Valerian bekam es als Erster mit. Er fuhr vom Lager hoch, verzog vor Schmerz das Gesicht. Seine Hand schnellte wieder an den Brustkorb. Er schwang die Beine aus dem Bett und stand plötzlich neben mir. »Hörst du das?«
Zuerst wusste ich nicht, was er meinte, doch dann machte ich zwei schnelle Schritte zum Fenster.
»Sie kommen …«, flüsterte ich, stützte mich aufs Fensterbrett, bevor meine Knie nachgaben. Würden sie uns jetzt mitnehmen? Nach Kronenburg?
»Ich brauche einen Verband, bitte!«
Valerians Stimme klang fern, denn unten trabte das erste Pferd über die Brücke. Korvinus. Er hatte vier weitere Männer mitgebracht, alle schwarz gekleidet. In Weiß prangten das Auge und das brennende Schwert auf ihren Oberkörpern. Langsam drehte ich mich Valerian zu. Was hatte er gesagt?
»Ein Verband … rasch!«
»Wozu? Der Schorf um deine Augen ist doch abgeheilt.«
»Tu’s einfach. Schnell!« Er stand bewegungslos im Raum, hörte auf jedes Geräusch.
»Verbena!«, schrie Alraune von unten.
Bei Mavanja! Der Albtraum wurde wahr. Korvinus. Die Hüter. Lodernde Flammen am Scheiterhaufen!
Valerian schüttelte mich.
»Verbände sind unten … in der Heilerei.« Zu spät. Die Haustür krachte gegen die Wand.
»Alraune, sie sei gegrüßt! Man hört schlimme Dinge über sie.« Korvinus’ Stimme, schnarrend, wie immer.
Ich war starr.
»Zum Henker!«, zischte Valerian, »liegt hier irgendetwas? Schnell!«
Wie in Trance sah ich mich um.
»Das Leintuch!« Ich griff nach dem Messer am Gürtel, stürzte zum Bett, schnitt einen Streifen davon ab.
»Wo sind die Kleine und der Narr?« Korvinus klang betont freundlich. Direkt darauf wechselte er ins Brüllen. »Antworte sie mir!«
Unten polterte es. Alraune stieß einen Schrei aus.
Meine Güte!
Valerian sog scharf die Luft ein.
Schnell wickelte ich den Stoff um seinen Kopf.
Das Holz der Treppe knarrte unter schweren Schritten. Jemand kam.
Ich versuchte, einen Knoten zu binden. Wenn meine Finger doch nicht so zittern würden … Mutter des Lebens, steh uns bei!
Die Dielen im Gang ächzten. Gleich.
Die Finger weg vom Verband! Gerade noch legte ich meine Hände auf Valerians Schultern, als ein beleibter Mann um die Ecke bog. Es war der Bote.
»Störe ich?« Seine breiten Lippen grinsten hämisch, eröffneten den Blick auf gelbe Zähne.
»Wir … wir wollten gerade hinunter.«
»Bitte, nur zu!« Mit einer Verbeugung trat er einen Schritt zurück hinaus in den Gang, wies uns den Weg.
Ich nahm Valerians Arm, brauchte ihn dringend zum Festhalten. Bedächtig ging ich auf den Gang hinaus, wollte möglichst viel Abstand zu dem feisten Kerl wahren.
Der Hüter winkte mich galant vorbei.
Im nächsten Moment packte er mich an den Haaren, grub seine Finger tief in die Strähnen. Ein schriller Laut entfuhr meiner Kehle.
Er riss mich weg von Valerian, zog mich vor sein Gesicht. Bei Mavanja – wie sein Atem stank. Ich schluchzte auf, war unfähig mich zu wehren.
Er sah mir direkt in die Augen. »Bist du eine? Mir kannst du es ja sagen …«
Eine was? Eine Begabte? Mutter des Lebens!
Ich biss mir auf die Zunge, wollte leugnend den Kopf schütteln, aber er hielt mich fest wie ein Schraubstock.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?« Mit dem Zeigefinger der anderen Hand strich er sanft über meine Wange. »Euer Hochgeboren wird das aus dir herauskitzeln. Er freut sich schon auf dich.«
Roh wuchtete er mich an den Haaren den Gang entlang. Meine Kopfhaut brannte unter seinem Griff. Dann stieß er mich die Stiege hinab.
Ich stolperte, geriet ins Stürzen. In der Kurve prallte ich mit der Stirn gegen die Wand. Ich taumelte, bekam gerade noch das Geländer zu fassen. Benommen strich ich über das Gesicht, spürte Blut.
Korvinus Kopf tauchte am unteren Ende der Stiege auf. Solange ich mich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass er mich anlächelte. »Da ist die Kleine. Ich habe sie schon vermisst.«
Nur seine Lippen lachten, die Augen waren die eines Raubtiers.
Ich bin nicht klein!, dachte ich und richtete mich auf. Von oben kam ein Rumpeln. Valerian schlitterte auf mich zu. Ich streckte mich, um seinen Fall zu bremsen.
Mit Wucht drückte er mich gegen die Wand.
»Entschuldige«, flüsterte er in mein Ohr.
»Ah, und der Narr! Dann können wir beginnen.« Auch Korvinus konnte es nicht lassen, sich triefend vor Hohn zu verbeugen.
Von oben hörte ich Schritte. Der Bote.
Ich packte Valerians Hand und zog ihn mit mir die Treppe hinunter, bevor der nächste Stoß von hinten kam.
Unten stellte Korvinus sich in den Weg. Er wartete grinsend, während sein Kumpan betont langsam die Stufen herunterstapfte. Wie Wölfe im Rudel arbeiteten sie einander zu, und wir steckten in der Falle. Meine Nackenhaare stellten sich auf, doch ich wagte nicht, mich nach dem Grobian umzudrehen, ruhte doch Korvinus’ Blick auf mir.
Valerian presste sich an mich. Seine Hände umschlossen meine Oberarme fest, als der Mann direkt hinter ihm stehen blieb.
Korvinus trat einen Schritt zurück. »Bring sie hinaus, Aurelio!«
Aurelio? Dieser grobschlächtige Kerl hieß Aurelio?
Seine fleischigen Finger gruben sich wieder in mein Haar, rissen an den Strähnen. Schmerz! Er zog mich durch die Stube.
Ich biss die Zähne zusammen, taumelte. Die Genugtuung, mich wimmern zu hören, würde ich Korvinus nicht geben. Neben mir stolperte Valerian, rammte den Türrahmen. Er war wohl gestoßen worden.
Draußen kniete Alraune im Gras, ihre Augen glasig. Hinter ihr stand ein weiterer Hüter, eine Hand auf ihrer Schulter.
Aurelio schleifte mich zu ihr und drückte mich auf die Knie. Valerian landete unsanft neben mir.
Um uns standen fünf Männer in Schwarz. Korvinus, ganz der Anführer, schritt auf und ab, begutachtete seine Beute.
»Alraune … wer hätte gedacht, dass es so weit kommt.«
»Ihr solltet mich besser kennen, Euer Hochgeboren«, zischte sie.
Er sah kurz in die Ferne, strich sein Haar nach hinten. Dann schwenkte sein Blick auf mich. Mit verzogenen Mundwinkeln fuhr er fort: »Die Hüter wurden darauf hingewiesen, dass man sich hier magischer Praktiken bedient, wohl gar auch Begabungen vorliegen. Zeugen berichten von ›eigenartigen‹ Untersuchungen. Es sei, als ob die Heilerinnen in die Körper ihrer Patienten hineinsehen könnten.«
Mutter des Lebens! Beschrieb er da die Wirkung der Drachenzahn-Essenz?
»Unter dem Dekret von 743 ist Hexerei strengstens verboten und wird durch den Tod auf dem Scheiterhaufen geahndet. In meiner Rolle als Verantwortlicher zu Seggensee obliegt es mir, diesen Tatbestand zu untersuchen.«
Fassungslos sah ich ihn direkt an. Zum Kuckuck mit der Etikette!
In seinen Augen suchte ich nach Antworten. Wer hatte uns verraten? Und weswegen? Wer glaubte, dass wir uns Magie zunutze machten, sei es auch nur, um anderen zu helfen?
Alraune hatte die Drachenzahn-Essenz über die Jahre perfekt verborgen. Selbst vor mir! Davon wusste sonst niemand. Und die Sache mit Malve … meine Gabe war mir ja auch erst seit einigen Tagen bekannt. Außer Alraune hatte ich es keiner Menschenseele erzählt. Oder reichten in diesen Zeiten schon Wirtshaus-Mutmaßungen aus, um anderer Leute Leben zu verkürzen? Woher nur kam die Bereitschaft zur Menschenjagd? Wurden wir zum Exempel, weil sonst niemand auffällig genug war? Weil Korvinus sich verpflichtet fühlte, auch in seiner Baronie eine Hexe auszutreiben? Wollte er nicht hinter anderen Fürstentümern zurückstehen?
Er erwiderte meinen Blick. In seinen Augen las ich Hass und Genugtuung. Es ging ihm um mich … wie abscheulich! Ich konnte nicht anders, brach den Bann, der unsere Blicke verschweißte, sah zu Boden, zählte die Grashalme vor meinen Knien. Auch er wandte sich ab, richtete sein Wort an die Hüter. »Ihr kennt die Liste der klassifizierten Essenzen. An die Arbeit! Seht überall nach, auch in den Schlafkammern und rundum im Wald.«
Drei der Hüter verschwanden im Haus. Nur Korvinus und der, dessen Hand auf Alraunes Schulter ruhte, blieben. Wenig später hörten wir das erste Klirren aus der Heilerei. Und noch eines, und noch eines. Alraunes Kopf sank auf die Brust. Sie schloss die Augen, presste die Lippen aufeinander, zuckte bei jedem weiteren Geräusch. Die Hüter hatten nicht vor, ein einziges unserer Gefäße ganz zu lassen. Durch das offene Fenster meiner Kammer hörte ich Schritte. Mein Bettzeug flog heraus. Dem folgte der Inhalt des Schranks, der sich auf der Wiese verteilte. Ungläubig sah ich meine Untergewänder fallen. Ihnen segelte Finns Feder hinterher, landete vor der Haustüre. Wut schäumte in mir hoch, wie ein überkochender Kessel. Wie konnten sie nur!
Korvinus lächelte und trat wieder dichter an uns heran.
»Trägt der Narr noch immer eine Augenbinde?« Er beugte sich zu Valerian hinunter, bereit, ihm den Verband vom Kopf zu reißen. Dieser verkrampfte stumm.
»Euer Hochgeboren, er hat sein Augenlicht bei dem Unfall verloren.«
Korvinus wandte sich Alraune zu.
»Habe ich sie gefragt?«, herrschte er sie an. Er holte aus und schlug ihr ins Gesicht. Sie fiel neben mir ins Gras, schluchzte. »Sie halte gefälligst ihr Maul! Ich will es von ihm hören!«
Er hielt inne.
Zu den Geräuschen der Zerstörung im Haus gesellte sich ein weiteres. Ein tiefes, gutturales Knurren.
Malve!
Valerian griff nach meiner Hand, drückte sie fest, hinderte mich, den Namen auszusprechen. Ich straffte meine Miene, doch hinter der Fassade rasten die Gedanken. Mein Marder war im Haus! Er war gekommen, mich zu retten, so wie er es am Dorfplatz getan hatte.
Oben zerbarst etwas … meine Waschschüssel?
Malve erschien auf dem Fensterbrett, den Schwanz buschig, die Nackenhaare aufgestellt. Einmal noch fauchte er in das Zimmer hinein, bevor er sich behände von einem Fensterladen zur Regenrinne hinaufzog. Von dort sprang er aufs Dach und verschwand hinter dem First. Ich war überglücklich, ihn zu sehen. Im gleichen Moment aber auch heilfroh, dass er nicht auf mich zulief.
»Man berichte mir!«, rief Korvinus hinauf.
Einer der Hüter erschien im Fenster, sein Gesicht bleich wie Birkenrinde.
»Das Vieh kam aus den Dachbalken. Verwanzt ist dieses Haus – Ungeziefer überall!«
Frechheit! Bei uns gab es weder Wanzen noch Flöhe und wenn jemand Läuse hatte, dann die Leute von der Burg! Alles in mir drängte danach, aufzuspringen, es Malve gleichzutun, die Hüter und vor allem Korvinus anzufauchen, sie davon zu jagen. Valerians Druck um meine Hand wurde stärker. Beinahe unmerklich zog er sie nach unten, so als wollte er mich aufhalten.
Korvinus wandte sich wieder ihm zu, seine Stimme fordernd: »Wie war das also …?« Ich erwiderte Valerians Griff. Er hatte mich gerade davor bewahrt, meine Begabung preiszugeben. Ich hoffte, dass auch ich ihm Kraft geben konnte.
»Ich … ich … bin …« Er stammelte.
»Er … er … ist …« Korvinus trat gegen Valerians Bein. »Nun sage er es schon. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Valerian krümmte sich. »Blind«, stieß er hervor. Seine Schultern sackten tiefer. »Blind«, flüsterte er ein zweites Mal, mehr zu sich selbst als zu Korvinus.
»Dann lasse er sie sehen, die leeren Augen!« Korvinus langte zum Verband.
Valerians Griff um meine Hand war so fest, dass meine Finger beinahe brachen.
Hufschlag ertönte von jenseits der Brücke. Noch mehr Hüter?
Korvinus wirkte überrascht. Wusste er auch nicht, wer da kam?
Neben mir rappelte Alraune sich auf.
Ich griff nach ihrem Arm und zog sie hoch. Korvinus’ Ring hatte an ihrer Schläfe einen violetten Abdruck hinterlassen. Er begann anzuschwellen.
Drei weitere Pferde überquerten die Brücke. Jetzt wurde es eng auf der Wiese vor unserem Haus. Die Rösser der Hüter verstellten mir die Sicht. Wollte ich überhaupt wissen, wer da kam? Zumindest hatten sie keinen vergitterten Wagen dabei, wie man ihn für Gefangenentransporte nach Kronenburg benutzte.
Das Klirren im Haus verstummte.
Korvinus ging auf die Neuankömmlinge zu. Er senkte sein Haupt zum Gruß, griff nach den Zügeln eines riesigen Schlachtrosses und führte es über meine Wäsche direkt vor das Haus.
»Roderik«, flüsterte Alraune.
Der Baron? Ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen, erkannte ihn erst auf den zweiten Blick. Was wollte der hier? Seinem Sohn unter die Arme greifen? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er jemals in die Heilerei gekommen war. Alraune besuchte ihn immer im Schloss, ohne mich.
Korvinus half seinem viel zu massigen Vater vom Pferd und führte ihn zur Bank vor dem Haus. Ein Jagdhund setzte sich neben ihn. Bei Escha, der Baron sah wirklich nicht gut aus! Das Gesicht war rot und er rang nach Luft. Der Ritt hatte ihm schwer zu schaffen gemacht. Trotzdem schüttelte er Korvinus’ helfende Hände ab. Sobald er zu Atem gekommen war, brüllte er ihn an: »Was fällt dir ein! Pfeif sofort deine Schergen zurück.«
Die Hüter hörten ihn gewiss in der Stube, wagten jedoch nicht herauszukommen.
»Aber Vater, es besteht Verdacht …«
»Gar nichts besteht! Ich kenne Alraune seit gut vierzig Jahren. Das ist garantiert keine Begabte. Dafür bürge ich!«
»Aber das Mädchen …«
Der Baron setzte sich auf, sah mich an. Seine Augen weiteten sich.
»Vergiss das Mädchen! Die auch nicht. Wer ist der Blinde?«
»Das ist der Verletzte von der Landstraße.«
»Was willst du von dem? Sieh ihn dir an, der ist doch gestraft genug.«
Korvinus schnaubte, sagte jedoch nichts.
»Hilf mir hoch!«
Ergeben reichte er seinem Vater die Hand.
Dieser ächzte, während er sein Gewicht in die Höhe stemmte. Dann schüttelte er Korvinus’ Hand wieder ab, als würde er eine Fliege verscheuchen. Der Hund blieb auf einen Wink hin sitzen.
Mit wuchtigen Schritten ging der Baron auf Alraune zu, streckte ihr seine Hand entgegen. »Sie erhebe sich.« Als Alraune vor ihm stand, fuhr er fort: »Ich muss mich für das Verhalten meines Sohns entschuldigen.«
Sie nickte und knickste.
Er bedeutete Valerian und mir, ebenfalls aufzustehen. Ohne uns eines Blickes zu würdigen, drehte er sich um und ließ sich von Alraune zum Haus führen.
»Korvinus, zeig mir den Schaden, den du angerichtet hast!« Roderik packte seinen Sohn an der Schulter und schob ihn durch die Tür.
»Mutter des Lebens!«, stieß Alraune aus, als sie die Stube betrat.
Die drei verschwanden in der Heilerei. Ich spitzte die Ohren, hörte jedoch nichts. Dann brüllte der Baron so laut, dass das Haus erzitterte. »Sohn, nicht einmal mein Magenbitter ist ganz geblieben! Du kannst nicht die einzige Heilerin dieser Gegend ruinieren. Denk an all die Kranken, die hier versorgt werden! Du sollst die Baronie führen, nicht zu Grunde richten! Nimm deine verdammten Hüter und verschwinde!« Nach einer kurzen Pause keuchte er: »Ich muss mich setzen.«
Die schwarzen Männer quollen einer nach dem anderen aus der Tür. Korvinus kam als Letzter. Bevor er sein Pferd bestieg, warf er mir einen Blick zu – einen, der mich erzittern ließ. Das letzte Wort war noch nicht gesprochen.