Francesco Nicolodi.

Er war am Tag der Vernissage mit mir in den Giardini gewesen und hatte ziemlich genau dasselbe gesehen wie ich. Ob er mit Considine gesprochen hatte, wusste ich nicht, konnte aber gut sein. Und möglicherweise hatte er doch noch mehr mitbekommen. Falls ja, dann würde er es bestimmt für einen weiteren Exklusivartikel aufsparen. Wo hatte er gesagt, war er abgestiegen? Hotel Zichy. Oder genauer gesagt im Hotel Ferdinand Zichy.

Das hätte mir gleich etwas seltsam vorkommen müssen. Das Zichy war ein Billighotel, nicht weit von Spirito Santo. Gelegentlich hatte ich mich dort schon um unzufriedene Gäste kümmern müssen. Es war wirklich günstig, aber in Venedig bekam man eben, wofür man bezahlte. Von einer schäbigen Absteige war es zwar noch ein paar Grade entfernt, doch es genoss einen zweifelhaften Ruf wegen seiner fragwürdigen Hygiene und weil ab und zu etwas abhandenkam. Mehr als einmal war es passiert, dass ein Gästepaar nach einer Sightseeingtour zurückkehrte und den Zimmersafe leer vorfand. Nachdem das zum dritten Mal vorgekommen war, hatte ich mich bei Vanni beschwert. Er hatte mit den Schultern gezuckt. Ja, wahrscheinlich ging nicht alles mit rechten Dingen zu. Nein, beweisen konnte man das nicht. Aus diesem Grund schien mir das Zichy für den Aufenthalt eines internationalen Kunstkritikers eine eher seltsame Wahl.

Eigentlich gab es überhaupt keinen Grund, Nicolodi

Vorher führte mein Konsulatsjob mich noch einmal ins Ospedale, wo ich für das ältere Ehepaar dolmetschte und den Papierkram erledigte. Dann trug ich ihnen die Koffer zur Alilaguna-Haltestelle und winkte sie ins nächste Boot zum Flughafen Marco Polo. Anschließend nahm ich das vaporetto Richtung Giudeccakanal. Inzwischen war die Hauptverkehrszeit vorbei, und es gab drinnen freie Plätze. Ich entschied mich jedoch, im Freien zu sitzen, den Wind im Gesicht zu spüren und hinüber zur Insel zu schauen. Dabei dachte ich an die traurige Geschichte über Ezra Pound, der, dem Tode geweiht, anfing zu weinen, als er begriff, dass er die Giudecca niemals wiedersehen würde.

Das Boot hielt an den Zattere, und die Familie neben mir stieg aus. Keine Einkaufstrolleys, stattdessen große Kameras, und Dad trug Shorts, obwohl es noch relativ früh im Sommer war. In der linken Hand hielt er die russische Ausgabe eines Restaurant- und Caféführers. Wenn sie jetzt nach links abbogen, würden sie jede Wette Nico ansteuern. Was sie tatsächlich auch taten und sich dort auf die terrazza setzten, die sich schon langsam füllte. Messerscharf gefolgert, Nathan, dachte ich. Fede wäre stolz auf dich.

Diesen Teil der Stadt liebte ich schon immer. Mittlerweile kam ich viel zu selten her, aber es hatte einmal eine Zeit gegeben, da schien kein Problem zu schwierig, um nicht bei einem Spritz auf Nicos Terrasse gelöst zu werden. Ich drehte mich um und blickte über den Kanal hinüber zu Palanca. Bestimmt saßen Sergio und Lorenzo jetzt bei einem Glas

Der Ponton lag vor der lange schon verlassenen Kirche Spirito Santo, deren Türen sich seit über hundert Jahren nicht mehr geöffnet hatten und wahrscheinlich auch nie wieder öffnen würden. Gerüchte hielten sich, dass sich im Inneren noch immer einige Kunstwerke befänden, was gelegentlich zu Einbrüchen führte, doch nach offiziellen Angaben war alles von Wert schon lange in die Accademia überführt worden. Nicht einmal Federica hatte die Kirche jemals von innen gesehen. Wahrscheinlich gäbe es dort nichts Interessantes, meinte sie, und die Bausubstanz war in so schlechtem Zustand, dass das Gebäude auch als temporärer Ausstellungsraum für die Biennale nicht zu gebrauchen war. Inzwischen waren zum Schutz vor der Witterung die Fenster zugenagelt worden, während der Putz einen aussichtslosen

Ich bog hinter dem Gebäude links ab und ging weiter bis zum Hotel Zichy. Die Lobby war auf eine Weise gepflegt, wie Lobbys enttäuschender Hotels immer gepflegt erscheinen. Die Rezeption war unbesetzt, während ein gelangweilt wirkender junger Mann mit Dutt an einer Bar rechts von mir Gläser polierte.

Ich stellte mich vor den Empfangstresen und wartete. Und wartete. Ich lächelte dem jungen Mann zu. Er erwiderte mein Lächeln und nickte. Ich wartete noch ein bisschen. Dann ging ich zu ihm hinüber.

«Ich bin hier mit einem Freund verabredet», sagte ich.

«Klar.» Sein Akzent war schwer einzuordnen. Rumänien, Moldawien? Irgendwo aus der Ecke. «Fragen Sie einfach an der Rezeption nach.»

«Natürlich.»

Ich ging zur Rezeption zurück. Und wartete wieder ein bisschen. Ich sah zu dem jungen Mann hinüber, der mit nervenaufreibender Gründlichkeit weiter seine Gläser polierte. Ich hüstelte. «Ähm, es scheint im Augenblick niemand hier zu sein.»

Er nickte. «Um diese Tageszeit bin ich allein.»

«Ah, okay. Vielleicht können Sie mir dann weiterhelfen?»

«Klar. Spritz? Bier? Wein?»

Ich schüttelte den Kopf. «Nein, nein, nein. Hier wohnt ein Freund von mir», log ich. «Ob wohl jemand für mich in seinem Zimmer anrufen könnte?»

«Klar. Fragen Sie einfach an der Rezeption.»

«Da ist aber niemand.»

«Nicht um diese Zeit. Kommen Sie um sechs wieder.»

«Moretti?»

«Nastro Azzurro, wenn Sie welches dahaben.»

Er nickte, nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank, machte sie auf und reichte sie mir.

«Könnte ich bitte ein Glas bekommen?»

Er schob mir eins rüber.

«Ein paar Chips vielleicht?»

Er griff hinter sich und nahm eine Glasschale aus dem Regal, dann beförderte er eine Großpackung Chips zutage, aus der er ein paar Handvoll hineintat.

«Großartig. Danke. Möchten Sie vielleicht auch eins?» Er wirkte überrascht. Ich blickte mich übertrieben auffällig um. «Ach, kommen Sie schon, es ist niemand da. Sie haben sich bestimmt eins verdient», flüsterte ich ihm dann zu. Er zeigte die Annäherung an ein Lächeln, dann drehte er sich um und nahm ein zweites Nastro Azzurro aus dem Kühlschrank. Er wollte es aus der Flasche trinken, doch ich hob den Zeigefinger. «Kippen Sie’s lieber in ein Glas. Flaschen sind doch nur was für ultras.» Er grinste.

Wir stießen an. «Noroc!», sagte ich.

Er erschrak ein bisschen. «Vorbiti romana?»

«Numai putin. Lucrez ca traducator.» Ich schaltete wieder auf Italienisch. «Ein Freund von mir ist Rumäne. Er hat mir ein bisschen was beigebracht. Vielleicht kennen Sie ihn? Er arbeitet an den Brücken. Im Hundetransport-Business, wissen Sie?»

Er fing an zu lachen. «Mr. Gheorghe! Ja. Den kennt doch jeder.» Wir stießen noch einmal an. Ich leerte mein Glas. «Noch mal dasselbe. Und für Sie auch noch eins.» Er holte

«Adrian.» Wir schüttelten uns die Hände.

«Sagen Sie mal, Adrian, darf man hier rauchen?»

«Natürlich nicht. Aber jeder macht es.» Er griff in seine Hosentasche und holte ein zerknautschtes Päckchen hervor; irgendwas, das ich noch nie gesehen hatte. Er zog zwei Zigaretten heraus. «Hier. Das geht diesmal auf mich.» Ich ließ mir die Zigarette von ihm anzünden und nahm einen vorsichtigen Zug.

Freundlicherweise bot mein neuer Freund mir ein Papiertaschentuch an, damit ich mir anschließend die Tränen abwischen konnte. Irgendwann hörte ich auch auf zu husten und trank schnell einen kräftigen Schluck von meinem Bier. «Nicht schlecht.»

Er grinste. «Carpati. Die billigsten Glimmstängel in ganz Rumänien. Und die Lieblingsmarke meines Vaters. Er war auf dem Platz der Revolution 1989 mit dabei. Sagte immer, er hätte mehr Angst vor den Zigaretten gehabt als vor der Securitate.»

Ich nahm noch einen vorsichtigen kleinen Zug. «Kluger Mann, Ihr Vater», sagte ich und tupfte mir die Augen trocken. Wir rauchten und husteten einen Moment schweigend vor uns hin. «Erzählen Sie mal, Adrian», sagte ich dann. «Wie ist es denn so, hier zu arbeiten?»

Er zuckte mit den Schultern. «Kennen Sie die Hotelbewertungen?»

«Ja.»

«Die stimmen im Prinzip. Es ist nicht besonders. Und manchmal verschwinden Sachen, wissen Sie. Dann kriegt einer von uns die Schuld.»

«Aber nicht Sie?»

«Das ist erfreulich. Hören Sie, Adrian, ich glaube, zurzeit ist ein Mann namens Francesco Nicolodi hier abgestiegen.»

Einen Moment sah er mich ausdruckslos an, dann erhellte sich plötzlich sein Gesicht. «Süditaliener? Trinkt vielleicht ein bisschen zu viel? Wegen der Biennale hier?»

«Zwei von drei auf jeden Fall. Nummer zwei kann ich nicht beschwören. Ist er da?»

Er schüttelte den Kopf. «Jetzt nicht mehr. Hat heute Morgen ausgecheckt.»

«Ach, Mist. Wissen Sie vielleicht, wohin er wollte? Zurück in den Süden oder zum Flieger nach England?»

«Keine Ahnung.»

«Es könnte wichtig sein. Wirklich gar keine Idee?»

«Sorry.» Er sah über seine Schulter. Ich folgte seinem Blick zu der Uhr an der Wand. Es war eins.

«Ich vermute», sagte ich, «die Zimmer wurden noch nicht gemacht?» Er nickte. «Es wäre also – rein theoretisch – möglich, dass sich jemand kurz in signor Nicolodis Zimmer umsieht?»

Er schüttelte den Kopf. «Das würde mich meinen Job kosten.»

«Vielleicht. Aber es ist doch ein beschissener Job.»

«Stimmt allerdings.» Er winkte mich zur Rezeption hinüber und nahm einen Schlüssel vom Haken. «Legen Sie dafür ein gutes Wort bei Mr. Gheorghe für mich ein, ja? Da ist es bestimmt lustiger als hier.»

Ich grinste. «Versprochen.»

 

Ich wusste nicht genau, was ich erwartete. Ich wusste nicht mal ganz genau, was ich verdammt noch mal hier machte. Wahrscheinlich war es einfach zweierlei. Considine schien

Letztlich fand ich jedoch absolut nichts. Das Zimmer war relativ sauber, wenn auch eher klein. Ein etwas ausgeblichener Teppich lag auf einem Parkettboden, der es dringend nötig hatte, abgeschliffen und neu lackiert zu werden. Der Geruch nach abgestandenem Zigarettenrauch hing in der Luft. Vermutlich zogen es die Hotelgäste hier vor, die Vorschriften zu missachten. Im Kleiderschrank war am üblichen Platz ein kleiner Safe eingebaut. Keine Zahlenkombination, nur ein einfacher Schlüssel. Einer, den man ziemlich leicht nachmachen lassen konnte. Was erklärte, warum mich immer wieder britische Gäste mit Geschichten über abhandengekommene Gegenstände aufsuchten.

Ich zog Schubladen auf, überprüfte den Papierkorb und sah sogar im Badezimmerschrank nach. Nichts. Aber was hatte ich auch erwartet? Ein beschriftetes Streichholzbriefchen? Eine Karte mit markierten Stellen? Dumme Idee. Ich ging wieder in die Lobby hinunter. Adrian war noch an der Rezeption. Ich gab ihm den Schlüssel zurück.

«Gefunden, wonach Sie gesucht haben?»

«Nein, nichts. Tut mir leid, ich habe Ihre Zeit verschwendet.»

Er schüttelte den Kopf. «Nein, haben Sie nicht. Wir haben zusammen ein Bier getrunken. Der Nachmittag war besser als die meisten hier.»

«Danke. Aber jetzt muss ich los. Mit Gheorghe rede ich, wie versprochen.» Als ich mich zum Gehen wandte, sah ich

Adrian lachte. «Nicht mehr, seit ich hier arbeite. Sogar in diesem Hotel haben inzwischen alle Zimmer Telefon. Das ist jetzt ein WLAN-Point. Bloß ein öffentlicher PC.» Das passte. Wozu Geld für ein hotelweites WLAN ausgeben, wenn sowieso fast jeder ein Smartphone besaß? Wollte man auf möglichst sparsame Weise ein Hotel führen, war das eine prima Lösung. Plötzlich kam mir ein Gedanke.

«Dürfte ich mal kurz einen Blick da reinwerfen?» Er nickte verdutzt. Ich ging in die Kabine und schloss die Tür hinter mir. Original Fünfzigerjahre-Geruch. Kein Telefon mehr, dafür ein Billig-Laptop, der mit einem Kabel an der Wand gesichert war. Ich tippte ein paarmal auf die Tastatur, bis der Bildschirm aufleuchtete, und öffnete den Browser. Dann klickte ich auf den Verlaufsbutton.

Beinah hätte ich laut losgelacht. Das Gerät war nicht darauf konfiguriert, den Verlauf zu löschen, wenn man den Browser schloss. Es war alles da, was in den letzten paar Tagen gesucht worden war. Ich scrollte mich durch. Hauptsächlich Nachrichtenseiten in verschiedenen Sprachen. Dann Francescos Name. Er hatte sich selbst gegoogelt. Er hatte sich tatsächlich selbst gegoogelt. Da war sein Times-Artikel, außerdem wurde sein Name – zusammen mit meinem – in einigen Nachrichtenmeldungen erwähnt. Das war alles. Bis auf – nein –, als ich noch mal nachsah, erkannte ich eine zehnminütige Lücke zwischen Francescos Suchanfrage und der des nächsten Benutzers, der sich die Seite einer bangladeschischen Zeitung angeschaut hatte. Und direkt nach Francescos Selbstrecherche kam die Adresse des Palazzo Papadopoli, eines der exklusivsten Hotels am Canal Grande, so

Francesco war also aus einer der billigsten Unterkünfte der Stadt, die sich immerhin noch durch das Wort Hotel im Namen auszeichnete, in eine der exklusivsten umgezogen. Vielleicht, dachte ich, gibt er das Geld aus, das er für seinen Artikel bekommen hat. Nein. Ich hatte zwar keine Vorstellung, wie viel The Times für einen unaufgefordert eingesandten Beitrag zahlte, aber ich war mir ziemlich sicher, dass man sich davon keine Nacht im Palazzo Papadopoli leisten konnte. Ja, wahrscheinlich reichte es noch nicht einmal für einen Spritz im Palazzo Papadopoli. Trotzdem interessant. Bedenkenswert.

Ich verließ die Kabine und lächelte meinen neuen Freund an. Dann legte ich ihm zwanzig Euro auf den Tresen und nickte ihm zu. «Trinken Sie noch ein Bier, geht auf mich», sagte ich.