Ich habe bei den ersten Männergesprächen noch versucht, ein männliches Äquivalent zur Quotenfrau zu finden, es dann aber aufgegeben und nur noch danach gefragt, ob sich die erfolgreichen Männer in ihren Erfolgsrollen ernst genommen fühlten. Ähnlich exemplarische Antworten wie Kaeser geben dabei Holger Friedrich und Waldemar Zeiler. Friedrich bezieht sich auf die Verlagsbranche und seine Rolle als Neuling darin: »Die Frage ist nicht abschließend zu beantworten.« An dem Tag, an dem die Friedrichs den Kauf des Berliner Verlages publizierten, so erzählt er, fand auch die Jahrestagung des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger statt, »ironischerweise im E-Werk, also in unserem Wohnzimmer. Dort erklärte der Präsident in seiner Keynote auf offener Bühne, dass mit unserem Engagement ein Fehler im System offensichtlich würde. Damit war vieles gesagt und eine Richtung vorgegeben.«
Doch für seine Leistung innerhalb dieses Systems und dieses Klimas zieht Friedrich im Mai 2020 eine positive Bilanz: »Wir haben seitdem jeden Tag Zeitungen veröffentlicht. Alles, was wir uns vorgenommen hatten, haben wir geschafft, obwohl ein technischer Dienstleister wegrannte und Corona zu überstehen war. Wir gehen respektvoll und professionell miteinander um. Den Rest wird die Zeit zeigen.«
Ob er sich als Exot fühle? »Das ist eine lustige Frage«, sagt Waldemar Zeiler, aber er findet die Rolle des Exoten für sich und sein Unternehmen einhorn durchaus passend, »weil wir auch versuchen, rauszufallen und zu provozieren«. Tatsächlich hätte er anfangs in Gründerszene und Mittelstand deutlich mehr Gegenwind und Spott erwartet, doch einhorn wurde schlicht ziemlich schnell ziemlich erfolgreich. »Die meisten Leute messen das ja so: Wenn es dann erfolgreich ist, dann ist es cool. Wenn wir nach zwei Jahren pleite gewesen wären, hätten sich sicher viele darüber lustig gemacht.« Damit sprechen Kaeser, Friedrich und Zeiler im Grunde für alle: Wenn mich jemand nicht ernst nimmt, dann ist das erst einmal nicht mein Problem. Reingehen, liefern, Erfolge für sich sprechen lassen.
Auch Gregor Gysi ist da keine Ausnahme, doch bei ihm sehe ich auch die Gelegenheit, nach einer Quotenrolle zu fragen. Der 1948 in Berlin-Lichtenberg geborene Gysi studiert nach Abitur und Rinderzuchtlehre Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität, der größten Universität der DDR. »Meine Mutter war Verlegerin und arbeitete dann im Kulturministerium, zuständig für internationale Beziehungen. Mein Vater war Verleger, dann Kulturminister, dann Botschafter, dann Staatssekretär für Kirchenfragen. Und für mich war völlig klar, dass ich in der DDR auf gar keinen Fall in die Politik gehe. Sie hatten mir mal vorgeschlagen, Schauspieler zu werden, und so oppositionell war ich schon gegenüber meinen Eltern, dass das damit schon ausgeschlossen war.« Er wird Anwalt und SED-Mitglied, 20 Jahre später eine prominente Stimme in der Wendezeit und im Dezember Vorsitzender der SED-PDS. Den politischen Widersprüchen und der Dialektik der Person Gysi kann eine Kurzbiographie unmöglich gerecht werden, deshalb versuche ich es an dieser Stelle gar nicht erst. Gysi ist eloquent und rhetorisch versiert, es ist selbst dann eine Freude, ihm zuzuhören, wenn man nicht mit ihm übereinstimmt.
Er ist außerdem Vater dreier Kinder, sein ältester Sohn ist sein 1964 geborener Adoptivsohn, seine jüngste Tochter wurde 1996 geboren, zwischenzeitlich war Gysi alleinerziehender Vater in der DDR. »Das war damals eine Rarität.« In seiner Vaterrolle hätte er sich zugleich privilegiert und nicht ernst genommen gefühlt. Im beruflichen Kontext wurden seine Vaterpflichten mitunter ignoriert, im privaten Umfeld wurde ihm sehr viel mehr Hilfe angeboten als alleinerziehenden Müttern. Das ist rund 50 Jahre her und passt doch immer noch ins Bild.
1990 wird Gysi als Vorsitzender der PDS in den ersten gesamtdeutschen Bundestag gewählt, der damals noch in Bonn tagt. Er sieht sich in der Opposition einer Regierung gegenüber, die ihre ostdeutschen Minister zunächst hauptsächlich als »Minister für besondere Aufgaben« besetzt, die den Vollzug der Wiedervereinigung begleiten sollen. Mit der Uckermärkerin Angela Merkel als Ministerin für Frauen und Jugend gibt es zwar eine bemerkenswerte Ausnahme, doch der Spott gegenüber den anderen ostdeutschen Ministern als »Minister ohne Aufgaben« ist sicher ein Symptom für die Attitüden dieser Zeit.
Danach gefragt, wie ernst und wie sehr als Quotenossi wahrgenommen er sich fühlte, erinnert sich Gysi tatsächlich daran, sich anfangs sehr fremd und ausgeschlossen gefühlt zu haben. Doch viele Gespräche und Erlebnisse hätten ihm seinen Irrtum offenbart: Das Gefühl der Unsicherheit war gegenseitig. Auch die westdeutschen Politiker trugen diesen Mix aus Skepsis, Minderwertigkeitskomplexen und dem Wunsch nach Anerkennung und Gemeinschaft in sich. Diese Erkenntnis habe ihm vieles einfacher gemacht.
»Fühlen Sie sich als Exotin?«, fragt mich das Handelsblatt. »Fühlen Sie sich als Exot?«, frage ich Gregor Gysi. »Exotisch wäre übertrieben«, sagt er und formuliert dennoch Alleinstellungsmerkmale für sich: »Ich bin selbstironisch. Und das sind nur wenige. Überhaupt das Ernsthafte, was ich ja betreibe, durchaus mit Humor zu mischen, liegt mir.«
Die Vielfalt der Antworten auf die Frage nach dem Exotengefühl überrascht mich. Nur wenige verneinen das Gefühl rundheraus. Heiko Maas und Bausa gehören dazu, Ole von Beust muss lachen: »Witzige Frage, ehrlich gesagt. Wer ist schon Exot? Jeder ist doch, wie er ist, mit allen Ecken und Kanten und Unterschiedlichkeiten. Ich habe bislang wenig Exoten kennengelernt.« Und Joe Kaeser wird ein bisschen spitzfindig: »Nein. Und wenn schon, dann würde es mir auch nichts ausmachen. Sie haben es ja vorhin selbst gesagt: Als alter weißer Mann mit grauen Schläfen bin ich doch nicht exotisch, oder?« Tatsächlich war das auch mein Gedanke, aber irgendwie überrascht doch jeder mit Eigenschaften oder Umständen, die ihn in seinen Augen zum Exoten machen.
Frater Rafael hebt sich durch seine Karrierewahl, aber auch schon optisch durch seine Kleidung ab: »Natürlich. Gerade wenn ich in Berlin unterwegs bin, ist das was sehr Exotisches. Ich würde aber nicht sagen, dass ich mich da unwohl fühle. Ich will auch niemanden schockieren oder so. Es ist einfach ein Zeichen, dass Gott mit uns Menschen unterwegs ist. Und es ist auch ein Angebot, gerade für Menschen, die vielleicht in seelischer Not sind, die einen Gesprächspartner brauchen, dass man ansprechbar ist. Es entstehen Gespräche. Und das sind eigentlich immer gute Gespräche. Die meisten Reaktionen sind eigentlich recht positiv: Toll, dass ihr in der Gesellschaft sichtbar seid.«
Friedrich Kautz macht seinen Exotenstatus an bestimmten privaten Verbindungen fest, die ihm fehlen, die er jedoch in homogeneren Freundeskreisen vermutet: »Ich beneide manchmal Leute, die sagen können: ›Ich bin Anwalt, und alle meine Freunde sind auch Anwälte. Und wir haben alle eine ähnliche Laufbahn, haben alle etwa im gleichen Alter studiert, haben alle Kinder. Wir haben alle ein ähnliches Haus, fahren alle einen ähnlichen Wagen, und wir sind alle so ähnlich in überhaupt allem.‹ – Das kann ich von mir in der Musikszene, speziell der Hip-Hop-Szene, nicht behaupten. Da gibt es jetzt nicht ein Dutzend Kolleg*innen, die so ähnlich sind wie ich.« Auch Jean-Remy von Matt fühlt sich im privaten Umfeld irgendwie exotisch, doch »auch in meinem beruflichen Umfeld fühle ich mich als Exot – aber hauptsächlich aufgrund meines Alters«. Bei Peter Wittkamp ist es nicht das Alter, sondern die schon erwähnte Vielfalt in seiner Karriere, die ihm das Gefühl gibt, nirgendwo so richtig dazuzugehören.
Jörg Eigendorf flötet erst kokett: »Nein, ich passe mich auch an.« Doch ein gewisser Exotenstatus gehört eben auch dazu: »Man wird in einem Unternehmen wie der Deutschen Bank relativ wenig erreichen, wenn man sich absolut anpasst, zumindest in dieser Rolle.« Dazu passt auch Eigendorfs Antwort zur Frage des Ernstgenommenwerdens: »Wie sagte mir John Cryan mal, mein erster Chef? ›You’re really different.‹ Ich gehe Sachen eben anders an.«
Christian Rach verneint zwar das Exotengefühl, sagt aber auch: »Als gebürtiger Saarländer in Hamburg ist man sicher ein Exot.« Helmut Thoma dreht diesen Gedanken noch etwas weiter: »Als Wiener in Deutschland im Rahmen einer französischen Staatsfirma für einen Sender tätig sein, das war Anfang der siebziger Jahre schon der erste Schritt in die Globalisierung, das war schon sehr exotisch. Aber man gewöhnt sich an alles, man gewöhnt sich auch als Exot und an Exoten. Wenn’s gut läuft, ist alles in Ordnung.«