Die Tür wurde aufgestoßen und ein blutüberströmter Fredo stürzte in die Wohnung. „Loo! Wo ist sie – wo ist Loo?“
Tigwid, Bonni, Zhang, Emil und Mart kamen ihm entgegen. Bei Fredos Anblick schnappte Tigwid nach Luft: Quer über seinen Nasenrücken ging ein Riss und Blut tropfte ihm auf die schmutzigen Kleider. „Wo is sie“, keuchte er und packte einen nach dem anderen an den Schultern.
„Sie war doch mit dir unterwegs!“, erwiderte Zhang. „Ich dachte, ihr wollt die Spiegelgold suchen!“
„Sie ist nicht hier?“, schrie Fredo und nun benetzten auch Tränen sein Gesicht. „Aber – hier ist der Treffpunkt, falls man sich verliert, hier ist es abgemacht, hier –“
„Beruhige dich! Erzähl uns, was passiert ist.“ Bonni schloss die Tür und zog Fredo in die Küche, wo sie versuchte, ihm das Blut abzuwischen und ein Taschentuch ins Nasenloch zu stecken. Mit einem Schmerzenslaut wandte Fredo sich ab. Dann unterdrückte er sein Schluchzen und begann zu erzählen:
„Wir waren auf dem Ledermarkt am Domplatz, als wir zwei Dichter gesehen haben, der kleine, dunkle Jacobar und sein ewiger Begleiter, dieser milchgesichtige Manthan. Wir beschlossen, ihnen zu folgen und sie, sollten sie alleine bleiben, zu überfallen, um Apolonias Aufenthaltsort aus ihnen herauszupressen. Die beiden sind immer schneller gelaufen, und plötzlich waren sie in der Menge verschwunden. Und dann – auf einmal waren sie alle um uns herum, die Feiglinge. Einer hat mir seinen Gehstock auf die Nase geschlagen, ich bin runter auf die Knie. Als ich hochgeguckt habe, haben sie Loo weggezerrt und – und ich hinterher und dann, Loo hat sich befreit und ist in eine Gasse geflohen, ich in die andere Richtung, um sie abzulenken. Später bin ich zurückgerannt und hab nach ihnen gesucht, aber von den Dichtern keine Spur. Und Loo … ich dachte, sie wäre hierher gekommen.“
Eine Stille folgte Fredos Worten, die alle zu ersticken schien. Schließlich schluckte Mart und legte behutsam eine Hand auf Fredos Schulter. „Ich sage, wir warten eine Stunde auf Loo. Wenn sie nicht kommt … müssen wir das Schlimmste annehmen.“
Bonni schien noch blasser als sonst. „Ich packe die notwendigen Sachen zusammen. Zhang, Emil – ihr helft mir und vernichtet alles, was nicht mitgenommen werden kann.“
„Wieso, was habt ihr vor?“, fragte Tigwid.
„Wenn Loo …“ Bonni warf Fredo einen aufgewühlten Blick zu. „Wenn sie nicht kommt, ist sie bei den Dichtern. Sie werden alle Informationen aus ihr herausschreiben, die sie brauchen, um uns zu finden.“ Sie wandte sich an Mart und sagte: „Nimm den Grünen Ring und gib Erasmus und den anderen Bescheid. Tigwid – pack auch du deine Sachen zusammen.“
„Ich habe nichts außer dem, was ich trage.“
„Dann bleib bei Fredo“, murmelte Bonni und lief mit Emil und Zhang aus der Küche.
Schweigend stand Tigwid da und beobachtete Fredo. Schließlich räusperte er sich, um seine Stimme zu finden, und sagte: „Ich glaube, deine Nase ist gebrochen. Darf ich?“ Er nahm Bonnis Taschentuch vom Tisch und stoppte damit den Blutfluss. „Leg den Kopf zurück.“
Fredo nahm ihm das Taschentuch ab und wischte sich selbst über Mund und Kinn. Dann starrte er dumpf vor sich hin. Und plötzlich brach er erneut in Tränen aus und weinte still.
„Vielleicht kommt sie noch!“, rief Tigwid. „Ach, ich – ich wette, sie kommt gleich hier zur Tür herein und alles ist in Ordnung!“
„Ich hab ihr nicht helfen können“, schluchzte Fredo ins Taschentuch. „Jetzt ist sie verloren. O Gott, Loo!“
Tigwid hatte sich selten so hilflos gefühlt. Er setzte sich auf den Tisch und tröstete Fredo mit stummer Anteilnahme. Endlich kamen Bonni, Emil und Zhang zurück und spähten aus dem Küchenfenster. Niemand war in Sicht.
Sie warteten eine geschlagene halbe Stunde. Mittlerweile hatte Fredo sich wieder halbwegs unter Kontrolle oder seine schmerzende Nase hielt ihn vom Schluchzen ab. Mal saß er teilnahmslos da, dann stand er auf und ging unruhig zwischen Tisch und Fenster hin und her. „Los, wir hauen ab“, murmelte er schließlich und packte Bonnis und Zhangs Bündel.
„Wir können noch ein bisschen warten“, warf Emil ein. Doch Fredo war bereits auf dem Weg ins Badezimmer. „Jede Minute zählt jetzt. Ich muss sofort zu Erasmus und Loo suchen.“
Vor dem Grünen Ring angekommen, wischte Fredo über das Bild hinweg und die gemalte Tür sprang auf. Nacheinander stiegen sie ins raumlose Dunkel.
„Ich übernehme“, sagte Fredo und schloss die Augen. Einen Moment später flimmerte der Grüne Ring vor ihnen auf und sie traten in Collontas Arbeitszimmer. Rings um den Tisch mit den seltsamen Gerätschaften standen Collonta, Mart, Kairo, Fuchspfennig und Laus, die in viele bunte Schals gehüllte Geisterherrin.
„O Fredo!“ Collonta kam hastig um den Tisch herum und betrachtete sein zerschundenes Gesicht. „Mart hat gerade alles erzählt.“
„Wir haben die Wohnung geräumt“, sagte Bonni und wies auf die drei Bündel, die die wenigen Kostbarkeiten des Treuen Bundes enthielten.
„Loo ist nicht gekommen“, fügte Fredo hinzu und Tigwid bemerkte, wie seine Fäuste sich ballten. „Wir müssen sie finden, und zwar jetzt sofort. Vielleicht … vielleicht kommen wir nicht zu spät …“
„Du solltest nirgendwo hingehen, sondern dich ausruhen“, riet Collonta.
„Auf keinen Fall.“ Er schüttelte entschieden den Kopf. Collonta musterte ihn eine Weile, dann klopfte er ihm auf die Schulter und nickte. „Nun gut. Dann ist das unser Plan: Fredo, Rupert, Laus und ich machen uns auf die Suche nach Loo. Zhang, komm du auch mit, deine Gabe könnte von Nutzen sein. Mart, du führst die anderen in unser Versteck im Untergrund. Und nun pass gut auf, Tigwid, denn du hast das noch nie gemacht.“ Collonta trat an die Bücherregale und zog an einem verborgenen Griff. Das Regal schwang auf und offenbarte einen niedrigen Geheimgang. „Dies ist der einzige reale Weg hinein und hinaus. Benutze ihn, doch du darfst dich kein einziges Mal umdrehen. Vergiss das nicht, Tigwid! Wenn du dich umdrehst, wirst du dich an die Tür erinnern und die Dichter können dir diese Erinnerung stehlen!“
Tigwid nickte. „Versprochen.“
„Gut. Dann wollen wir keine Zeit mehr verlieren. Wir treffen uns in ein paar Stunden wieder.“
Mart wies die anderen an, ihm durch das Regal zu folgen, während Collonta den Grünen Ring herbeirief.
Keine Worte konnten beschreiben, was Apolonia beim Verfassen ihres ersten Buches empfand. Inzwischen war sie Herr des wilden Meeres geworden und konnte die Erinnerungen aufrufen, nach denen ihr beliebte, als stünde sie in einer Bibliothek voller sortierter Karteikästen. Es waren Tausende Karteikästen. Überquellend vor Bildern, Geräuschen, Gerüchen und vor allem Gefühlen.
Und was für Gefühle Apolonia erlebte! Innerhalb von Minuten empfand sie die ganze Freude, die ganze Angst, Traurigkeit, Überraschung und das Glück eines Lebens. Hätte ihre Hand nicht unermüdlich geschrieben und all das Erlebte aufs Papier entlassen, wäre sie wirklich am Schwall der Erinnerungen erstickt und verrückt geworden. Nur als sie die Gabe des Mädchens fand, ein leuchtendes, kleines Etwas, das die Terroristin dicht bei ihrem Namen aufbewahrte, hielt Apolonia im Schreiben inne und verwahrte die Gabe in ihrem eigenen Gedächtnis. Nun wusste sie, wie die Kräfte einer Geisterherrin funktionierten.
Es kostete sie große Selbstbeherrschung, das Mädchen nicht zu lieben wie sich selbst. Immer wieder musste sie sich daran erinnern, dass sie Apolonia hieß; und als sie tiefer in die Persönlichkeit der Terroristin drang und ihre Zuneigung wuchs, sagte sie sich nach jedem fünften Satz: „Ich hasse Loreley und ich liebe nur mich, Apolonia.“ So schaffte sie es, ihr Gewissen zu überwinden, das von dem wortlosen Verständnis zwischen ihr und Loo genarrt wurde und ihr befehlen wollte, die junge Frau zu verschonen. Aber natürlich wusste Apolonia, dass sie jeden lieben würde, wenn sie seine Gefühle und Gedanken kannte – davon durfte sie sich nicht zu falschem Mitleid verleiten lassen.
Irgendwann fuhr ein stechender Schmerz durch ihr Handgelenk. Erschrocken fuhr sie auf und wandte den Blick von den Augen der Terroristin: Ihre Hand war völlig erschöpft vom langen Schreiben. Mit zittrigen Fingern durchblätterte sie die beschrifteten Seiten. Es waren mehr als dreißig.
Morbus stand hinter ihr und berührte sie am Arm. „Wie fühlst du dich?“
„Ich zittere. Wie lange habe ich geschrieben?“
Morbus zog seine Taschenuhr hervor. „Fast drei Stunden. Du bist ausgesprochen schnell, Apolonia. Ich bin beeindruckt. Aber lass dir ab jetzt ruhig Zeit. Wir werden das Mädchen noch Wochen hier behalten können.“
„Nein, ich schreibe nicht weiter“, sagte Apolonia und schloss das Buch. Dann erhob sie sich und betrachtete die Terroristin, die nahe der Ohnmacht schien und die Augen verdreht hatte. Ein Ausdruck von ängstlicher Besorgnis huschte über Morbus’ Züge.
„Ich habe gesehen, wo sie lebt. Sie teilt sich eine Wohnung mit weiteren TBK-Mitgliedern und ich kenne jetzt den Weg. Wenn wir sofort losfahren und die Polizei alarmieren, können wir sie alle festnehmen lassen.“
Ein Lächeln breitete sich auf Morbus’ Gesicht aus. „Du … übertriffst meine Erwartungen immer wieder.“
„Also fahren wir sofort los?“, fragte van Ulir. „Kastor und ich sind mit Automobilen hier – wenn wir die nehmen, sind wir in einer halben Stunde in der Stadt.“
„Hervorragend“, sagte Morbus. „Apolonia, kennst du den Namen der Straße, in der die Wohnung liegt?“
Sie blätterte durch das Buch. „Hier. Die Gasse hat keinen Namen, doch es ist die erste Gasse links, wenn man die Luisenstraße hochfährt. Die Wohnung liegt in einem verlassenen Haus am Ende der Straße, im dritten Stock.“
„Ich rufe bei der Polizei an und gebe die Informationen durch“, bot sich Manthan an und eilte aus dem Raum.
„Was passiert mit der Gefangenen?“, fragte Apolonia, als Noor und Jacobar sich daran machten, die junge Frau vom Stuhl loszubinden. Sie hatte endgültig das Bewusstsein verloren.
„Wir setzen sie irgendwo aus. Bist du sicher, dass du ihre Gabe ganz herausgeschrieben hast?“, hakte Morbus nach. Apolonia nickte. „Sehr gut. Nun, dann bringe ich das Buch in die Bibliothek. Später werde ich es mir einmal ansehen.“
Er nahm das Buch und Apolonia am Arm; dann verließen sie den Raum eiligen Schrittes, gefolgt von den Dichtern, die die Terroristin trugen.
Die Fahrt von Caer Therin in die Stadt dauerte nur eine knappe halbe Stunde, doch Apolonia plagten vor Nervosität Magenschmerzen. Die Polizei musste die Wohnung in diesem Augenblick stürmen, und wenn Tigwid unter den Terroristen war, würde er wahrscheinlich so manches über sie preisgeben. Sie musste so schnell wie möglich dort sein und ihn irgendwie zum Schweigen bringen …
Endlich angekommen, parkten van Ulir und Kastor ihre Wagen zwei Straßen entfernt und sie liefen das letzte Stück zur geheimen Wohnung. Die Polizei war bereits da, und als Apolonia und die Dichter sich als die Informanten zu erkennen gaben, ließen sie sie in die Wohnung. Allerdings fehlte vom TBK jede Spur.
„Niemand hier“, sagte der verantwortliche Kommissar. „Eine leer stehende Wohnung wie alle anderen in diesem Haus. Wir konnten zwar feststellen, dass im Ofen Feuer gemacht wurde und jemand in den Betten geschlafen hat, aber das können auch Bettler oder Straßenkinder gewesen sein. Deshalb würde ich Sie gerne fragen, wie Sie zu der Annahme kommen, dass das hier ein Versteck des TBK ist.“
Obwohl der Kommissar Morbus angesprochen hatte, antwortete ihm Apolonia: „Wir haben vor zwei Stunden einen Anruf vom Treuen Bund erhalten. Sie sagten uns, wenn ich nicht zu einem sofortigen Treffen mit ihnen in diese Wohnung käme, würden sie eines ihrer Entführungsopfer, eine junge Frau namens Loreley, so lange quälen, bis sie in einen Zustand geistiger Verwirrung verfalle. Wenn sie erlauben, würde ich mich gerne hier umsehen.“
Der Kommissar starrte sie verblüfft an, gab ihr aber wortlos den Weg frei. Apolonia durchquerte einen schmalen Korridor und mehrere Räume. Löcher klafften hier und da im Fußboden, in den Wänden und in der Decke; lose Bretter und Ziegelsteine lagen in den Ecken und Zeitungen klemmten zum Isolieren in den Ritzen der Fenster. Neben einem Bett lag schmutziges Verbandszeug. In der Küche standen mehrere Polizisten beieinander und durchsuchten die Schränke. Apolonia ging weiter, bis sie ein Badezimmer entdeckte. Eine Badewanne, der ein Fuß fehlte, und ein großer Spiegel waren die einzigen Gegenstände im Raum. Apolonia trat vor den Spiegel und knipste einen Lichtschalter an – in der Wanne surrte ein Büschel Glühbirnen auf. Wie geisterhaft sie im Licht aussah! Unwillkürlich legte sie ihre Hand auf die kühle Spiegelung. War das wirklich sie? Die eisigen Augen, der verhärtete Mund kamen ihr nur vage bekannt vor, als hätte sie das Mädchen im Spiegel einmal flüchtig auf der Straße gesehen.
Im gleichen Spiegel hatten sich noch vor wenigen Stunden ihre Feinde gesehen. Apolonia glaubte ihre Gesichter hinter ihrem zu sehen, höhnisch und boshaft wie die der beiden gefassten Terroristen aus der Zeitung. Sie ballte die Fäuste. Der TBK hatte gewusst, dass die Polizei herkommen würde. Und sie hatten lediglich ihren Dreck zurückgelassen, um Apolonia zum Gespött der Blauröcke zu machen!
Sie drehte sich um und versetzte der Mauer gegenüber einen Tritt. Dann erst bemerkte sie die grüne Tür, die auf die nackten Ziegel gemalt war. Verwirrt blickte sie in den Spiegel zurück – von der Tür war nichts zu sehen. Wie konnte das sein? Sie rieb sich die Augen, doch es war keine Täuschung. Das hieß – natürlich war es eine Täuschung, ein boshafter kleiner Trick des Treuen Bundes. Ein Schauder jagte ihr den Rücken hinab, als sie die Absicht dieser List erkannte ... Der Bund wollte der Polizei einen Hinweis geben – sie wollten das Geheimnis der Motten mit der Zaubertür verraten.
Aus der Küche drangen die Stimmen der Blauröcke zu ihr. Besteck klirrte, als sie die Schubladen ausleerten. Panisch versuchte Apolonia, den Wasserhahn der Wanne aufzudrehen, doch es kamen nur ein paar braune Tropfen heraus. Also zog sie ihren Mantel aus und begann damit das falsche Bild abzuwischen. Die Tür war mit bunter Kreide gemalt, doch kein Stäubchen löste sich von den Ziegeln. Schließlich gab Apolonia auf, packte eines der Rohre, die herumlagen, und zertrümmerte den Spiegel. Der Lärm lockte die Polizisten an. Als sie Apolonia zwischen leuchtenden Scherben stehen sahen, ein Rohr in der einen und ihren zusammengeknüllten Mantel in der anderen Hand, schien die gemalte Tür niemanden besonders zu interessieren.
„Ich habe dahinter einen Durchgang vermutet“, erklärte Apolonia und ließ das Rohr fallen. Inzwischen war sie ein Experte darin, Polizisten anzulügen.
Tigwid wurde bald klar, dass sie sich nur an einem Ort befinden konnten: dem berüchtigten Untergrund, den er zum ersten Mal mit Vampa bei ihrer Flucht aus Eck Jargo betreten hatte. Mart führte sie durch endlos lange Tunnel, durch die sie geduckt laufen mussten und die von schummrigen Lampen oder Fackeln oder manchmal gar nicht beleuchtet waren. Dann stiegen sie zwei Feuertreppen hinauf, liefen durch einen feuchten Kanal und erreichten steinerne Arkaden, die bestimmt zehn Meter hoch waren und an versunkene Paläste erinnerten. Tigwid stellte sich vor, wie die Wächter dieser machtvollen Welt ihr Geheimnis schützten. Es musste mehr Menschen das Leben kosten als die Geheimhaltung von Eck Jargo – schließlich schien dieser Ort nicht so, als könnte sich ein wohlhabender, abenteuerlustiger Familienvater mit gewissen Kontakten hier einen kurzweiligen Besuch erkaufen wie einst in Dottis Reich. Der Untergrund war keine vorgegaukelte Halunkenwelt, kein Gruselkabinett mit Faustkämpfen und Tänzerinnen – wer hierher kam, suchte keine Unterhaltung, sondern ein wirkliches Versteck, ein Grab für Lebende.
Hin und wieder machte Tigwid Gestalten im Halbdunkel aus, doch sie zogen sich zurück, sobald sie sie bemerkten. Hier legte niemand Wert auf Gesellschaft. Schließlich erreichten sie ein niedriges Zimmerchen mit Erdwänden, das nur durch ein Kanalloch und eine Leiter zu erreichen war. Bonni und Emil zündeten mehrere Öllampen an, sodass der Raum sich erhellte. Es gab mehrere Schlaflager, eine offene Feuerstelle mit einem Topf darüber und sogar einen Wasserhahn. Notfalls konnten sie sich hier für unbestimmte Zeit verborgen halten, doch Tigwid hoffte inständig, dass es nicht so weit kam.
Auf eine Wand war der Grüne Ring gemalt, so wie im Badezimmer der Wohnung. Nachdem Tigwid Bonni, Emil und Mart beim Auspacken ihrer Habseligkeiten geholfen hatte, stellte er sich davor und musterte die runde Tür. „Wie öffnet man sie eigentlich?“
„Du musst dir vorstellen, was dahinter ist“, antwortete Emil scheu.
„Du weißt doch, wie es mit Wundern ist“, sagte Bonni und lächelte das erste Mal, seit Fredo blutend in die Wohnung gestürmt war. „Man muss an sie glauben, damit sie wahr werden. Aber benutze den Grünen Ring nicht jetzt. Wir erwarten die anderen.“
Mart hatte mehrere Konservendosen mitgebracht und sie machten sich Linseneintopf. Als sie fertig gegessen hatten, redeten sie über den Vorfall, sprachen ihre Befürchtungen aus und machten sich gegenseitig Hoffnung. So verstrich die Zeit. Tigwid befühlte nachdenklich seine Schusswunde – das war inzwischen eine Angewohnheit geworden – und freute sich, wie gut sie schon verheilt war. Dann legten sie sich zum Schlafen, damit die Zeit schneller verflog. Als er den anderen den Rücken gekehrt hatte, holte er den Zeitungsartikel mit Apolonias Bekenntnis hervor, den er seitdem gefaltet in der Innentasche seines Jacketts trug. Mit Zhangs Hilfe hatte er ihn Wort für Wort entziffert, nachdem der Graf ihn ihm vorgelesen hatte; nun konnte er ihn fast auswendig. Er betrachtete Apolonias Gesicht und versuchte sich vorzustellen, dass sie sich tatsächlich den grausamen Dichtern angeschlossen hatte. Sie musste irgendwie manipuliert worden sein. Schließlich wusste sie doch, dass nicht der Treue Bund, sondern die Dichter Kinder entführten, um ihnen die Erinnerungen zu stehlen! Aus freien Stücken würde sie niemals das Gegenteil sagen … Tigwid atmete tief aus. Er wollte gar nicht daran denken, mithilfe welcher Methoden man Apolonia in ein Instrument von Morbus’ Machenschaften verwandelt hatte.
Er erwachte durch Geräusche und steckte sich den Zeitungsausschnitt eilig ins Jackett. Auch Emil, Bonni und Mart richteten sich auf: Collonta und die anderen traten soeben durch den Grünen Ring. In ihrer Mitte trugen sie die bewusstlose Loo. Tigwid, Mart, Emil und Bonni machten Platz, damit sie Loo auf die Decken legen konnten. Obwohl sie nichts wahrzunehmen schien, flatterten ihre Lider und das Weiß der Augäpfel war sichtbar. Bonni hatte bereits ein feuchtes Tuch geholt und gab es Fredo, der damit Loos Gesicht abtupfte. Viel mehr konnten sie nicht tun, und der Schmerz über die Hilflosigkeit stand Fredo deutlich in die Augen geschrieben.
„Sie ist so, seit wir sie gefunden haben“, sagte Collonta und schüttelte betrübt den Kopf. Als Tigwid ihm einen fragenden Blick zuwarf, fuhr Collonta fort: „Sie haben sie in einem Hauseingang liegen lassen, nahe unserer Wohnung. Offenbar sind sie zu uns aufgebrochen und haben sich ihrer auf dem Weg entledigt.“
„Wird sie überleben?“, fragte Tigwid so leise, dass Fredo ihn nicht hörte.
Collonta stützte sich schwer auf seinen Gehstock und betrachtete das Mädchen. „Sie wird nicht mehr dieselbe sein. Danach sind sie nie mehr dieselben.“
Emil öffnete noch mehr Konservendosen und sie aßen gemeinsam zu Abend, während Loo in eine Art Fieberschlaf sank. Hin und wieder murmelte sie unverständliche Worte, führte ruckartige Bewegungen aus oder verzog das Gesicht zu Grimassen – mal in Verzweiflung und Schmerz, dann lachte sie lautlos oder rief wirres Zeug.
Laus war vor einer halben Stunde gegangen, um, wie sie behauptete, ihre Katzen zu füttern. In Wahrheit, so vermutete Tigwid, konnte die etwas exzentrische Geisterherrin die Umgebung nicht ausstehen und machte sich deshalb so schnell wie möglich davon. Er konnte es ihr nicht verdenken. Die schummrige Dunkelheit und das Wissen, fünfzig Meter unter den Straßen in gruftähnlichen Katakomben zu sitzen, wo einen niemand außer den gefährlichsten Banditen finden konnte, waren nicht unbedingt Balsam für die Seele. Abermals streifte Tigwid die Hoffnung, dass dies nur ein vorübergehender Unterschlupf für sie sein würde. Er vermisste jetzt schon den Himmel. Vielleicht hätte er Mart und Kairo begleiten sollen, die mit Laus aufgebrochen waren, um die Lage in ihrer Wohnung zu erkunden.
„Sie haben ihr nicht alles genommen“, bemerkte Zhang und wies auf die Schlafende. „Sieht so aus, als wäre Loos Gehirn dabei, die durcheinandergebrachten Erinnerungen zu ordnen. Das heißt, sie hat wenigstens noch welche.“
Fredo schien nicht besonders aufgemuntert. Schon seit einigen Minuten rührte er geistesabwesend in seinem Linseneintopf, ohne einen Bissen zu nehmen.
„Aber ihre Gabe hat sie bestimmt nicht mehr“, murmelte Rupert Fuchspfennig düster und schob sich die Brille zurecht. „Die Dichter lassen ihre Opfer doch nur am Leben, um uns zu verspotten. Sie werfen uns die ausgehöhlte Frucht zu, nachdem sie das kostbare Innere herausgeholt haben.“
Collonta nickte ihm zu. „Sie war eine so begabte Geisterherrin.“
Plötzlich senkte Fredo seine Schüssel. Ohne jemanden anzusehen, knurrte er: „Tut nicht so, als wäre sie tot. Loo lebt. Und sie ist alles andere als eine ausgehöhlte Frucht!“
Fuchspfennig schluckte hörbar.
„Rupert hat es nicht so gemeint“, beschwichtigte Collonta ihn. „Wir sind alle so erschüttert wie du, Fredo. Du bist nicht der Einzige, der sie liebt! Ruperts Bemerkung war rein politisch gemeint.“
„Politisch!“ Fredo spuckte das Wort aus. Einen Moment sah es so aus, als wolle er noch mehr sagen, und die Luft schien aus dem Raum zu weichen; doch dann stieß er bloß ein Grollen aus, erhob sich und setzte sich neben Loos Lager. Eine Weile herrschte Schweigen. Nur das Klappern der Löffel und Schüsseln war zu hören.
„Wenn Apolonia die Seite wechseln und zu uns kommen würde … was würden wir denn dann eigentlich tun?“ Noch während Tigwid die Frage aussprach, merkte er, dass dies nicht der rechte Zeitpunkt gewesen war. Momentan schien niemand, nicht einmal Zhang, dazu aufgelegt, irgendwelche unwahrscheinlichen Möglichkeiten weiterzuspinnen.
„Wir würden die Verbrechen der Dichter verhindern“, sagte Collonta schlicht und nahm einen Löffel Linseneintopf.
„Ja, ja, aber ich meine danach – wenn es keine Dichter mehr gäbe, was dann? Gäbe es dann noch den TBK?“
„Natürlich!“ Fuchspfennig sah Tigwid an wie ein begriffsstutziges Kind.
„Und wofür?“
Fuchspfennig wollte zu einer langen Antwort ausholen, doch Collonta unterbrach ihn. „Verstehst du, Tigwid, wir wollen uns zu unseren Gaben bekennen und sie mit Verantwortung tragen. Mehr noch, wir wollen sie einsetzen, um der Menschheit zu dienen. Dafür müssen wir erst mal die Dichter beseitigen.“
„Danach“, fuhr Fuchspfennig fort und tippte mit dem Löffel in die Luft, „werden wir uns da nützlich machen, wo unsere Gaben am wirkungsvollsten eingesetzt werden können: in der Regierung.“
„Denk mal darüber nach, welche Sicherheit wir dem Volk bieten könnten“, sagte Collonta, als er Tigwids perplexen Blick bemerkte. „Die Fähigkeiten der Geisterherren, der Grüne Ring, Visionen wie die von Bonni, das sind Kräfte, die dem Staat zur Verfügung stehen sollten.“
„Die Leute würden es mit der Angst bekommen, glaube ich“, gab Tigwid zu bedenken. „Wenn plötzlich die ganze Regierung auf Zauberei basiert … ich meine natürlich, auf einer unerforschten Wissenschaft.“
„Stimmt genau“, pflichtete Bonni ihm leise zu. „Die Zyniker würden denken, unsere Gaben seien bloßer Hokuspokus, die Religiösen würden denken, wir wären mit dem Teufel im Bunde … und die Realisten hätten Angst, dass wir unsere Gaben missbrauchen.“
„Papperlapapp“, sagte Zhang und eine kleine Zornesfalte erschien zwischen ihren Brauen. „Die Dichter missbrauchen ihre Gaben, aber gute Motten sind gute Menschen. Erasmus würde sich nie von der Macht verleiten lassen, sonst hätte er das längst schon getan, nicht wahr?“ Sie wandte sich Collonta zu. „Dabei sitzt er hier mit uns in einem Dreckloch, mit nichts als den Klamotten, die er am Leib trägt, und einer ollen Blechschüssel in der Hand, während Morbus wie ein König lebt.“
„Eben“, sagte Collonta verdrießlich. „Ein guter Mensch kann seine Selbstsucht überwinden und ans Wohl aller denken. Vor allem, wenn ihm die Mittel zur Verfügung stehen, wirklich etwas zu bewirken. Und falls die Leute schreiend weglaufen, wenn wir ihnen unsere Dienste anbieten, nun, dann muss man sie vielleicht ein wenig zu ihrem Glück zwingen, indem –“
Loo unterbrach ihr Gespräch mit einem heiseren Ruf. Sie hatte sich kerzengerade aufgesetzt und ihre Augen rollten. „Und wenn du fertig bist … dann bist du wirklich eine Dichterin. Das erste weibliche Mitglied, wenn man es genau nimmt, da Nevera nie selbst ein Buch geschrieben hat.“
„… Loo?“ Ängstlich berührte Fredo ihre Schultern. „Hörst du mich?“
„Nein, lass sie“, zischte Collonta, richtete sich auf und kam näher. „Das war eine Erinnerung an die Dichter! Sie hat den letzten Satz wiederholt, den sie vor dem Eingriff aufgeschnappt hat!“
Gebannt starrten alle Loo an. Dann sagte sie noch einmal: „… wirklich eine Dichterin. Das erste weibliche Mitglied, wenn man es genau nimmt, da Nevera nie selbst ein Buch geschrieben hat. Apolonia! Ich heiße Apolonia! Ich bin nicht Loreley!“
Ihr Kopf nickte zur Seite und sie fiel bewusstlos in Fredos Arme. Entsetzt starrte er sie an, dann wandte er sich mit glänzenden Augen zu Collonta um. „Was war das? Das war nicht sie!“
Collonta fuhr sich zitternd über die Stirn. „Nun ist sie also wirklich eine von ihnen geworden. Der Dichter, der Loo ihre Gabe geraubt hat … das war Apolonia.“
War es möglich? Konnten die Dichter jemanden so stark beeinflussen, dass er einen anderen Menschen bewusst zerstörte? Tigwid konnte, er konnte nicht glauben, dass Apolonia etwas so Schreckliches getan hatte. Trotzdem: Er brauchte Gewissheit.
Nachts wälzte er sich hin und her. Das kleine Feuer im Raum warf unruhige Schatten und Collonta, Fredo und Fuchspfennig, die bei Loo saßen und miteinander flüsterten, hielten ihn wach. Schließlich stand er auf und setzte sich zu ihnen.
„Ich habe einen Entschluss gefasst“, sagte er langsam und merkte, dass es wirklich so war. „Ich muss Apolonia sehen. Ich muss wissen, was passiert ist.“
Fuchspfennig riss die Augen auf. „Zu spät! Sie ist eine Dichterin, hat sich Loos Gabe angeeignet, und du bist nicht mal ein Geisterherr. Sie wird dich überwältigen, mit links.“
„Sie kennt mich!“, erwiderte Tigwid gereizter als beabsichtigt. „Wir waren … wir sind Bekannte. Sie wird mir nichts tun. Aber zuerst muss ich sie finden.“ Er drehte sich Collonta zu. „Wollen Sie mir helfen?“
Der alte Geisterherr schwieg eine Weile. Der Flammenschein ließ die Falten um seine Augen tiefer wirken und leuchtete kalt und ruhelos in seinen Augen. „Sie hat sich verändert, Tigwid. Dein Mut ist bewundernswert, doch ich fürchte, mit Worten wirst du nichts mehr bewirken können.“
Ohne darauf einzugehen, sagte Tigwid: „Ich brauche den Grünen Ring. Bitte lassen Sie mich ihn benutzen. Und ich werde Apolonia finden, wie Sie Loo gefunden haben.“
Collonta schüttelte den Kopf. „Man kann nur an Orte, die man kennt, und da sich die Dichter höchstwahrscheinlich in einem Versteck befinden, das du noch nie betreten hast, ist die Sache aussichtslos. Was Loo betrifft, so konnten wir sie nur finden, weil sie innerhalb der letzten Stunden an Fredo, mich oder einen anderen von uns, der im Grünen Ring war, gedacht hat. Es bedarf des geistigen Einverständnisses der Person, die du aufsuchen möchtest: Nur wenn ihre Gedanken bei dir waren, wirst du zu ihr finden können.“
Tigwid biss sich auf die Unterlippe. „Einen Versuch ist es wert.“
„Dann komme ich mit“, sagte Fredo plötzlich. Seine Augen waren so hasserfüllt, dass Tigwid unwillkürlich zurückwich. „Wenn die Möglichkeit besteht, die Person zu stellen, die Loo das angetan hat, dann …“ Er konnte nicht weitersprechen und ballte die Fäuste.
„Ja, gut …“, murmelte Tigwid. „Ich sollte es aber vielleicht erst allein versuchen. Meint ihr nicht – vielleicht öffnet der Grüne Ring sich nicht, wenn jemand dabei ist, den sie nicht kennt.“
Collonta erkannte sehr wohl, dass das nur eine Ausrede war, um Apolonia vor Fredos Zorn zu schützen, doch er zuckte lediglich die Schultern. „Wenn es dein Wunsch ist, Tigwid, werde ich es dir zeigen.“ Er stützte sich auf seinen Stock und wies auf die gemalte Tür an der Wand.
Trotz ihrer Müdigkeit konnte Apolonia jetzt nicht schlafen – das war unmöglich. Der Tag war viel zu aufwühlend gewesen. Und immer, wenn sie versuchte, den Strom ihrer Gedanken zu stoppen, die sich weiter und weiter fortsetzten wie fallende Dominosteine, dann kam ihr eine Erinnerung aus Loreleys Gedächtnis zugeflogen. Es waren nur ganz einfache kleine Szenen, die sie vergessen hatte ins Buch zu schreiben: wie Loreley am Vortag durch die Straßen geschlendert und einer Gauklertruppe begegnet war, wie das teure Glas aussah, das sie als Kind einmal hatte fallen lassen, und ein streunender Hund, der sie eines Morgens angekläfft hatte. Die Bilder und Geräusche der Erinnerungen durchzuckten sie, als wären es ihre eigenen, und brachten Apolonia immer wieder durcheinander. Stöhnend fragte sie sich, wie lange dieser verwirrende Zustand anhalten würde.
Wenigstens eine gute Sache hatte der heutige Tag gebracht: die Gabe der Terroristin.
Verblüfft schüttelte Apolonia den Kopf, während sie sich im Schrankspiegel musterte. Ihr offenes Haar geriet durch die Kopfbewegung in Schwung und tanzte durcheinander. Dabei blieb es senkrecht in der Luft schweben. Apolonia hatte Macht über die Schwerkraft.
Sie beschloss, ihre Haare wieder fallen zu lassen, und sie fielen. Nun stieg sie auf die Zehenspitzen und nahm sich vor, selbst abzuheben. Aber sie fühlte sich lediglich ein bisschen leichter – was auch daran liegen konnte, dass sie ihr Abendessen noch nicht angerührt hatte. Offenbar war ihre neue Mottengabe nicht mächtig genug, um ihren ganzen Körper schweben zu lassen. Sie erinnerte sich an ihre Mutter und die geheimen Spiele im Salon … damals war die Kraft von mehreren Motten vonnöten gewesen, damit Magdalenas Körper vom Boden hochstieg. Schließlich wog ein Mensch erheblich mehr als ein paar Haare.
Dennoch war die neue Gabe unglaublich. Apolonia konnte leichte Gegenstände bewegen. Und das war bloß das, was sie schon ausprobiert hatte.
„Wie funktioniert das nur“, murmelte sie und beobachtete fasziniert, wie sich ihr Brieföffner auf dem Schreibtisch senkrecht aufstellte. Zum ersten Mal konnte sie nachvollziehen, warum Tigwid den Mottengaben auf den Grund hatte gehen wollen. Bei dem Gedanken an ihn verblasste Apolonias Freude und sie ließ den Brieföffner sinken.
Immer wieder hatte Tigwid sich in ihren Kopf geschlichen. Dass er zum TBK gehört hatte – und es höchstwahrscheinlich noch tat –, brannte wie Säure. Während sie Gewissensbisse plagten, weil sie ein läppisches Verbrecherloch an die Polizei verraten hatte, war er der wahre Verräter gewesen; er hatte die ganze Zeit geplant, sie zu ihren Mördern zu führen.
Laute Stimmen des Protests folgten auf diesen Gedanken, doch Apolonia wollte nicht auf sie hören. Man durfte niemandem vertrauen, nicht einmal seinen eigenen Gefühlen. Nur der Verstand war zuverlässig. Der Verstand war das Einzige, das nicht manipuliert werden konnte ... jedenfalls nicht ihr Verstand.
Als Apolonia sich wieder ihrem Spiegelbild zuwandte, entdeckte sie ein grünliches Flimmern hinter sich im Spiegel. Sie fuhr herum – tatsächlich, in der Luft hing ein grünes Flackern, das zu einem runden Etwas heranwuchs. Erschrocken trat Apolonia zwei Schritte zurück und stieß gegen den Schrank. Hatte sie die Erscheinung heraufbeschworen? Wenn sie ihre neue Gabe nicht kontrollieren konnte –
Und plötzlich erkannte sie die grüne Tür aus der Wohnung des TBK wieder. Automatisch riss sie die Hand hoch und der Brieföffner schoss vom Schreibtisch auf die Erscheinung zu. Kurz davor kam ihre notdürftige Waffe schwebend zum Stillstand, um zu erwarten, wer sie überfallen wollte. Einen Herzschlag lang flimmerte die Tür in der Luft wie eine Fata Morgana. Dann wurde der Türknauf gedreht. Langsam öffnete sich die Tür … und ins Zimmer trat ein Junge in zerschlissenen Kleidern.
Tigwid.
Das matte Licht des Kamins umzeichnete sein Profil. Er sah älter aus, irgendwie erschöpft und weniger beschwingt als früher. Kurz irrte sein Blick zu dem Brieföffner, dann starrte er wieder Apolonia an. Sekunden der Stille verstrichen, in denen sie einander nur ansehen konnten.
„Wieso hast du es getan?“, fragte er schließlich leise.
Apolonia zwang sich, in ihm das zu sehen, was er wirklich war: ein gefährlicher Terrorist. Ihr Feind. Er wollte sie mit seinem plötzlichen Auftauchen verwirren, doch auf ihn fiel sie nicht mehr herein – dass er mit der magischen Tür des TBK erschienen war, bestätigte ihren düsteren Verdacht endgültig!
„Du …“, brachte sie schwer atmend hervor. „Verschwinde!“
Sein Gesicht versteinerte sich. „Dann ist es also wahr. Weißt du, dass du Freund und Feind verwechselst?“
„Das habe ich einmal getan. Jetzt weiß ich, wer mein angeblich so guter Freund wirklich war … nämlich eine Motte, der die Gabe herausgeschrieben werden musste!“
„Ich bin immer noch eine Motte“, erwiderte Tigwid.
„Ja, offenbar hat Ferol bei dir einen ganzen Haufen Boshaftigkeit übersehen.“ Apolonia beobachtete, wie er vor Zorn die Lippen zusammenpresste und dann scharf die Luft ausstieß. Der Brieföffner zitterte leicht, doch Tigwid schenkte ihm keine Beachtung.
„Und was war mit Loo? Sie war vollkommen unschuldig! Sie hatte nichts Böses, das du ihr hättest stehlen können. Gott, Apolonia. Wie konntest du das nur tun?“
Der Raum zwischen ihnen schien zu einer meilenweiten Kluft zu wachsen.
„Verschwinde“, wiederholte Apolonia kaum hörbar. Tigwid regte sich nicht. Dann kam er näher.
Augenblicklich zischte der Brieföffner auf ihn zu. Tigwid rang nach Atem, als die kalte Spitze seine Kehle berührte. Mit der Hand wollte er den Brieföffner wegfegen, doch der blieb wie festgefroren auf der Stelle; nur Apolonia schwankte und stieß mit der Schulter gegen die Schranktür.
„Ein Schritt und ich werde dich umbringen“, flüsterte sie schwer.
Sein Blick brannte sich in sie hinein. „Tu ’s doch.“ Er setzte einen Fuß nach vorne. Ein Zucken ging durch sein Gesicht, als sich der Brieföffner in die Haut bohrte. Plötzlich ballte er die Fäuste und stieß einen verzweifelten Laut aus. „Was ist mit dir los?! Erkennst du mich nicht wieder, bist du blind?! Wir hatten ein gemeinsames Ziel!“ Obwohl der Brieföffner sich nicht bewegte, kam er noch ein Stück näher. Er blinzelte und verzog die Augenbrauen. „Du hast mein Vertrauen einmal gebrochen. Bitte sag mir, dass du es nicht noch mal getan hast. Ich … ich glaube nicht, dass du aus freien Stücken grausame Dinge tust, und wenn du mir nur die kleinste Hoffnung lässt – dann werde ich meinen Glauben an dich nicht verlieren! Dann werde ich alles tun, um dir zu helfen. Ich helfe dir … verstehst du?“
„Ich brauche deine Hilfe nicht!“, schrie Apolonia und ihre Stimme zitterte. Der Brieföffner rutschte ab und riss ein Loch in Tigwids Pullover. Keuchend wich er zurück. „Du und ich, wir sind Feinde! Wenn ich dich das nächste Mal sehe, dann werde ich dich umbringen.“
Tigwid fuhr sich über Hals und Brust und nickte zerstreut, ohne sie mehr anzusehen zu können. „Mach dir keine Sorgen. Mich siehst du nie wieder.“ Dann wischte er durch die Luft, der Grüne Ring erschien und Tigwid verschwand mit einem einzigen Schritt.
Apolonia lehnte am Schrank. Sie war mutterseelenallein.
Hätte er sich noch einmal umgedreht, hätte er gesehen, dass nicht nur er, sondern auch sie gegen die Tränen ankämpfte.