Prolog

In der Mitte des Marktplatzes stand der Scheiterhaufen, sicher drei Mann hoch, so dass die Schreie der Kreuzdorner Hexe weithin hörbar sein würden und alle – wirklich alle – sie sahen. Sie zerrte, riss an ihren Fesseln, wollte schreien, hätte da nicht das Tuch in ihrem Mund gesteckt. Verfilzte Strähnen flogen um ihren Kopf. Heilerhaare.

Ausgerechnet eine Heilerin?

Ihre Augen blitzten wild, kampfbereit – wenn sie nur irgendeine Möglichkeit gehabt hätte. Striemen und verkrustetes Blut bedeckten ihren Körper. Sie hatte wohl schon einiges  erdulden müssen.

Was war nur aus den Dienern Mavanjas geworden – in so kurzer Zeit? Unter neuer Führung handelten die Hüter erbarmungslos und diese arme Frau war die Erste, die ihnen ins Netz gegangen war.

Ein Gong ertönte, ließ das Publikum verstummen. Ein hagerer Mann, noch recht jung, betrat die Bühne. Seine Nase war genauso spitz wie die Schnäbel der Krähen, die über den Türmen der Kronenburg kreisten. Korvinus von Seggensee. Der neueste Speichellecker bei den Hütern. Der feine Herr strich sich die langen Haare aus dem Gesicht, genoss den Moment der Stille, bevor er seinen Gebieter ankündigte: »Hört, hört, werte Kronenburger und andere Bürger des Rohnlandes, Eure Exzellenz Helleborus von Resede, Großmeister der Hüter und ergebener Diener der Mutter des Lebens, wird nun zu euch sprechen.« Damit trat er einen Schritt zur Seite und verbeugte sich.

Es erschien ein weiterer Mann. Seine Augen waren wach und kalt. Berechnend warf er einen Blick über die Menge. Die Lippen pikiert, sah er zu der Hexe hinüber, schmunzelte, nickte ihr wissend zu. Die beiden hatten offenbar schon einige Zeit miteinander verbracht.

Sie erstarrte bei seinem Anblick, nur um dann umso fester an ihren Fesseln zu zerren.

Seine Exzellenz setzte ein Lächeln auf, als ob er sich für den Karneval verkleidete, und begann zu sprechen: »Ihr guten Bürger! Ihr alle erzählt sie euch, die alten Schauergeschichten. Ich sage euch, sie sind wahr. Zu lange sind wir Hüter unserer Aufgabe nicht nachgekommen, haben die redlichen Menschen – wie ihr es seid – nicht gut genug vor diesem Abschaum geschützt. Ab dem heutigen Tag werden wir aufräumen! Weg mit dem Gesindel! Das verspreche ich euch.«

Er wartete auf Beifall und eine tosende Woge rollte ihm entgegen.

Die Exzellenz machte einen Schritt auf die Heilerin zu. »Diese hier ist eine Traumweberin aus dem kleinen Dorf Kreuzdorn. Dort hat sie den Leuten Träume geschickt, die sie krank machten, nur um selbst mehr zu verdienen! Nun wird sie büßen!«

Der mit der spitzen Nase hatte inzwischen eine Fackel entzündet, stand bereit, den Scheiterhaufen in Flammen zu setzen. Doch Helleborus von Resede bedeutete ihm mit nur einem Fingerzeig, dass er das selbst in die Hand nehmen wollte.

Man sah Korvinus von Seggensee an, wie ungern er verzichtete. Aber er folgte seinem Großmeister, wie ein Hund seinem Herren. Demütig ging er auf die Knie und überreichte die Fackel.

Die Exzellenz wartete, ließ den Moment wirken.

Korvinus riss den Knebel aus dem Mund der Heilerin. Sie spuckte ihn an, schrie, zeterte, verwünschte ihre Peiniger und alle rundum, die tatenlos zusahen, sie allein sterben ließen.

Die Menge schien wie gelähmt.

Dann kamen die Rufe.

»Höchste Zeit!«

»Lasst sie brennen!«

»Hexenpack!«

Die Exzellenz senkte die Fackel. Die Flammen züngelten über das Holz hinauf, sprangen von Scheit zu Scheit, loderten höher, erreichten die Spitze. Ein Heulen erklang, das nichts Menschliches mehr hatte.