Ohne dass ich die Gespräche bewusst dahin lenke, komme ich sowohl mit Gregor Gysi als auch mit Frank-Peter Weiß auf das Frauenbild und den Stand der Gleichberechtigung in der DDR zu sprechen. Schon 1949 hieß es schließlich in der Verfassung des sozialistischen Nachkriegsstaates: »Mann und Frau sind gleichberechtigt. Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufgehoben.« Die wirtschaftliche Lage und die demographische Situation des Landes machten die Arbeitskraft der Frauen zu einer unverzichtbaren Ressource. Gekoppelt mit den protofeministischen Idealen der Arbeiterbewegung und einem Menschenbild, das die Berufs- bzw. Werktätigkeit als ein menschliches Grundbedürfnis verstand, wurden Emanzipation und Gleichberechtigung von oben verordnet. Gesetze zum Mutter- und Kinderschutz und ein breites Angebot der Kinderbetreuung sollten auch hier die Vereinbarkeit von Kind und Karriere sichern. Verglichen mit der Bundesrepublik, wo erst 1977 die Aufgabenteilung in der Familie nicht mehr gesetzlich vorgeschrieben war, scheint die DDR in der Frage der Geschlechtergleichheit enorm fortschrittlich gewesen zu sein.
»Aber was man sehen muss«, widerspricht Frank-Peter Weiß: »Das hat Riesenbelastungen für die Frauen gebracht, Beruf und Familie miteinander zu verbinden. Es wurde sehr viel verlangt von den Frauen.« Auch Gregor Gysi spricht von einer Doppelbelastung, »weil die Frauen Haushalt, Kinder und Beruf machten und die Männer erst zögerten«. Klassische Rollenklischees wurden nur so weit adressiert, wie sie der Sicherung von Arbeitskraft im Weg standen. Frauen blieben dennoch vor allem Mütter und Familienmanagerinnen, Führungspositionen in Wirtschaft und Politik blieben Männern vorbehalten.
Anna Kaminsky, Leiterin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, untersucht den Mythos einer feministischen Republik in ihrem Buch »Frauen in der DDR«. Das vermeintlich fortschrittliche Rollenbild des Staates umreißt sie so: »Die moderne Frau in der DDR sollte nicht nur voll berufstätig sein. Sie sollte sich auch ständig weiterbilden und in gesellschaftlichen Organisationen aktiv sein. Sie sollte den Haushalt meistern und eine gute Köchin sein. Ihren Kindern sollte sie eine liebevolle Mutter und ihrem Mann eine zwar beruflich gleichberechtigte, aber dennoch fürsorgliche Ehefrau sein.«[61]
Vielleicht kommt mir dieses Frauenbild nicht bis ins letzte problematische Detail bekannt vor. Aber wie weit sind wir in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts wirklich von dieser Idee der »modernen Frau« entfernt? »In der Berichterstattung über Frauen nimmt das Familienleben rund 2,5-mal so viel Raum ein wie bei Männern«, stellten die Autor*innen der Studie »Die Ausnahme, die Rabenmutter, die Kämpferin« fest.[62] Und auch wenn erfolgreiche Männer mit mir über Maßnahmen für eine verbesserte Vereinbarkeit sprechen, steht immer wieder die Frau als Mutter im Vordergrund: Stillzimmer, Spielzimmer, Mütterteilzeit, Home-Office. Doch eine Vereinbarkeitsdiskussion, die nicht auch mit ganzer Kraft Rollenklischees hinterfragt, wird am Ende in die gleiche Falle tappen wie der staatlich verordnete Feminismus der DDR.
Vereinbarkeit muss ein Thema für beide Geschlechter werden. Dafür schlug Jochen König in der ZEIT radikale Maßnahmen vor: »Wer Vollzeit arbeitet und nicht mindestens sieben Monate in Elternzeit geht, könnte beispielsweise grundsätzlich das Sorgerecht verlieren. Wer sich auf diese Weise unsolidarisch gegenüber dem anderen Elternteil und den eigenen Kindern verhält, hat nichts mitzuentscheiden. Vielleicht würde das etwas mehr Väter motivieren, in der Familie aktiver zu sein.«[63] Die Aufregung über diesen Lösungsvorschlag war erwartbar groß – so groß, dass kaum noch über das Problem dahinter diskutiert wurde. Aber warum arbeiten wir als Gesellschaft nicht viel stärker daran, mehr väterliches Engagement in der Familie zu fördern und zu fordern? Seit Jahren schrumpft in Deutschland der Abstand der Erwerbstätigenquote zwischen Männern und Frauen. Sollten wir nicht viel aktiver darum bemüht sein, das Rollenbild der weiblichen Hüterin und des männlichen Brötchenverdieners endlich abzuschaffen?
Wie stark dieses Rollenbild in den Köpfen ist, zeigen nicht zuletzt die schon erwähnten Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Elternzeitquote: Väter gehen deutlich seltener in Elternzeit als Mütter und nehmen dann meist auch nur die zwei sogenannten »Vätermonate«. Die oben zitierte Studie dazu[64] stellt fest, dass neben der Sorge um Karrieremöglichkeiten vor allem finanzielle Gründe die Elternambitionen der Väter bremsen: Sie verdienen meist mehr als die Frau. Mich fasziniert, wie beiläufig diese Begründung oft akzeptiert wird – als wäre es selbstverständlich, dass Männer nun einmal mehr verdienen. Den Gender Pay Gap – die Differenz des durchschnittlichen Bruttostundenverdienstes von Frauen und Männern für die gleiche Arbeit – bezifferte das statistische Bundesamt 2017 mit 21 %.[65] Ein Fünftel weniger Lohn – das ist die Position, von der aus Mütter und Väter den ökonomischen Wert der jeweiligen Elternzeit bewerten und verhandeln. Selbst wenn man in diesen unbereinigten Gender Pay Gap strukturelle Faktoren und Voraussetzungen wie Ausbildungsgrade, Qualifikationen, Branchen, individuelle Arbeitserfahrung mit einberechnet, als hätten die nichts mit dem Geschlecht zu tun, ist der bereinigte Gender Pay Gap mit bis zu 7 % noch immer statistisch und für die Familie relevant.
Dabei stehen der geringere Lohn der Frauen und ihre gesellschaftlich festgeschriebene Mutterrolle in direktem Zusammenhang. 2001 hielt die Hans-Böckler-Stiftung in ihrem »Bericht zur Berufs- und Einkommenssituation von Frauen und Männern« fest: »Zuständigkeit für die Familienarbeit und tendenziell schlechtere Positionen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt sowie eingeschränkte berufliche Entwicklungsmöglichkeiten und Verdienstchancen bedingen und verstärken sich wechselseitig. Im innerfamiliären Aushandlungsprozess spielen der geringere Beitrag zum Haushaltseinkommen sowie die eingeschränkten beruflichen Karrieremöglichkeiten von Frauen eine zentrale Rolle.«[66]
Um diese wechselseitige Verstärkung zu durchbrechen, gibt Waldemar Zeilers Start-up einhorn seinen Mitarbeiter*innen pro Kind 400 Euro Gehaltszuschlag. Die Motivation liegt dabei auch in einer generell transparenten Gehaltsgestaltung, doch für Zeiler stellt sich hier darüber hinaus eine grundsätzliche unternehmerische Frage: »Wir haben hauptsächlich Frauen im Team. Normalerweise, wenn man ein Kind bekommt, wird daheim verglichen: Wie viel verdient jeder? Und da zieht meistens die Frau den Kürzeren. Und dieses Spiel wollen wir als Arbeitgeber nicht verlieren. Unsere Frauen sind superwichtig für uns.« Erwähnens- und lobenswert ist dieses Vorgehen als einer von vielen möglichen Lösungsansätzen für das Problem, vor allem als Zeichen dafür, dass das Problem erkannt und auch als geschäftliche Herausforderung behandelt wird. Egal, wie Unternehmer*innen grundsätzlich zu Gender Pay Gap, Geschlechterrollen, Vereinbarkeit stehen: Der bereitwillige Verzicht auf Frauen im Beruf, der Verzicht auf die Hälfte einer potenziell exzellenten Belegschaft ist doch keine rationale Business-Entscheidung!
Ich wünsche mir für diese Gesellschaft einen grundsätzlich anderen Blick auf Familie, Erziehung und Aufgabenverteilung. Ich wünsche mir eine offene Diskussion und Maßnahmen, die unser Familienbild in ein neues Jahrtausend holen: Maßnahmen, die Väter stärker in die Pflicht nehmen und die Selbstverständlichkeit weiblicher Care-Arbeit aufheben. Das könnten Bonuszahlungen und Auszeitverpflichtungen auf unternehmerischer Ebene sein, das Knüpfen staatlicher Zuschüsse an familiäre Bedingungen oder die stärkere Berücksichtigung alternativer Familienmodelle.
Vor allem Letzteres ist mir wichtig, denn mir ist sehr bewusst, aus welcher Position heraus ich argumentiere. Allein das Familienmodell, in dem ich lebe, steht in einer Vater-Mutter-Kind-Tradition, die längst nicht mehr selbstverständlich ist. In Deutschland gibt es rund 2,6 Millionen Alleinerziehende, davon rund 2,2 Millionen Mütter. Darüber hinaus und eng damit verbunden leben viele Kinder und Familien in verschiedensten Patchwork-Modellen. Diese Situation widerspricht meinen Forderungen und Vorstellungen für das »traditionelle Familienmodell« jedoch nicht, sie erhöht im Gegenteil den Druck: Wir brauchen vielfältige Lösungsansätze für vielfältige Lebensmodelle und ein grundsätzlich neues Denken für grundsätzlich neue Zeiten.
Da ich mit alternativen Familienmodellen nun schon einen Punkt angesprochen habe, dem ich in diesem Buch weit weniger Raum gebe, als er verdient, möchte ich darauf und auf weitere Punkte gern etwas genauer eingehen.