreichte. „Vampa?“ Seine Stimme hallte unheimlich im niedrigen Raum. Er tastete sich um die Wand herum und stolperte über Vampas Bücher. Unbeholfen befühlte er die feuchte Matratze und rief wieder nach den beiden, doch nur das Quieken von Ratten antwortete ihm. Er tastete sich wieder zurück und war insgeheim froh, den Kanalschacht schnell wieder verlassen zu können.
Draußen kam ihm das Tageslicht grell und flimmernd vor. Erst als er einen Blick in den bewölkten Himmel warf, merkte er, dass es bereits dämmerte. Nach kurzem Zögern brach er zum Haus der Spiegelgolds auf. Gut möglich, dass Apolonia heimgekehrt war. In den vergangenen Tagen hatte er sich mit dieser Möglichkeit besonders angefreundet – bestimmt würde Apolonia es vorziehen, ihren Rachezug gegen die Dichter in Wärme und Sicherheit zu planen. Doch als Tigwid beim Haus ihres Onkels ankam, leuchtete kein Licht in ihrem Zimmer. Er wartete eine halbe Stunde auf der Straße, ihr Fenster im Auge. Als die Gaslaterne neben ihm zu knisterndem Leben erwachte, schlich er zum Dienstboteneingang, schob das Schloss per Mottenkraft auf und lief unbemerkt durch die Flure und eine Treppe hinauf. Nach nur einer Verwechslung fand er Apolonias Zimmer, doch es war verlassen. Wenn sie seit jenem Morgen, als sie zu Eck Jargo aufgebrochen waren, nicht mehr hier gewesen war, dann musste alles noch so sein, wie er es zuletzt gesehen hatte. Angestrengt versuchte Tigwid, sich zu erinnern. War das Bett gemacht gewesen? Nein. Aber die Decken konnte auch ein Dienstmädchen geordnet haben. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Bücher und Papiere. Tigwid ging auch in den Ankleideraum, obwohl er letztes Mal nicht darin gewesen war. Der Geruch von Lavendel und frisch gewaschener Wäsche erinnerte ihn mit plötzlicher Heftigkeit an Apolonia. Er knipste die Lampe an und ließ den Blick über die dunklen Gewänder wandern. Automatisch streckte er die Hand nach einem Kleid aus, das sich von den restlichen abhob wie ein Farbklecks: Es war jenes schweinchenrosa Kleid, das Apolonia bei der Feier getragen hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Tigwid befühlte die Ärmelspitzen und schnupperte verstohlen daran. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Entweder war Apolonia gezwungen worden, das Ding zu tragen, oder sie hatte an vorübergehender Farbenblindheit gelitten. Seufzend ließ Tigwid den Stoff los und machte das Licht aus. In dem Moment öffnete sich die Zimmertür. Ein Dienstmädchen kam herein und schichtete neues Feuerholz vor dem Kamin auf. Während das Mädchen ein leises Lied summte, schlich Tigwid aus dem Zimmer, lief Flure und Treppe hinab und verlangsamte seine Schritte erst, als er um die nächste Straßenecke gebogen war.
Inzwischen hatte die Nacht Einzug gehalten und warf ihren blauen Schleier über ihn. Mit der Dunkelheit holten ihn immer seine diebischen Verfolgungsängste ein, doch die schlummernden Gassen verhießen auch Geborgenheit. Sein Atem leuchtete, als er durch den gleißenden Schein einer Straßenlaterne tauchte. Die leisen, raschen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster klangen wie Liebkosungen in der satten Stille. Er musste lange laufen und die halbe Stunde wurde zu einer halben Ewigkeit, der Weg vom Haus der Spiegelgolds bis ins ärmere Schänkenviertel eine Wanderung durch die schattigen Tiefen der Zeit. Lichter, die aus Häusern blinzelten, verwandelten sich in die verglühenden Sterne einer Galaxie. Als Tigwid die Straßen seines Viertels erreichte, fühlte er sich, als wären Jahre vergangen – seit dem Haus der Spiegelgolds – seit gestern – seit seinem letzten Besuch in den Schänken vor mindestens drei Wochen. Er hatte seitdem Apolonia kennengelernt, den Untergang von Eck Jargo miterlebt, von seinem gestohlenen Glück erfahren, Bekanntschaft mit diversen Polizisten und Zellen gemacht, Mone Flamms Büro verraten, eine Kugel abbekommen und Collonta und den TBK getroffen. Ganz zu schweigen davon, dass ihm das wahrscheinlich größte Wunder der Welt, der Grüne Ring, vorgestellt worden war. Ungläubig schüttelte Tigwid den Kopf, während er an den beleuchteten Tavernen und schemenhaften Gestalten vorbeiging. Vielleicht kam ihm sein Leben wie zehn Leben vor, weil er durch den Erinnerungsraub vergessen hatte, dass die Ereignisse sich tatsächlich immer so überstürzten. Kein Wunder, dass manche Leute da verrückt wurden!
Tigwid bog links in ein schmales Gässchen, das von einer einzigen Laterne erhellt wurde, die über dem Eingang einer schmuddeligen Taverne namens Zum Königsfuß hing. Früher war er öfter hier gewesen und hatte die Abende mit Pokerrunden und Banditenklatsch verbracht, wenn er keine Lust auf Eck Jargo gehabt hatte oder wegen des einen oder anderen Besuchers sicherheitshalber auf Distanz blieb. Als er die schwere Tür aufschob und in die dämmrige Taverne trat, empfing ihn ein vertrautes Aroma von Bier, Schweiß und Schießpulver. Über der Theke hatte der Besitzer – ein fetter, kleiner Mann mit einem gewitzten Gesicht – Tannen- und Mistelzweige aufgehängt, was dem typischen Geruch eine erfrischende Note verlieh.
In den Schatten der Tür blieb Tigwid einen Moment stehen, um die Gäste zu betrachten. Ein betrunkener, vor sich hin murmelnder Mann an der Theke, eine Gruppe von Jungen in seinem Alter, die rauchten und sich mit erfundenen Verbrechen brüsteten, ein heimliches Liebespaar, das sich rasche Worte zuflüsterte, vier Pokerspieler und eine schnurrbärtige Frau, die, von den Umstehenden angefeuert, gegen jeden Freiwilligen im Armdrücken antrat. Tigwid kannte ein paar der Jungs, die beisammen saßen, und nickte ihnen zu, als er zur Theke ging. Sie boten ihm einen Stuhl an, doch Tigwid hatte keine Zeit für eine Märchenstunde – er wusste, dass die Jungen Amateure waren, die mehr Spucke als Ahnung hatten und ihm bei seiner Suche nicht weiterhelfen konnten. Die Augen nach den richtigen Leuten offen haltend, durchquerte er den Raum. Plötzlich entdeckte er eine Frau mit blonden Korkenzieherlocken an der Theke. Das war Dotti! Gerade leerte sie ein Schnapsglas und stellte es zu einem Grüppchen weiterer Gläser zu ihrer Linken dazu. Tigwid beschloss, sie zu grüßen. Er öffnete den Mund, doch das „Hallo“ blieb ihm im Hals stecken: Eine Hand packte ihn an der verletzten Schulter und drehte ihn herum. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte er auf – und erstarrte.
Vor ihm stand Mone Flamm. Schütteres rotes Haar, breiter Schädel, dicke Brille und die kalten blauen Augen – alles war so, wie Tigwid ihn zuletzt in seinen Albträumen gesehen hatte.
„Jorel“, sagte Mone Flamm mit seiner dünnen, schrecklichen Stimme und legte den Kopf schief. „Jorel.“
Tigwid versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr der Griff an seiner Schulter wehtat. Er biss die Zähne aufeinander. Sein alter Boss lehnte sich so weit zu ihm vor, dass ihre Nasen sich fast berührten. „Gut, dass es dich noch gibt.“ Erst jetzt roch er den Alkohol in seinem Atem. Der Blick hinter den Brillengläsern flackerte – er war betrunken.
„Hallo, Boss“, brachte Tigwid endlich hervor. Er schielte nach allen Seiten – da, hinter der bärtigen Armdrückerin und ihrem Publikum saßen Flamms Schläger an einem Tisch und beobachteten ihren Herrn wie treue Hunde. Doch dass Flamm sie noch nicht hatte holen lassen, stimmte Tigwid hoffnungsvoll – auch die Tatsache, dass er noch keine Kugeln im Körper hatte, konnte nur Gutes verheißen. Sicherheitshalber spähte er zu Flamms linker Hand hinab, ob er womöglich ein Messer oder eine Pistole hielt. Doch Flamm erledigte seine Schmutzarbeit nie selbst und nie in der Öffentlichkeit.
„Du hast davon gehört?“, raunte er Tigwid ins Ohr. Tigwid zwang sich zu einem Nicken. Flamm legte ihm beide Hände auf die Wangen. „Ein Verräter hat bei unseren Freunden in der blauen Uniform gesungen …“ Heiße Schauder jagten Tigwid wie Stromschläge durch den Körper. „Eine Verschwörung! Erst Eck Jargo und jetzt ich – eine verdammte Horde von Verrätern!“ Er kniff Tigwid fest in die Wangen und zerrte an ihm, doch in Flamms Augen stiegen verzweifelte Tränen. „Macht nichts“, schniefte er schließlich. „Wir bauen alles wieder auf. Ich habe Arbeit für dich, Jorel. Keiner der Jungs ist so geschickt wie du, das weißt du. Hör dich ein bisschen um, sammle alle Informationen, die du kriegen kannst. Und wenn du dich ins Polizeipräsidium schleichen musst, verdammt, finde heraus, wer die Verräter sind! Keine Angst, wir haben immer noch Freunde im Präsidium. Du stehst noch immer unter meinem Schutz, hast du verstanden? Mir konnte die Polizei auch nichts anhängen, obwohl sie – obwohl sie unsere Unterlagen in Kartons und Kisten aus dem Büro getragen haben! Ich – ich brauche was zu trinken. Setz dich zu uns an den Tisch, Jorel.“
„Äh, ich wollte eigentlich gerade – eine Bekannte von mir, das ist Dotti!“ Er machte sich von Flamms Umarmung los und trat zu Dotti, die sich beim Klang ihres Namens mit einem leisen Rülpser umdrehte.
„Tigwid?“, hauchte sie. „Oh, du hast die Schweinehunde abgehängt! Ich wusste, dass du dich nicht schnappen lässt!“ Sie wollte nach seinem Arm greifen und verfehlte ihn. Tigwid nahm ihre Hand und legte sie rasch in Mone Flamms. „Das hier ist Mone Flamm, mein Boss. Darf ich vorstellen: Dotti.“ Sie sahen sich eine Weile verwundert an, zwei Spiegelbilder der Trunkenheit.
Tigwid fischte einen Geldschein aus seinem Schuh, den er aus dem Haus der Spiegelgolds hatte mitgehen lassen – sozusagen eine kleine Anzahlung für seine Bemühungen um Apolonia –, und winkte den Wirt heran. „Boss, Sie wollten was trinken? Dotti, darf ich Ihnen auch etwas anbieten?“
Dotti klopfte auf den Tresen, was so viel wie Ja bedeutete. „Milch mit einem Schuss Schnaps. Oder zwei.“
Tigwid bestellte drei Feuermilchbecher und zahlte. Als er den beiden ein Glas in die Hand gedrückt hatte, erklärte er Mone Flamm: „Dotti hatte sozusagen einen hohen Posten in Eck Jargo inne. Sie hat alles verloren, Freunde wie Feinde, nur der Kopf ist ihr geblieben.“
„Genau wie mir!“ Flamm prostete ihr zu. „Hände und Füße werde ich ihnen abhacken, diesen Ratten, die uns verraten haben!“
Tigwid schluckte schwer. „Nun, ja … Dotti kennt die wichtigsten Leute aus Eck Jargo. Bestimmt kann sie uns ein paar Hinweise geben, wer sich verdächtig verhalten hat.“ Mit einem Hilfe suchenden Blick drehte er sich zu Dotti um. „Du weißt doch noch, wer Vampa ist? Hast du ihn kürzlich gesehen? Vielleicht mit einem Mädchen?“
Dotti leerte ihr Glas in vier großen Schlucken. „Hab ihn zuletzt mit dir gesehen“, erwiderte sie fahrig, und Tigwid erkannte, dass sie zu tief in ihrem eigenen Elend versunken war, um ihm ernsthaft zu helfen.
„Wer?“, nuschelte Flamm.
„Vampa, Boxer in Eck Jargo früher“, erklärte Dotti.
„Hatte auch ’n paar Boxer unter Vertrag! Der Champion is eingelocht worden, wurde wegen Totschlag gesucht …“
„Ach, davon kann ich ein Lied singen.“
„Meine Wertpapiere sind konfisziert … meine Freunde bei der Polizei … ich konnte grade meinen eignen Hintern retten, meinen Partnern wird allen was angehängt, und ich soll ohne Wäscherei drei Dutzend Westen weißwaschen, während die Blauröcke mir noch am Hosenbein hängen wie räudige Hunde!“
„Ganz genau!“, prostete Dotti ihm zu. „Mich ham die Blauröcke versucht zu erpressen, Spitzelarbeit und so, aber denen hab ich einen Strich durch die Rechnung gemacht, jawohl! – Nich wahr, Tigwid, ich hab dich gewarnt damals!“
„Ähm, Jorel, ich heiß Jorel“, verbesserte Tigwid sie nervös und nickte. Zum Glück war Flamm zu betrunken, um hingehört zu haben. Er machte einen letzten Versuch und fasste Dotti am Arm. „Haben Sie seit unserem letzten Treffen wirklich gar nichts mehr von Vampa gehört? Denken Sie nach, bitte, es ist wichtig!“
„Genau!“, stimmte Flamm ihm zu und leckte sich Milch- und Schnapsreste von der Oberlippe. „Jorel will nämlich ein paar Dinge für mich ermitteln.“
„Über Vampa?“, fragte Dotti.
„Wer ist Vampa?“ Flamms Wange zuckte gefährlich.
„Vampa könnte mehr wissen, hat viele Kontakte“, log Tigwid schnell.
„Hab ihn wirklich nicht mehr gesehen“, meinte Dotti und eine Spur Misstrauen trat in ihre Augen, als könne Vampa im nächsten Augenblick hinter Tigwid hervorspringen und ihr wer weiß was antun.
„Sie müssen meine Leute kennen lernen“, fuhr Flamm an Dotti gewandt fort. „Ich denke, wir sind Geschäftsleute in derselben Branche, sitzen sozusagen im gleichen Boot. Zusammen ist man stärker …“
Dottis Blick leuchtete trotz des geleerten Feuermilchbechers auf. „Nach dem großen Geschäft ist vor dem großen Geschäft war früher mein Motto. Ich bin keine Frau, die so leicht aufgibt, wissen Sie.“
Flamm und Dotti schielten sich lange in die glasigen Augen. Dann lehnte sich Flamm zu ihr vor. „Wenn Sie einverstanden sind, Madame, können wir uns … eingehender unterhalten, wo wir vor unerwünschten Zuhörern sicher sind. Dort hinten habe ich einen bewachten Tisch.“
Dotti nickte bezaubert und reichte Flamm die Hand. „Jetzt, wo sowieso alles vorbei ist … ich verdamm die blöde Sicherheit! Wissen Sie was: Eck Jargo stand unter meiner Führung.“
„Nein …!“
Noch ehe Dotti und Flamm ein weiteres geschäftliches Geheimnis ausgetauscht hatten und noch lange bevor sie ihre ersten gemeinsamen Pläne schmiedeten, hatte Tigwid den Königsfuß verlassen und lief raschen Schrittes die Gasse hinunter. Immer wieder drehte er sich um, doch Flamm schickte seine Totschläger nicht hinter ihm her. Sein Herz flatterte ihm in der Brust wie Papier im Wind. Wenn Flamm wüsste, wer die Polizei in sein Büro geführt hatte … und überdies auch noch an Eck Jargos Untergang Schuld trug! Er schloss die Augen.
Nach ein paar Atemzügen an der kalten Luft verließ Tigwid die Angst. Nun dachte er an Apolonia und Vampa. Sie waren also nicht bei den Spiegelgolds gewesen, sie waren nicht in Vampas Versteck, sie waren nicht im Untergrund. Blieb nur noch die Polizei oder die Dichter … Verdammt, dachte er. Er musste unbedingt herausfinden, wo dieser Professor Ferol wohnte. Nur war zweifelhaft, ob die Banditen, die er befragen konnte, etwas über Kunstprofessoren wussten.
Er bog in eine Straße, in der sich eine Schänke an die andere reihte. Gedämpfter Lärm und Gläserklirren waren die Melodie der Nacht. Vor einer der Schänken lehnte ein junger Mann mit einer Pfeife im Mund und einer Zeitung in der Hand. Tigwid erkannte den Bekannten aus Eck Jargo wieder, den alle wegen seiner angeblich vornehmen Herkunft und seiner intellektuellen Allüren den Grafen nannten. Tigwid setzte ein Lächeln auf. Wenn überhaupt ein Ganove über die Kunstprofessoren der Stadt Bescheid wusste, dann der Graf.
„He, wie geht’s?“
Der junge Mann blickte von seiner Zeitung auf und grinste. „Jorel! Noch auf freiem Fuß, gut, gut. Mich haben sie auch nicht erwischt – als Eck Jargo passiert ist, war ich Gast bei Freunden, die eine Villa besitzen.“ Das sagte er mit seiner typischen Überheblichkeit.
„Was machst du so?“, erkundigte Tigwid sich, um seine Frage nach Professor Ferol in ein lockeres Gespräch einflechten zu können.
„Ich spiel heute Abend Kindermädchen.“
Tigwid nickte. Kindermädchen spielen bedeutete, dass ein Ganove vor einer Schänke auf Betrunkene wartete, um sie auszurauben. Das kostete wenig Mühe, nur die Zeit brauchte man, und im Winter hatten nur die wenigsten Banditen Lust, lange in der Kälte herumzustehen.
„Schon Beute gemacht?“, fragte Tigwid.
„Nee, noch zu früh … ich lese gerade diesen Artikel, hochinteressant.“ Der Graf wies gerne darauf hin, dass er lesen konnte und Zeitungen nicht nur als Unterlage zum Schlafen benutzte. Nun pfiff er leise und blies ein paar Rauchringe. „Es gibt eine Terroristengruppe, hast du das gewusst? Die stecken hinter den Kindermorden, stell dir das vor. Das ist eine Riesensache, aber die Bande ist so geheim, dass nicht mal die größten Verbrecher sie kennen. Sogar ich habe jetzt zum ersten Mal vom TBK gehört. Die wollten vor acht Jahren die Regierung stürzen. TBK steht übrigens für Treuer Bund der Kräfte.“
Tigwid wurde aschfahl. Mehrere Sekunden wollte seine Zunge sich nicht bewegen. Dann brachte er hervor: „Wer hat behauptet, dass es die gibt?“
„So ’ne Kleine, die von ihnen entführt wurde und sich befreien konnte. Spiegelgold, glaube ich.“
Tigwid zog die Zeitung mit klammen Fingern an sich. Die Schlagzeile lautete: ENTTARNT. Als Tigwid das Wort entziffert hatte, benetzte bereits kalter Schweiß seinen Nacken. Dann packte er den Bandit am Arm und drückte ihm zitternd die Zeitung an die Brust. „Lies – mir das – bitte vor“, schnaufte er. „Alles. Den ganzen Artikel. Jetzt.“