Beim Mittagessen am nächsten Tag konnte ich noch immer keine Seelen sehen. Aber während ich in der Stunde davor so getan hatte, als würde ich dem Englischunterricht folgen, der sich mit den Konsequenzen unbekümmerter Liebe in Romeo und Julia befasste, war mir eine Idee gekommen.
Seit Tagen hatte ich keinen Dämon mehr gesehen, und vielleicht war bei ihnen ja auch auf einmal irgendetwas anders. Das ergab einen Sinn. Zumindest halbwegs. Wenn den Menschen plötzlich die Seele fehlte, könnte ich womöglich bei den Dämonen auch eine Veränderung feststellen. Immerhin hatten die gar keine Seele.
Während Stacey die Brokkoliröschen auf ihrem Teller zu einem dämlich grinsenden Smiley anordnete, schickte ich Nicolai eine SMS, dass er mich später am Dupont Circle abholen sollte. Er würde die SMS lesen, sobald er wach war, und sich nichts dabei denken, da er keine Ahnung hatte, was mit mir los war. Zayne war ein anderes Thema, aber ihm würde ich alles sagen, sobald ich wieder zu Hause war.
„Heute nichts Aufregendes im Biounterricht?“, fragte Sam und spießte seinen Brokkoli mit der Plastikgabel auf.
Stacey schüttelte den Kopf. „Nö. Aber Mrs Cleo war heute auch nicht da.“
„Die arme Frau hat bestimmt der Schlag getroffen.“ Ich schob mein Gemüse auf dem Teller um das rätselhafte Stück Fleisch herum. „Wir hatten heute eine Vertretung. Einen Mr Tucker.“
Stacey grinste mich an. „Ein heißer, junger Typ.“
„Echt?“, fragte Sam, aber bevor sie etwas sagen konnte, beugte er sich über den Tisch und strich mit dem Daumen über ihre Wange.
Stacey rührte sich nicht, und ich saß wie erstarrt da.
Sam grinste, während er das Spielchen wiederholte. „Hab sie.“
Er lehnte sich zurück.
„Hab sie?“, wiederholte Stacey verwundert.
Ich fing an zu lächeln.
„Eine Wimper“, erklärte er, ohne den Blick von ihr abzuwenden. „Wusstest du, dass Wimpern dafür sorgen, dass dir kein Staub in die Augen kommt?“
„Ähm, ja, klar.“ Stacey nickte nachdrücklich.
Er lachte leise. „Wusstest du nicht.“
„Wusste ich wohl“, flüsterte sie.
Als ich Sams Blick bemerkte, musste ich lachen. Es war schön, dass Sam endlich etwas Selbstvertrauen an den Tag legte, was Stacey anging. Dass er schwer in sie verliebt war, hatte man ihm schon lange anmerken können.
Was mich auf eine andere Idee brachte. Da meine Dämonenaufspürfähigkeiten mich wohl im Stich gelassen hatten, wäre es ganz schön, in meiner Freizeit mal etwas … etwas Normales zu machen. „Was habt ihr am Wochenende vor?“
Stacey zwinkerte, als sie sich den Pony aus der Stirn strich. „Samstag und Sonntag Babysitten bei meinem kleinen Bruder. Wieso?“
„Ich dachte, wir könnten uns vielleicht einen Film ansehen oder so.“
„Ich habe rund um Thanksgiving an fast allen Tagen Zeit.“ Sie sah zu Sam und verzog den Mund zu einem überraschend verlegenen Lächeln. „Und was ist mit dir?“
Sam spielte mit dem Verschluss seiner Wasserflasche. „Ich kann immer.“ Er schaute zu mir. „Warum lädst du Roth nicht ein?“
Mein Herz hörte auf zu schlagen. Ich öffnete den Mund, bekam aber kein Wort raus. Na großartig. Da schlage ich was Unterhaltsames vor, und prompt kriege ich dafür einen solchen Schlag ins Gesicht.
Sam warf Stacey einen Seitenblick zu. „Ähm, ich … hab wohl was Falsches gesagt. Du bist nicht mehr mit ihm zusammen, wie? Ich dachte, er würde jetzt auf eine andere Schule gehen.“
Gott, wie sehr wünschte ich mir, dass es so wäre! „Ich … hab schon länger nicht mehr mit ihm geredet.“
Sam verzog den Mund. „Sorry, wusste ich nicht.“ Er sah auf seinen mittlerweile leeren Teller.
Stacey kehrte schnell wieder zum Thema Kinobesuch zurück, und nachdem wir uns auf den Weg zum Klassenraum gemacht hatten, lehnte sie sich gegen den Spind neben meinem. „Sam ist in solchen Dingen nicht besonders geschickt“, sagte sie mitfühlend.
Ich stieß einen verächtlichen Laut aus und nahm mein Geschichtsbuch aus dem Spind. „Er scheint aber Fortschritte zu machen.“
„Eher Fortschrittchen“, gab sie kichernd zurück, wurde aber wieder ernst. „Ich hatte gehofft, du würdest mir erzählen, was los ist. Aber ich habe so lange gewartet, wie ich nur konnte. Was ist zwischen dir und Roth vorgefallen? Ihr wart doch ein richtig heißes Paar. Du wolltest die Nacht bei ihm verbringen, dich betrinken und dann …“
„Ich hab wirklich keine Lust, darüber zu reden“, unterbrach ich sie und schloss die Spindtür. Ringsum wimmelte es von Schülern. Irgendwie war es eigenartig, sie ohne ihre schimmernden Seelen zu sehen. Verlegen strich ich über meine schwarze Strumpfhose. „Ich will ja eigentlich gar nicht so sein, aber es ist so …“
„So schwer? Noch zu früh? Schon verstanden.“ Sie neigte den Kopf zur Seite und atmete tief durch. „Und Sam …?“
Ich war zurück auf ungefährlicherem Terrain und lächelte. „Ja?“
„Okay.“ Sie beugte sich vor, dabei kam wie aus dem Nichts eine Welle der Hoffnung auf mich zugeschossen, die so heftig war, dass ich einen Schritt nach hinten machen musste. Die Vorfreude verblasste, als Staceys dunkle Augen aufleuchteten. „Okay. Bilde ich mir das nur ein, oder versucht Sam, mich anzumachen?“
Ich schüttelte den Kopf, um das seltsame Gefühl loszuwerden. „Ich glaube schon.“
„Gute Idee von dir, das mit dem Kino einzufädeln“, meinte sie, während sie neben mir herging. „Da bin ich richtig stolz auf dich.“
„Ich kapier nicht, warum du ihn nicht einfach fragst, ob er mit dir ausgeht.“ Als wir uns dem Klassenraum näherten, wurde ich langsamer. „Damit hast du doch bislang noch nie ein Problem gehabt.“
„Ja, ich weiß.“ Sie legte den Kopf in den Nacken und zog die Stirn in Falten. „Aber er ist anders. Er ist Sam. Er interessiert sich für Computer und Bücher und so Streberkram.“
Ich musste lachen. Sam hatte tatsächlich was Streberhaftes an sich, aber auf eine süße Art. „Und du?“
Sie seufzte und grinste dann breit. „Ich bin an ihm interessiert.“
„Das ist doch alles, was zählt, nicht wahr?“
„Ich glaub schon.“ Sie sah auf das rote Tanktop unter ihrem langen Cardigan und zog es ein Stück nach unten, bis der Busenansatz zum Vorschein kam. „Und im Kunstunterricht wird er feststellen, dass ihn Brüste interessieren. Wünsch mir Glück.“
„Viel Glück.“ Ich betrachtete ihr Dekolleté. „Nicht, dass du Glück nötig hättest.“
Sie zwinkerte mir zu. „Ich weiß.“
Während Stacey mit federnden Schritten davoneilte, machte ich auf dem Absatz kehrt, um in den Klassenraum zu gehen. Im nächsten Moment blieb ich stehen und zog ungläubig die Brauen hoch. Vor den Toiletten waren ein Junge und ein Mädchen zugange, und zwar so, dass ich nicht erkennen konnte, wer die beiden waren und wo der eine von ihnen anfing und der andere aufhörte. Sie standen gegen die Wand gedrückt da, sie hatte ein Bein um seine Taille geschlungen, und seine Hüften waren … hoppla!
Ich war mir sicher, die beiden wollten Sex – hier und auf der Stelle!
Sie würden unglaublichen Ärger kriegen. Öffentliche Liebesbekundungen waren komplett tabu, und man erntete ja allein fürs Händchenhalten schon böse Blicke.
Aber … aber Coach Dinkerton, der geschätzte Trainer unseres sieglosen Footballteams, schlenderte an dem Pärchen vorbei, ohne die zwei eines Blickes zu würdigen. Ihn kümmerte nicht mal, dass sie sich im nächsten Moment in die Mädchentoilette zurückzogen.
Was zum Teufel war hier los?
Nach dem Unterricht zog ich meinen Rollkragen noch weiter ins Gesicht und hetzte über den überlaufenen Gehweg zum Dupont Circle. Eine Jacke wäre keine schlechte Idee gewesen. Mein Jeansrock und die Strumpfhose boten kaum Schutz gegen den kalten, feuchten Wind, allerdings hatte ich auch nicht vorgehabt, nach der Schule noch irgendwo hinzugehen.
Um mich herum liefen die Leute hin und her, aber keiner von ihnen hatte eine sichtbare Seele. Als mein spontanes Experiment zwei Stunden alt war, erklärte ich es offiziell für fehlgeschlagen. Ich glaubte zwar, an einem Telefonmast eine Gruppe Chaosdämonen stehen zu sehen, schließlich liebten diese Typen es, mit Elektrik, Baustellen oder auch mit Feuer Unfug zu treiben; aber ich konnte es nicht mit Gewissheit sagen. Sie hatten bislang nicht für Ärger gesorgt, und es gab auch eigentlich nichts, wodurch sie sich von der Menge unterschieden. Sie konnten genauso gut Menschen sein, die darauf warteten, die Straße überqueren zu können.
Die Nacht senkte sich bereits langsam über die Stadt, ließ die Straßenlampen flackernd angehen und warf unfreundliche Schatten über die alten und neuen Häuser, die die Straßen säumten.
Ich drückte meine Tasche fest an die Hüfte und eilte in Richtung Park, wobei ich immer in der Nähe der Schaufenster blieb. Auch wenn ich es nur ungern zugab, hatte ich das Gefühl, dass Paranoia wie eine gute Freundin neben mir herlief. Bislang hatte ich mich immer auf meine Fähigkeit verlassen können, die Seelen der Leute zu sehen und auf die Weise Dämonen ausfindig zu machen. Deshalb hatte sich bei mir nie der natürliche Instinkt wie bei anderen Wächtern entwickelt, Dämonen aufzuspüren. Von Zeit zu Zeit lief mir ein seltsamer Schauer über den Rücken, doch ich hatte keine Ahnung, ob mir damit die Gegenwart eines Dämons angezeigt wurde oder nicht. Eigentlich war es mehr wie das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden.
Jeder, der an mir vorbeiging, hätte ein Blender oder ein Hohedämon sein können. Vielleicht konnte ich ja so wie andere Wächter auch einfach keine Dämonen wahrnehmen. Himmel, es wäre echt scheiße, wenn das der Fall sein sollte. Ich musste dringend herausfinden, ob das ein Thema war. Aber wo sollte ich schon eine Horde Dämonen finden, die mich nicht beim ersten Anblick umbringen wollte?
Gerade als mir eine Lösung für mein Problem einfiel, geriet ich ins Stolpern.
Roths Apartmentgebäude an den Palisaden. Im ganzen Haus wimmelte es von Dämonen aller Art. Aber konnte ich mich dort hinwagen? Konnte ich mich all den Gefühlen stellen, die der Ort auslösen würde, an dem er gelebt hatte? Ich war mir nicht sicher, aber ich musste es zumindest versuchen. Vielleicht könnte ich ja Zayne überreden, morgen nach der Schule mit mir dort hinzufahren. Begeistert würde er davon bestimmt nicht sein, doch er würde es machen … für mich.
Aber vielleicht konnte ich morgen nach dem Aufwachen auch schon wieder alle Seelen sehen.
Gott, wie oft hatte ich mir gewünscht, normal zu sein – zumindest was die Maßstäbe der Wächter anging! Nun stand ich kurz davor, dass sich dieser Wunsch erfüllte – und ich bekam deswegen gleich ein Magengeschwür und …
Die Gestalt tauchte aus dem Nichts auf, sie war nicht mehr als ein kompakter Schatten, der so schnell aus einer Gasse hervorgeschossen kam, dass ich nicht mal schreien konnte. Eben war ich noch auf der Straße unterwegs gewesen, und jetzt zerrte mich etwas in eine dunkle Gasse. Wut flammte in mir auf, aus der gleich daraus eiskaltes Entsetzen wurde, als sich der harte Griff um meinen Arm löste. Mein Schwung trug mich ein paar Meter rückwärts durch die Luft, dann prallte ich mit dem Rucksack gegen eine Abfalltonne und landete mit dem Hintern auf dem kalten Untergrund.
Verdutzt hob ich den Kopf und sah blassblonde Haare und zwei leuchtend blaue Augen mit vertikalen Pupillen, die mich anstarrten.
„Dämon“, zischte mein Angreifer mich an. In einer Hand hielt er ein Messer mit gezackter Klinge. „Mach dich bereit, in die Hölle zurückzukehren.“