In den nächsten Tagen freuten die Zeitungen sich über fantastische Schlagzeilen. Die Entdeckung des Untergrunds sorgte gar für internationales Aufsehen. Bald schon erschienen die ersten Kurzgeschichten und Romane, die sich den Untergrund zum Schauplatz ihrer Erzählungen wählten, und ein Reiseführer bot Abenteuerlustigen sogar kurzweilig eine illegale Tour durch die Katakomben an.
Im allgemeinen Aufruhr ging die Nachricht von Jonathan Morbus’ Festnahme beinahe unter. Nur eine kleine Pressemitteilung verkündete, dass der bekannte Schriftsteller einen Jungen erschossen und anschließend Feuer in seiner Bibliothek gelegt habe, offenbar in der Absicht, sich das Leben zu nehmen. Später wurde ihm auch der Mord an seinen ehemaligen Gefährten angelastet, deren Leichen man im Untergrund fand – obwohl die Todesursache nie ganz festgestellt werden konnte, ließen Morbus’ abfällige Bemerkungen über ihr Ableben darauf schließen, dass er zumindest daran beteiligt gewesen war. Gerüchten zufolge hatte er sich dennoch keinen Anwalt genommen, sondern zu seiner Verteidigung lediglich gemurmelt, dass das Leben selbst wertlos sei – erst, was man mit dem Leben anfinge, bestimme seinen Wert. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.
Unter all den gefassten Verbrechern aus dem Untergrund bekannte sich kein einziger zum Treuen Bund. Und Staatsanwalt Elias Spiegelgold, der wahrscheinlich trotzdem Terroristen unter ihnen gefunden hätte, war mit anderen Dingen beschäftigt, denn seine Frau hatte vor kurzem den Verstand verloren.
Für Außenstehende mochte es so wirken, als sei das Haus Spiegelgold das traurigste der ganzen Stadt. Ein frostiger Anwalt, seine verrückte Frau, sein verrückter Bruder und seine halbverwaiste Nichte – so stellte man sich nicht unbedingt die glückliche Familie vor, die Abends um den Kamin saß und Rommé spielte. Auch die Bediensteten des Hauses bestätigten, dass es eine wahre Hölle sei, sich um die beiden angeknacksten Herrschaften Alois und Nevera zu kümmern.
Aber Trude wusste, dass die Spiegelgolds nicht in Elend versanken. Sie verstand es zwar nicht, doch sie war dem lieben Gott sehr dankbar, dass der Unfall ihrer Tante und der Verlust ihres Freundes Morbus Apolonia nicht vollends bekümmerte, im Gegenteil. Als Trude pünktlich mit ihrem Nachmittagstee das Zimmer betrat, saß Apolonia mit strahlenden Augen und leuchtenden Wangen an ihrem Schreibtisch.
Trude stellte Tee, Milch und Zucker vor sie hin und lächelte glücklich über ihren gutgelaunten Schützling. „Na? Womit sind Sie denn beschäftigt?“
„Oh, ich lese gerade ein sehr inspirierendes Buch.“
Aus einem anderen Teil des Hauses drang klirrendes Gelächter. Apolonia und Trude verfielen in Schweigen, während Neveras Lachen durch alle Zimmer hallte. Dann endete es so abrupt, wie es gekommen war.
„Nun“, sagte Trude und drückte das Tablett an ihre Brust. „Ich werde mal nachsehen.“
Apolonia nickte und beobachtete, wie ihr Kindermädchen das Zimmer verließ. Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, tauchte Tigwid unter dem Bett auf und stützte mit einem Seufzen den Kopf auf die Arme. „Wusstest du, dass unter deinem Bett eine Staubplantage liegt?“
Sie grinste. „Soll Trude vielleicht erfahren, dass ich neuerdings Banditen das Lesen beibringe?“
Er kam zu ihr geschlendert und ließ sich auf der Tischkante nieder. „Wo waren wir stehen geblieben? Bei meiner Erinnerung an ein Mädchen … das mir im Sommer eine Lilie ins Knopfloch gesteckt hat …“
Apolonia zog ihm sein Blutbuch wieder aus der Hand und blätterte um. „Nein, das können wir überspringen. Wir sind jetzt bei einem bösen, glatzköpfigen Mann, den du erfolgreich ausgeraubt hast.“
Mit einem Lächeln machte er sich ans Lesen. Er war schon viel besser geworden. Apolonia unterbrach ihn nur noch höchstens zweimal pro Satz und nur noch ganz selten schlug sie mit der Faust auf den Tisch. Bald würden sie Der Junge Gabriel zu Ende gelesen haben und Tigwid würde das Glück seiner Kindheit wieder besitzen – vorausgesetzt, er erinnerte sich auch an das ganze Buch. Von allen Blutbüchern existierte nur noch seines mit Sicherheit; Apolonia hatte es schon vor langer Zeit heimgebracht, auch wenn sie damals nicht hatte sagen können, warum sie es nicht in Morbus’ oder Ferols Sammlung zurückgeben wollte. Jetzt kannte sie natürlich den Grund.
Nach einer halben Seite hielt Tigwid inne. Neveras Lachen hatte sich in ein hysterisches Kreischen verwandelt, draußen hörten sie das Fußgetrappel mehrerer Dienstmädchen.
Apolonia blickte nieder und Tigwid beobachtete sie eine Weile schweigend. Sie war blasser geworden, die Schatten unter ihren Augen schimmerten dunkler, seit sie wieder die Pflege ihres Vaters übernommen hatte. Und auch Neveras neuer Gemütszustand schien nicht ohne Einfluss zu sein.
„Willst du mit mir weggehen?“
Sie sah überrascht auf. „Wohin?“
„Weg – ich meine, richtig weg. In die Welt hinaus.“ Er lächelte gewinnend. „Dann zeig ich dir vielleicht sogar, wo Dottis neues Wirtshaus ist.“
Sie riss die Augen auf. „Es gibt ein neues Eck Jargo? Wo?“
Er zuckte die Schultern. „Kann ich dir vertrauen? Alle vom Treuen Bund wohnen momentan dort. Alle wichtigen Leute haben sich bei Dotti versammelt – sie hat sich mit Mone Flamm zusammengetan. Wie es aussieht, werden sie ziemlich erfolgreich sein. Die Welt der Banditen braucht einen neuen Unterschlupf. Und neue Legenden.“
Eine Weile leuchtete die Neugier in ihren Augen, dann biss Apolonia sich auf die Unterlippe. „Und ich soll mit dir in ein verbotenes Wirtshaus ziehen, zu deinen TBK-Freunden, die mich alle lynchen wollen?“
„Das wollen sie nicht. Nicht mehr. Ich kann mit ihnen reden …“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss hierbleiben. Schließlich muss sich jemand um meinen Vater kümmern, und Onkel Elias traue ich nicht all zu viel zu. Er wurde so oft von Nevera beeinflusst, dass er durchaus mentale Schäden davongetragen haben könnte.“
Tigwid kratzte am Einband von Der Junge Gabriel herum. „Du willst wirklich hierbleiben, umgeben von Verrückten?“
„Egal, wo wir sind, Verrückte umgeben uns immer“, erwiderte Apolonia ruhig. „Hier weiß ich wenigstens, woran ich bin. Abgesehen davon …“ Sie nahm ihren Füllfederhalter zur Hand und zog ihr Notizbuch heran. Die Erinnerungen an ihre Mutter füllten die ersten Seiten; nun blätterte sie zur unbeschrifteten Mitte und strich das Papier glatt. „Es ist Zeit für die Wahrheit. Inspektor Bassar wird sich freuen, wenn ich aufschreibe, was wirklich vorgefallen ist. Schließlich schweigt Morbus wie ein Grab. Vielleicht sollte ich ein Buch verfassen. Ein Buch mit einer wahren Geschichte.“
Tigwid verkrampfte sich. „Du meinst doch nicht …“
Apolonia sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. „Mottengaben habe ich nicht nötig – zweifelst du etwa daran, dass meine Geschichte auch so fantastisch sein wird?“ Sie setzte die Feder an und lächelte. „Keine Angst, Gabriel. Ich werde keine Menschen in mein Buch sperren. Nur meine eigenen Erinnerungen, damit ich sie niemals vergesse. Und so fängt es an …“ Sie nahm eine gerade Haltung an und begann zu schreiben. Den Füllfederhalter führte sie so elegant wie einen Degen, doch schon bald verlor sie die Geduld und ihre schöne Schrift verwandelte sich in ein hastiges Gekrakel. Tigwid beugte sich vor und las den ersten Satz:
Am Abend traf sich Jorel mit dem Mädchen.