Ich habe das Gefühl, dass Thoma es sich mit den Heiligen und der Wahlfreiheit etwas zu einfach macht. Ja, es ist sicher völlig korrekt, dass sich jeder sein Vorbild selbst aussuchen kann. Aber letztlich orientiert man sich doch an dem, was da ist, was vorgelebt wird, was in den Medien, in der Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft stattfindet und sichtbar ist. Vielleicht ist die Frage nach der Vorbildfunktion einfach ein bisschen zu groß und abstrakt. Vielleicht sollten wir konkreter werden. »Suchen junge Frauen aktiv Ihren Rat?«, fragte mich im Sommer 2019 der PR-Report.[13] Ich bejahte und sprach kurz über Mentorenprogramme, Coachings und praktische Erfahrungen. »Haben Sie einen Tipp für junge Frauen, die genauso weit kommen möchten wie Sie?«, fragte mich die WirtschaftsWoche im Frühling 2017.[14] Ich sprach von einer gewissen Leichtigkeit und einem positiven Blick auf die Welt. Was antworten Männer, wenn man ihnen diese Fragen stellt? Was für Tipps geben sie jungen Männern, die aktiv ihren Rat suchen?
Friedrich Kautz alias Prinz Pi sitzt auf einem Parkplatz in Berlin und spricht via iPhone mit mir. Er trägt Basecap, Bart und Brille, eine zusätzliche Sonnenbrille hängt im Ausschnitt seines Pullovers. Es ist bewölkt, und er ist eigentlich mit seiner schwangeren Frau verabredet, um die Erstausstattung für den kommenden Nachwuchs zu kaufen. Seine Frau geht nun allein los, er nimmt sich Zeit für mich. In meinem Hinterkopf formt sich ein Kommentar zu Geschlechterrollen und Verantwortung, aber am Ende bin ich ja diejenige, die ihn hier festhält, und ich bin ihm für seine Zeit auch sehr dankbar. Also: Suchen denn junge Männer aktiv seinen Rat? Seine Antwort überrascht mich in ihrer Eindeutigkeit, ihrer Ausführlichkeit und mit ihrem klaren Geschlechterbezug: »Tatsächlich öfter, ja. Ich habe mich oft gefragt, warum das so ist. Vielleicht liegt es daran, dass es einen Bruch mit der Vatergeneration gab: Die Generation meines Vaters hat noch Krieg, Hunger und das Wirtschaftswunder miterlebt – eine Zeit der ganz klaren, binären Weltsichten: West gegen Ost zum Beispiel. In der heutigen Zeit gibt es viel mehr Zwischentöne, andere Probleme und damit neue Fragen. Die Welt ist komplizierter geworden. Dogmen wurden aufgebrochen, tradierte Werte entwertet. Viele junge Männer, sogar noch Männer in meinem Alter – ich bin gerade 40 geworden –, finden kaum ältere Leute, von denen sie sich Rat holen können. Weil der Gap so groß ist. Darum gibt es einen großen Bedarf an Vaterfiguren, die einerseits gesetzter sind als die aktuelle Generation, aber die Bindung zu ihr nicht verloren haben. Jedenfalls erkläre ich es mir so.«
Friedrich Kautz wird 1979 geboren und wächst in Berlin-Zehlendorf auf. Die Geschichte seiner Eltern ist von Flucht, Vertreibung und Mittellosigkeit geprägt, der Beamtenstatus des Vaters verhilft der Familie jedoch zu einem Haus in einem gehobenen Teil Berlins. Als Prinz Porno wird Kautz um die Jahrtausendwende ein bekannter Teil der Berliner Rapszene, als Prinz Pi ist er seit 2006 erfolgreicher Teil der deutschen Poplandschaft, chartplatziert und preisgekrönt. Er schreibt Lieder über die Liebe, über das Leben, über den Schmerz, immer wieder gebrochen durch klassische Hip-Hop-Posen. Er ist studierter Kommunikationsdesigner und auch als Designer tätig, schreibt Texte für andere Künstler*innen, hat ein eigenes Label und eine eigene Fashionmarke gegründet. Er ist Vater zweier Kinder aus zwei vergangenen Beziehungen und zum Zeitpunkt des Gesprächs eben nicht am Kauf der Erstausstattung für sein drittes Kind beteiligt. Er ist vielseitig interessiert – Musik, Mode, Kunst, Geschichte, Philosophie, Technik, Lifestyle – und bei öffentlichen Auftritten auch darauf bedacht, das zu zeigen. Ich frage ihn, welchen Rat die jungen Männer denn bei ihm suchen.
»Wie schafft man es, eine Beziehung als Selbständiger zu erhalten, sie durch Krisen zu tragen? Wie schafft man es, sich in der Vaterrolle zurechtzufinden, wenn der Job nie aufhört und nicht zwischen 9 und 17 Uhr stattfindet? Viele fragen auch ganz einfache Sachen: Welche Krawatte trägt man zu welchem Anzug? Welche Lederschuhe zu welchem Anlass? Dann sind für viele Leute im Alter zwischen 20 und 40 bestimmte materielle Anschaffungen mit Symbolcharakter wichtig: Was sollte ich mir für eine Uhr kaufen, um mich selber damit für eine Zäsur im Lebenslauf zu belohnen? Oder was für ein Auto, um zu zeigen, wo ich beruflich, aber auch von meiner privaten Einstellung her stehe? Wie kann ich mein Geld da möglichst wertstabil anlegen und es schaffen, meinen persönlichen Stil am passendsten in diesen Produkten auszudrücken? Viele fragen mich auch zu Wohnungseinrichtungen, solche Sachen.« Kautz zieht den Mund in die Breite und die Augenbrauen nach oben, als würde er sich für die Vielfalt dieser Fragen entschuldigen wollen, als könne er sich das auch nicht erklären. Mich wiederum überrascht dieser Fragenkatalog tatsächlich so sehr, dass mir die naheliegende Nachfrage schlicht nicht einfällt: Warum glaubst du dennoch, kein Vorbild sein zu können?
Auch Holger Friedrich, der sich zur Vorbildrolle eigentlich fehlende Smartness attestiert, bejaht die Frage nach den ratsuchenden jungen Männern. Anders als Kautz sieht er seine Funktion eher praktisch: »Es gibt Menschen, die gerne mit mir zusammenarbeiten, weil man in meiner Nähe viel lernen kann. Ist das im Sinne von Mentorship zu verstehen? Miteinander reden bei einem gepflegten Essen und ich erklär dir mal was? Eher nicht. Das ist experience-based, im täglichen Tun zu schauen, wie etwas erreicht werden kann.« Er ergänzt: »Ich hätte mir in meiner beruflichen Karriere ab und an gewünscht, dass mich jemand beiseitegenommen und mir diese Zusammenhänge früher erklärt hätte. Die Höhe und Häufigkeit der Seminargebühr wäre geringer gewesen.«
Also der eine ein Ratgeber in allen Lebenslagen, der andere ein Wissensvermittler im praktischen Alltag, der sich einen Ratgeber wie sich selbst in seiner eigenen Karriere gewünscht hätte – aber beide sehen sich eher nicht als Vorbild. Tatsächlich ist dies ein Widerspruch, der mir in vielen Gesprächen begegnet: einerseits das Zögern und Relativieren, wenn es um die eigene Vorbildfunktion geht, andererseits doch ein gewisser Stolz darauf, von jungen Männern und Menschen allgemein angesprochen zu werden und ihnen auch etwas mitgeben zu können. Das muss gar nicht unbedingt der Einmal-alles-Katalog eines Prinz Pi oder die praxisnahe On-the-Job-Erfahrung eines Holger Friedrich sein. Auch kleine Tipps sind wichtig: »Immer einmal mehr aufstehen als hinfallen!« (Investor Frank Thelen); »Wenn du eine Chance hast, dann nutze sie« (Dr. Helmut Thoma); »Am Ende geht es immer um Durchhaltevermögen, ums An-sich-Glauben, sich Finden und viel Arbeit« (Axel Bosse); »Konsistenz, Fokussierung, Dranbleiben!« (Werbelegende Jean-Remy von Matt); »Niederlagen gehören dazu« (Sternekoch und Ratgeber Christian Rach) – Ratgeberklassiker eben, freundliche Allgemeinplätze. Das meine ich gar nicht despektierlich. Selbst Binsenweisheiten, selbst naheliegende Tipps können Wunder bewirken, wenn sie vom richtigen Menschen im richtigen Moment kommen.
Auch ein bisschen Desillusionierung kann hilfreich sein: »Es gibt so etwas, das hat so diesen Bewunderungscharakter: Wie kann man das schaffen und was hast du gemacht, und gib mir mal die zehn wichtigsten Punkte, die ich dafür berücksichtigen muss. Denen erzähle ich dann zu ihrer Enttäuschung immer, dass Politik als Karriere heute nicht mehr planbar ist. Es gab in meiner politischen Laufbahn so viele zufällige Momente, knappe Wahlergebnisse, die in guten oder schlechten Zeiten stattgefunden haben, wo man eigentlich selbst gar keinen richtigen Beitrag dazu leisten konnte, ob es gut oder schlecht ausgeht. Momente, in denen es auch Angebote gegeben hat und in denen ich relativ schnell entscheiden musste, ob ich das will oder nicht. Politische Karrieren heute noch zu planen, das halte ich für einen großen Irrglauben.« Es macht einen Unterschied, ob man solche Einschätzungen in der BIZ-Berufsberatung bekommt oder wie in diesem Fall von Bundesaußenminister Heiko Maas.
Bei so viel Bereitschaft, sein Wissen zu teilen, und so viel Zaudern, wenn es darum geht, bewusst und aktiv Vorbild zu sein, wächst in mir die Vermutung, dass sich hier eine gewisse Scheu vor Verantwortung als charmante Bescheidenheit tarnt. Tipps geben, gefragt werden, zum Nacheifern anregen: gern. Explizit Vorbild sein: eher schwierig. Denn das würde vielleicht auch bedeuten, sein eigenes Verhalten und die eigene Strahlkraft nach außen stärker reflektieren zu müssen. Wenn Fynn Kliemann erzählt, dass es Leute gibt, »die aus ihrem Alltagstrott rauswollen und keinen Bock mehr haben auf diese Monotonie in ihrer Wohnung, in der Kleinstadt, in Neukölln, im Job, der seit Ewigkeiten langweilig ist«, und die ihn fragen: »Wie komme ich hier raus? Was kann ich machen?«, dann sind das große Fragen an einen jungen Mann, dem bewusst ist, dass er oft situativ, impulsgetrieben und – seine Worte – dumm handelt. Auch Gregor Gysi spricht diesen Zwiespalt an: »Mich fragen vor allen Dingen Schüler: Wie kann man in der Politik wirksam werden? Welchen Weg muss ich beschreiten? Oder: Würden Sie mir raten, dies oder das zu studieren? Das ist auf der einen Seite ganz nett. Auf der anderen Seite habe ich auch immer ein ungutes Gefühl, wenn ich Ratschläge gebe. Ich mische mich ja ein bisschen in ein Leben ein, ohne es zu kennen.«
Aber ist Letzteres, bei aller zu attestierenden ehrenvollen Bescheidenheit, nicht Teil seiner Stellenbeschreibung? Die Verantwortung klopft doch nicht erst an, wenn jemand eine konkrete Frage stellt und einen konkreten Rat sucht. Gerade als Spitzenpolitiker*in ist man doch mehr oder weniger die ganze Zeit dabei, die Rahmenbedingungen für eine Menge Leben mitzugestalten, über die man wenig weiß. Und präsent in seinem Tun, Denken und Handeln ist man obendrein: Ich bin die und der, ich tue dies und dies, ich denke so und so. Ich habe nicht das Gefühl, mich zu weit aus dem Fenster zu lehnen, wenn ich behaupte, dass das für prominente und erfolgreiche Künstler, Medienschaffende, CEOs und Führungskräfte – also kurz: erfolgreiche Männer – generell gilt. Offenbar gibt es aber doch etwas, was in den Augen vieler erfolgreicher Männer die Mentorenschaft von der Vorbildrolle unterscheidet. »Um ein Vorbild für andere zu sein, muss man eigentlich auch den Schiller-Faktor haben, den Glamour-Faktor«, sagt der Physikprofessor Frank-Peter Weiß, und der ehemalige Berliner Lokalpolitiker und Behördenleiter Jürgen Bornschein spricht von einem »göttlichen Schein«, den ein Vorbild bräuchte und der ihm fehle: »Dafür bin ich nicht der richtige Typ.«
Nun habe auch ich bislang an mir nur gelegentlich Glamour und praktisch nie einen göttlichen Schein bemerkt. Bin ich es, die einfach zu anmaßend an diese ganze Vorbildidee herangeht? Oder gibt es tatsächlich einen Unterschied zwischen »Vorbild für Frauen sein« und »Vorbild für Männer sein«, weil es an männlichen Vorbildern – auch wenn sie selbst sich diese Rolle vielleicht absprechen – keinen Mangel gibt? »Es braucht noch viel mehr weibliche Vorbilder, die zeigen, wie es geht, und zu denen junge Frauen aufblicken können«, schreibt mir der Investor Frank Thelen. Auf der anderen Seite meint der Gründer des Kondom-und-Periodenprodukte-Start-ups einhorn, Waldemar Zeiler: »Es fehlen wirklich gute männliche Vorbilder. Es fehlen Männer, die ihre Macht dafür nutzen, gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben.«
Vielleicht liegt darin der Schlüssel: Es fehlt an Vorbildern, männlich wie weiblich, für eine grundlegende Veränderung. Zu dieser Annahme passt die Art von Ratschlägen und Mentorship, die die von mir befragten Männer gern anbieten: Es sind meist Tipps für den Umgang mit und für den Erfolg in der gegebenen Gesamtsituation. Dabei ist es die Komponente der Veränderung, des Etwas-anders-Machens oder Andersseins, die ein Vorbild explizit zu einem Vorbild macht – im Gegensatz zu einem Mentor oder Tippgeber. Deshalb sprechen Journalist*innen mit mir regelmäßig über meine Vorbildrolle, mit erfolgreichen Männern eher selten.
Das ist erst einmal nur eine Vermutung, ich will noch gar nicht ausschließen, dass ich da zu viel hineininterpretiere. Wenn man erst einmal meint, ein Muster erkannt zu haben, neigt man schließlich durchaus dazu, es überall bestätigt zu sehen. Auffällig ist aber in jedem Fall, dass vielen meiner Gesprächspartner die Routine damit und das Bewusstsein dafür fehlen, dass ihre Vorbildrolle ein Thema sein könnte. Und das wiederum könnte ein Grund dafür sein, dass fast alle die Frage »Können Sie ein Vorbild sein?« zu beantworten versuchten, sich aber nur wenige so deutlich auf den Zusatz »für andere Männer« beziehen wie die vielseitige Vaterfigur Prinz Pi, der vom Männerfokus der Fragen milde genervte Fynn Kliemann und auch Axel Bosse, der die Fragestellung ausdrücklich zum Thema macht. »Mir wurde noch nie die Frage gestellt: Gibt es Männer, für die du Vorbild bist? Das ist eigentlich eine Frage für die GQ. Oder die Men’s Health vielleicht«, überlegt er am Ende unseres Gespräches. »Aber selbst die hätten anders gefragt. Die hätten gefragt: ›Hast du eine Vorbildfunktion für Musikerinnen und Musiker?‹ Du wirst aber gefragt, ob dich Frauen ansprechen, die vielleicht auch dasselbe schaffen wollen. Da ist ein großer Unterschied.«