«Kommst du mit ins Bett?», fragte Federica.

Ich ließ mich aufs Sofa fallen. «Noch nicht. Ich denke, ich bleibe noch einen Moment auf. Wieder einen klaren Kopf bekommen.»

«Gut. Soll ich dir Gesellschaft leisten?»

Damit hatte ich gerechnet. «Das wäre großartig. Ich hab Theater des Grauens mitgebracht. Ich dachte, den könnten wir noch mal zusammen anschauen.»

«Bist du wahnsinnig? Wie soll das denn deine Stimmung heben?»

«Glaub mir, das wird es.»

Sie schüttelte den Kopf. «Du bist wirklich verrückt. Es wundert dich sicher nicht, wenn ich darauf verzichte, mir den Film ein zweites Mal anzusehen?» Ich machte ein trauriges Gesicht. «Halt bloß die Türen geschlossen, ja? Ich habe keine Lust, von den ganzen Schreien geweckt zu werden.»

«Danke. Du hast nicht zufällig ein paar Zigaretten im Haus?»

Sie seufzte und griff in ihre Handtasche. «Bitte schön. Aber nicht hier drin.»

«Versprochen. Du bist ein Schatz.»

«Ich weiß.» Sie lächelte und gab mir einen Kuss auf den Kopf. «Geht’s dir besser?»

«Das wird schon wieder. Ich brauche nur noch einen Moment.»

Ich gab ihr eine halbe Stunde, dann tapste ich zur

Ich stieg die Treppe hinunter und durchquerte den Garten des condominio. Kaum war ich durchs Eingangstor, konnte ich schon die Umrisse der Insel in der Lagune erkennen. Eine klare, mondhelle Nacht. Ich lief weiter an der um diese Uhrzeit leeren Straße entlang. Je mehr sich meine Augen an das diffuse Licht gewöhnten, umso deutlicher wurden die Konturen der Insel. Plötzlich vernahm ich wie aus dem Nichts ein lautes Dröhnen und zwei Stimmen.

Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Zwei Jugendliche sausten lachend und schreiend auf einem motorino vorbei. Nach vorne gebeugt legte ich die Hände auf die Knie und atmete tief durch. Dann lächelte ich. Törichte Kids, die von einer mitternächtlichen Party zurückkamen. Und viel zu schnell fuhren. Hoffentlich schafften sie es heil nach Hause. Und hoffentlich hatte der Lärm Federica nicht geweckt.

Ich setzte meinen Weg fort und blickte eher in der Hoffnung als in der Erwartung, tatsächlich etwas zu sehen, hinaus auf die Insel. Hinter dem Lazzaretto erkannte man die Silhouette Venedigs im Mondlicht, eine Stadt aus Kuppeln und Turmspitzen. Stille nun, gelegentlich unterbrochen vom leisen Brummen des entfernten Straßenverkehrs. Draußen in der Lagune sah ich kleine Lichtpunkte, Zeichen des nächtlichen Wasserverkehrs.

Ich blieb stehen und blickte auf Lazzaretto Vecchio

Knirschend durchbrachen meine Schritte die Stille der Nacht, während ich über den Kiesstrand lief. Die Brücke war mit einem niedrigen Tor verschlossen. Ich versuchte es zu öffnen. Abgesperrt. Aber es war kein Problem, einfach darüberzuklettern.

Auf halbem Weg zur anderen Seite blieb ich stehen und sah zurück. Federica würde sich sorgen, wenn sie aufwachte und feststellte, dass ich weg war. Und wenn sie je herausfände, dass ich ihr einen Haufen Lügen aufgetischt hatte, käme ich in Teufels Küche. Diese ganze Aktion war also ziemlich idiotisch. Die Postkarte, davon war ich überzeugt, stammte von Francesco, der seine Psychospielchen mit mir trieb. Ich hatte ihn während unserer Unterhaltung am Tag zuvor wahrscheinlich sogar selbst auf den Gedanken gebracht. Das mit der Einladung war allerdings etwas anderes. Ich hatte Paul 150 Euro gegeben, woraufhin er verschwunden war. Was, wenn er wirklich irgendeine Dummheit gemacht hatte? Trug ich dann nicht die Verantwortung dafür? Es blieb mir wohl keine andere Wahl, als weiterzugehen.

Die Brücke führte auf einen schmalen Anleger, an dem die Boote der Tagesbesucher festmachen konnten. Danach lief ich über eine struppige Grasfläche, bis ich zu einem klapprigen Holzsteg kam, der durch eine Öffnung in der dicken Backsteinwand ins Lazzaretto selbst führte. Dort war es bedingt durch die rundum laufende Mauer plötzlich dunkler und stiller.

Ich war noch nie hier gewesen und versuchte, mich daran zu erinnern, was ich über diesen Ort wusste. Es war die

Ich befand mich in einem Innenhof. In der Mitte stand ein kleiner Marmorbrunnen, rechts von mir führte eine Treppe zu einem überdachten Vorbau hinauf, direkt vor mir lag der monumentale Haupteingang. In Stein gehauen standen der heilige Rochus und der heilige Sebastian zu beiden Seiten des heiligen Markus über einer Tür, die ins Dunkle führte. Wäre man in der Zeit der großen Pest hierhergebracht worden, wäre dies das Letzte gewesen, was man von der Welt draußen sah. Abbandonate ogni speranza, voi ch’entrate. Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.

Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gehen und wonach ich – wenn überhaupt – suchen sollte. Vielleicht würde ich mir von einer erhöhten Position aus ein besseres Bild von der Anlage machen können. Also stieg ich langsam die verwitterte, geländerlose Steintreppe hinauf. Der Eingang zu dem Vorbau war durch ein mit Vorhängeschloss gesichertes Gitter versperrt. Ich rüttelte daran, doch es bewegte sich nicht. Auch gut, wahrscheinlich war es aus Sicherheitsgründen verschlossen.

Ich drehte mich um. Und zuckte zusammen. Im Innenhof unter mir war plötzlich ein Schatten zu sehen. Direkt neben dem Eingang stand jemand. Beobachtete mich.

«Paul!?», gelang es mir zu rufen, obwohl mein Hals ganz trocken war.

So dicht wie möglich an die Wand gepresst, stieg ich vorsichtig die Treppe hinunter. Der Eingang zum Hauptgebäude stand offen. Im Inneren war nichts zu erkennen. Ich verfluchte mich selbst, weil ich nicht daran gedacht hatte, eine Taschenlampe mitzubringen. Besaß ich so was überhaupt? Die an meinem Handy würde reichen müssen. Langsam bewegte ich mich auf den Eingang zu. Plötzlich rutschte mir auf irgendetwas Glattem der Fuß weg, und als ich versuchte, das Gleichgewicht zu halten, verursachten meine Füße ein Knirschen auf dem Kies, das laut durch die Stille schallte. Ich richtete den Blick nach unten, um festzustellen, worauf ich ausgeglitten war. Eine schwarz glänzende Fläche reflektierte das schwache Licht meines Handys. Ich bückte mich, um näher hinzusehen. Obwohl die Tafel teilweise von Schmutz und Kies verdeckt wurde, konnte ich erkennen, dass ein Schriftzug darauf eingraviert war. Ich wischte den Schmutz weg, um ihn zu lesen.

Der Tod war hier.

Ich stolperte rückwärts. Ruhig, Nathan. Wahrscheinlich gehörte das Ding zur diesjährigen Biennale oder war ein Überbleibsel der letztjährigen. Vorsichtig setzte ich meinen Weg fort und blieb am Eingang stehen. Die Tür war offen, und seitlich daneben hatte man ein Hinweisschild mit der

Ich trat ein. Hohe Fenster in den Wänden ließen das Mondlicht hereinfallen, was mehr nutzte als die trübe Funzel an meinem Handy. Ich schaltete es aus, um den Akku zu schonen, und blieb stehen, damit meine Augen Zeit hatten, sich an das wenige natürliche Licht zu gewöhnen. Plötzlich standen mir sieben reglose Gestalten gegenüber. Erschrocken wich ich einen Schritt zurück. Die Gestalten imitierten meine Bewegung. Ich trat wieder nach vorn. Die sieben Gestalten machten dasselbe. Inzwischen konnte ich schärfer sehen und fing an zu lachen. Sieben Gestalten links von mir, sieben rechts. Die ganze Säulenhalle, in der ich mich befand, war voller Spiegel, wahrscheinlich Teile von Considines Ausstellung. Seven by Seven, natürlich.

Vorsichtig durchquerte ich die Halle. Am anderen Ende befand sich eine weitere Türöffnung, die dieses Mal in tiefste Dunkelheit führte. Ich trat hindurch, schaltete mein Handy wieder an und wartete erneut, bis sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.

Die Handytaschenlampe half nur mäßig, und ich blieb alle paar Meter stehen, um den Boden nach Hindernissen abzusuchen. Ich drehte mich um. Der Durchgang zu der vom Mondlicht erhellten Haupthalle war noch zu sehen. Gut. Solange ich den noch erkannte, würde ich auch wieder hinausfinden. Ich bewegte mich weiter in die Dunkelheit hinein; zehn oder zwanzig Meter vielleicht.

Kein Laut mehr zu hören. «Paul!», rief ich. Das Echo,

Stille. Absolute Stille. Ich schloss fest die Augen, hoffte, wenn ich sie wieder öffnete, läge ich zu Hause in meinem Bett. Dann schlug ich sie wieder auf. Beinah völlige Dunkelheit. Ich richtete mein Handy auf den Boden, ging noch ein paar Meter weiter, schwenkte das Licht nach rechts und anschließend nach links. Da war etwas an der Wand. Etwas Rotes. Ich ging ein bisschen näher heran. Schrift. Arabisch vielleicht, ich war mir nicht ganz sicher. Ich ließ das Licht weiter über die Wand gleiten. Das Bildnis einer Gestalt. In den Stein geritzt. Ein Engel. Vor Hunderten von Jahren von einem der unglückseligen Bewohner dorthin gekratzt.

Wieder bewegte ich mich vorwärts. Fand weitere Schriftfragmente, einige davon lesbar. Bloß Namen, von Menschen und Schiffen und Städten, das Werk gelangweilter Matrosen in Quarantäne, die irgendein Zeichen hinterlassen wollten, dass sie hier gewesen waren. Sie mussten älter als der Engel sein, stammten wahrscheinlich aus der Zeit, als die Insel nur eine Quarantänestation gewesen war und kein Ort für die Sterbenden.

Und dann folgte etwas Abstrakteres. Rot, wie die anderen Überreste, eine lange rote Jackson-Pollock-artige Farblinie. Ich folgte dem Bogen mit der Taschenlampe, bis er in einen größeren Farbfleck überging. Rothko jetzt, nicht mehr Pollock. Und als ich den Lichtstrahl anschließend nach unten führte, erkannte ich einen dunklen Umriss auf dem Boden. Die Behelfstaschenlampe vor mir ausgestreckt, näherte ich mich langsam. Bis das Licht auf das blutüberströmte Gesicht Francesco Nicolodis traf, die Augen weit aufgerissen und das Antlitz zu einem schrecklichen Grinsen verzogen.