5. KAPITEL

Roth war so groß und so atemberaubend, wie es ein Prinz an der Oberfläche nur hätte sein können.

Und er sah noch genauso aus wie bei unserer ersten Begegnung.

Pechschwarze Locken hingen ihm lässig in die Stirn und reichten bis zu den genauso dunklen, geschwungenen Augenbrauen. Hohe Wangenknochen und die leicht schräg stehenden bernsteinfarbenen Augen verliehen seinem Gesicht etwas Edles, beinahe Nichtmenschliches. Der Mund stand ein wenig offen, die Unterlippe war deutlich voller als die obere. Ein schwarzes T-Shirt spannte sich über seiner Brust, von der ich wusste, dass die Muskeln dort genauso klar definiert waren wie am Bauch. Seine Jeans hing ihm tief auf den Hüften, ein Nietengürtel gab ihr Halt.

Das Einzige, was ihm fehlte, war Bambi, die sich an meinem Bein auf und ab bewegte. Aber Roth lebte, und er war hier.

Seine Augen wurden ein wenig größer. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber ich hätte schwören können, dass ich den metallenen Stecker in seiner Zunge sehen konnte, als er die Lippen benetzte. Seine Kiefermuskeln spannten sich an, als ein undefinierbarer Ausdruck über sein wunderschönes Gesicht huschte. Alles um mich herum war in diesem Moment vergessen, mein Herz schien mir vor Freude aus der Brust zu springen.

Irgendjemand sagte etwas, doch das ging komplett unter, weil mein Herz zu laut schlug und mir das Blut in den Ohren rauschte.

Roth machte einen Schritt auf mich zu und sah an mir vorbei zu meiner Rechten, während Abbot die Hand gleich unterhalb des Verbands auf meinen Arm legte.

Ich blieb stehen, während ich mir einen Aufschrei verkniff. Zayne trat im gleichen Moment vor wie Roth, aber dann beugte sich Abbot vor: „Pass auf, Mädchen. Ganz gleich, was er für uns getan hat, darfst du nicht vergessen, dass er immer noch ein Dämon ist.“

„Genau genommen bin ich ein Prinz“, korrigierte Roth ihn mit dieser tiefen Stimme, die so satt klang wie Bitterschokolade und bei der mir ein Schauer nach dem anderen über den Rücken lief. Es war die Stimme, von der ich fest geglaubt hatte, ich würde sie niemals wieder hören. „Das ist etwas, das du besser nicht vergessen solltest.“

Abbot versteifte sich wütend, und seine Hand umschloss meinen Arm noch fester, gerade als ich mich aus seinem Griff befreien wollte.

„Und es wäre auch gut für dich, wenn du sie loslassen würdest“, fuhr Roth fort und reckte das Kinn. „Dann können wir nämlich unsere kleine weiße Freundschaftsflagge schwenken, ohne dass Blut vergossen wird.“

„Obwohl es gar nicht so übel wäre, Blut zu vergießen.“ Der Dämon neben Roth grinste so breit, dass seine makellosen weißen Zähne zu sehen waren. Es war Cayman, ein Dämon, den ich als einen infernalischen Herrscher wiedererkannte. Aber wer der dritte Dämon war, der hinter den beiden anderen stand, konnte ich nicht sagen.

„Und für dich wäre es gut, nicht zu vergessen, dass du dich auf meinem Grund und Boden befindest.“ Abbot ließ mich los, und eigentlich wäre ich sofort zu Roth gestürmt. Der Blick, den er mir zuwarf, war allerdings eine deutliche Warnung, genau das nicht zu tun.

Verwirrt atmete ich tief durch und versuchte, mein rasendes Herz zu beruhigen. Am liebsten hätte ich seinen Blick ignoriert, um mich ihm an den Hals werfen zu können, damit ich ihn berühren konnte und Gewissheit hatte, dass er tatsächlich da war und dass es ihm gut ging. Andererseits durfte ich auch nicht vergessen, wo ich mich in diesem Moment befand. Ich stand hier von meinem halben Clan umgeben, und auch wenn Roth sich für das höhere Wohl geopfert hatte – zumindest hatte es danach ausgesehen –, würde sich niemand hier darüber freuen, wenn ich mich wie liebestoll auf ihn stürzte.

Doch während ich ihn anstarrte und allmählich zu begreifen begann, dass Roth tatsächlich hier und unversehrt war, konnte ich mir nicht erklären, wie er aus den Feuergruben hatte entkommen können. Es hieß doch, sie seien völlig ausbruchsicher.

Abbot schien sich noch imposanter neben mir aufzubauen. „Und es wird für deine und meine Art auch niemals eine gemeinsame weiße Freundschaftsflagge geben.“

Roth legte sich eine Hand auf die Brust. „O nein! Damit schwinden alle meine Hoffnungen und Träume, dass wir eines Tages Hand in Hand unter dem Regenbogen tanzen werden.“

An Abbots Stirn trat eine Ader hervor. Er drehte sich zu mir um. „Du musst zurück ins Haus gehen, Layla.“

Den Teufel würde ich tun. Bevor ich das aber laut sagen konnte, nickte Roth mir zu und erklärte: „Nein, sie muss bleiben. Ich bin aus einem bestimmten Grund hier, auch wenn wir ein wenig vom Thema abgekommen sind.“

Von welchem Thema abgekommen? Wie lange hielt sich Roth schon hier auf? Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht, während ich das Gefühl hatte, dass mein Gehirn das Geschehen nur in Zeitlupe erfasste. Ich sah zu Zayne, aber er war ganz auf Roth konzentriert, so als wollte er ihn per Fußtritt in die Hölle zurückbefördern. Unwillkürlich zog ich die Mundwinkel nach unten. Mir war schon klar, dass Zayne und Roth nie beste Freunde werden könnten, aber wusste Zayne nicht mehr, was Roth für ihn getan hatte?

Maddox war ebenfalls nach draußen gekommen und stand nun neben dem schweigenden Dez. Irgendwann in den letzten Minuten musste Maddox sich gewandelt haben, da er seine wahre Form angenommen hatte. Seine Haut war granitfarben, die Flügel reichten in eine beeindruckende Höhe von fast zweieinhalb Metern. Seine Nasenflügel lagen flach an, die gelben Augen leuchteten wütend, und er zeigte seine Fangzähne. „Es kann keinen Grund geben, warum wir es ihnen erlauben dazustehen.“ Er wandte sich an Abbot und ballte seine Klauenhände. „Tomas ist verschwunden, und ich möchte wetten, dass die etwas damit zu tun haben.“

Ähm …

Bambi wickelte sich um meinen Bauch und streckte sich, als würde es sie freuen, an ihr frühabendliches Festmahl erinnert zu werden.

„Ich kenne keinen Tomas“, erwiderte Roth und verzog die Lippen – Lippen, die sich in mein Gedächtnis gebrannt hatten – zu einem spöttischen Lächeln. „Andererseits seht ihr Wächter sowieso alle gleich aus.“

„Und du hältst dich für hübsch?“, zischte Maddox.

„Nein, ich halte mich für sexy.“ Er lächelte noch breiter, nur seine Augen strahlten weiter Kälte aus. „Und für urkomisch.“

Dez und die übrigen Wächter reagierten angespannt. Bestimmt hatten sie gedacht, Roth wäre beim Anblick von so vielen von ihrer Art eingeschüchtert. Aber Roth … tja, je heikler eine Situation war, desto mehr spielte er den Besserwisser.

Cayman zwinkerte mir zu und trat ein paar Schritte vor. Ich zog die Augenbrauen hoch, weil mir das Ganze so surreal vorkam. Vielleicht hatte ich in Wahrheit zu viel Blut verloren und war ohnmächtig geworden, und das alles war bloß ein verrückter Traum.

„Können wir zum Thema kommen?“, warf Cayman mutig ein. „Die Zeit ist ein entscheidender Faktor.“

Abbot atmete schnaubend aus, seine Nasenflügel blähten sich auf, dann aber nickte er.

„Wir haben ein riesiges Problem“, sagte Roth und konzentrierte sich ganz auf den Clanführer. Das spöttische Grinsen verschwand, und mir lief es eiskalt den Rücken runter. „Eine Lilin wurde geboren.“

Alle Wächter starrten ihn an, als hätte er sich die Hose ausgezogen und einen kleinen Tanz hingelegt. Mir stand der Mund offen, während ich im Geiste das wiederholte, was Roth eben gesagt hatte. Das musste ein Missverständnis gewesen sein. Es war unmöglich, dass eine Lilin entstanden war – ein Wesen, das mit einer einzigen Berührung Seelen an sich reißen konnte. Dabei waren sie so abscheulich, dass die Menschen oder Wächter, die ihre Seele an sie verloren, dadurch nicht einfach getötet, sondern in rachsüchtige Geister verwandelt wurden, die nichts als Zerstörung im Sinn hatten. Die Wächter waren zu Zeiten von Eva und dem verdammten Apfel geschaffen worden, um die Erde vollständig von den Lilin zu säubern.

„Das ist unmöglich“, stieß Zayne hervor. „Was für einen Mist willst du hier durchziehen?“

Roth sah ihn an, sein Gesicht glich einer versteinerten Maske. „Ich will hier gar nichts durchziehen. Glaub mir, ich könnte viel interessantere Lügen erzählen, wenn es mir darum ginge.“

„Das kann nicht sein“, beharrte Abbot und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. „Wir wissen, was notwendig ist, um eine Lilin entstehen zu lassen, und nichts davon ist geschehen. Abgesehen davon wurde Paimon daran gehindert, das Ritual zu vollenden.“

„Ein Dämon, der versucht, uns zu belügen?“ Dez lachte abfällig, während ein kalter Windstoß ihm die Haare zerzauste. „Das ist ja mal was ganz Neues.“

Ein Schalk von der Art, der ganze Städte untergehen lassen konnte, leuchtete in Roths Augen auf. Gerade setzte er zu einer Erwiderung an, da machte ich einen Schritt nach vorn und fragte: „Wie soll das möglich sein? Du … wir wissen, dass das nicht sein kann.“

Unverwandt starrte Roth Zayne an. „Es ist aber so.“

„Woher weißt du das?“, hakte ich nach.

Einer der Wächter stieß einen verächtlichen Laut aus und murmelte: „Die Geschichte möchte ich zu gern hören.“

Roth verzog den Mund. „Wie jeder von euch weiß, der das ‚Wenn’s hart auf hart kommt‘-Handbuch gelesen hat, wird Lilith mit vier Ketten in der Hölle festgehalten.“

Ich nickte. Mir war bekannt, dass meine Mutter Lilith in der Hölle angekettet war, aber ich sah keinen Zusammenhang zu dem, was Roth gesagt hatte.

„Zwei dieser Ketten sind gerissen, als Paimon das Ritual vollziehen wollte, womit nur noch zwei Ketten übrig waren“, fuhr er fort. „Eine dritte K…“

„Augenblick.“ Abbot hob die Hand. „Wie sollen diese Ketten zerrissen worden sein? Paimon wurde aufgehalten, und Layla ist nach wie vor unschuldig, was schließlich ein wesentliches Element dieses Rituals ist. Also kann das nicht stimmen.“

O mein Gott …

Jetzt ging die Sache mit der Unschuld wieder los. Ich verkniff mir ein Stöhnen und legte eine Hand um meine Halskette. Um die Lilin entstehen zu lassen, mussten einige Voraussetzungen für das Ritual erfüllt sein. Es musste das Blut von Lilith vergossen werden, was mit dem Ring erledigt worden war, den ich jetzt an meiner Kette trug. Ich musste ebenfalls bluten, was auch geschehen war. Aber die beiden letzten Dinge waren die dicksten Hunde.

Ich musste eine Seele nehmen und meine Unschuld verlieren. Nur Zayne und Roth wussten, dass ich eine Seele genommen hatte. Abbot durfte das niemals erfahren, sonst würde er mich umbringen. Und ich war immer noch Jungfrau, also konnte es nicht …

„Das mit dem Blut hat Paimon hingekriegt“, erklärte Roth, als könnte er meine Gedanken lesen. Während er redete, sah er mich zwar nicht an, aber seine Worte hatten etwas Bissiges. Mir wurde übel. „Sie wurde geschnitten, das habe ich gesehen.“

Es war mir ein Rätsel, wie er während des Kampfs diesen winzigen Pikser hatte sehen können. „Ja, Paimon hat mein Blut vergossen. Das ist richtig, aber …“ Die Ereignisse jener Nacht stürmten erneut auf mich ein. Nachdem Roth mit Paimon in der Falle gesessen hatte und dann in die Feuergruben geschickt worden war, war der Boden dort versengt gewesen, wo sie beide gestanden hatten. Und dort, wo man mich festgebunden hatte, klaffte anschließend ein Loch im Fußboden.

Abbot zog die Brauen zusammen, setzte zum Reden an und warf mir dann einen durchdringenden Blick zu. Der vorwurfsvolle Ausdruck in seinen Augen ließ mich zurückweichen. Wusste er von Petr? Dass ich in einem Akt der Selbstverteidigung die Seele des Wächters genommen hatte? Ich konnte schon spüren, wie sich die Schlinge um meinen Hals zuzog. Zayne kam näher, und ich atmete laut aus.

„Deine Unschuld …“, begann Abbot trügerisch leise. „Du hast behauptet, du wärst noch immer unschuldig, Layla.“

Behauptet? „Ich habe dich nicht angelogen.“

„Und wie konnten dann die Ketten zerreißen?“, wollte er wissen.

„Jetzt glaubt er uns“, stellte Cayman kopfschüttelnd fest. „Und wie schnell er an Layla zweifelt.“

Auch wenn mir diese zutreffende Beobachtung wehtat, ignorierte ich den infernalischen Herrscher und betrachtete nacheinander die versammelten Dämonen und Wächter. Nicolai wich meinem Blick aus, Dez und Maddox war anzusehen, dass sie allmählich verstanden. Zayne konnte ich nicht anschauen, weil ich nicht wissen wollte, ob auch er voreilige Schlüsse zog.

Das einzig Gute, was ich ihnen allen ansehen konnte, war die Tatsache, dass keiner von ihnen auch nur in Erwägung zog, ich könnte eine Seele genommen haben. Stattdessen waren sie alle davon überzeugt, dass ich die Beine breit gemacht hatte. Ich schürzte die Lippen und schwankte innerlich, ob ich einfach den Mund halten oder ihren Vermutungen widersprechen sollte, womit ich natürlich enthüllen würde, was ich in Wahrheit gemacht hatte.

Zayne seufzte. „Layla hat uns gesagt, dass sie … Na ja, ihr habt alle gehört, was sie gesagt hat. Für uns gibt es keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln, dafür haben wir allen Grund, ihnen nicht zu trauen.“

Meine Erleichterung war nur von kurzer Dauer, da Roth eine tiefe Verbeugung machte. „Angesichts der Tatsache, dass ich dir den Arsch gerettet und deinen Platz in der Falle eingenommen habe, finde ich, du könntest etwas mehr Vertrauen in mich demonstrieren.“

Ich kniff die Augen zu. Diese Unterhaltung konnte nur noch schlimmer werden.

„Und dafür bin ich dir auch dankbar“, gab Zayne zu. „Aber es ändert nichts daran, was du bist, und auch nichts an der Tatsache, dass Layla immer noch …“

Meine Wangen fingen an zu glühen. „Okay, das reicht. Ihr hört jetzt alle auf. Dies Getratsche über meine Jungfräulichkeit ist eine Sache, die ich nicht fortsetzen möchte.“

„Da kann ich mich nur anschließen“, warf Dez ein.

„Aber als ich das letzte Mal nachgesehen habe, hatte ich noch immer ein Jungfernhäutchen, was bedeutet, dass ich nach wie vor unberührt bin.“ Ich ballte hilflos die Fäuste, als Roth die Brauen hochzog. „Könnten wir also aufhören, über dieses Thema zu reden?“

„Wenn es stimmt, was du sagst, dann lügt der Dämon“, folgerte Abbot.

„Der Dämon?“ Roth verzog entrüstet die Miene. „Für dich immer noch ‚Seine Hoheit‘.“

„Okay.“ Cayman kam nach vorn und hob die Hände, als würde er vor den Wächtern kapitulieren, die warnend ihre Fangzähne bleckten. „Niemand lügt – weder unser Kronprinz noch die kostbare und jungfräuliche Layla.“

Ich warf ihm einen grimmigen Blick zu.

„Wie üblich“, fuhr er fort, „erklärt der Text, in dem das Ritual verfasst ist, nicht präzise, was erforderlich ist, damit Layla ihre Unschuld verliert.“

„Ich wünschte, du könntest aufhören, das zu sagen“, murmelte ich und rieb mir die Stirn. Kopfschmerzen kündigten sich an. „Es ist schließlich nicht so, als könnte man seine Unschuld tatsächlich verlieren, sie versehentlich verlegen und dann vergessen.“

Abbot kniff die Augen zusammen.

„Gutes Argument.“ Cayman schob die Hände in die Hosentaschen und wippte auf den Stiefelabsätzen vor und zurück. Sein schadenfrohes Grinsen ließ das schreckliche Gefühl in mir aufsteigen, dass ich mich soeben um Kopf und Kragen geredet hatte. „Der Verlust der Unschuld bezieht sich auf eine fleischliche Sünde, und man muss keinen Sex haben, um die Lust der Sünde zu erleben. Richtig?“

Mein Gesicht wurde kreidebleich, und ich bekam den Mund nicht mehr zu. O ja, ich hatte lustvolle Stunden mit Roth erlebt, und meine Wangen begannen schlagartig zu glühen. Roth und ich hatten … na ja, wir hatten nicht das gemacht, aber dafür andere Sachen. Er hatte Dinge mit seinen Fingern angestellt, von denen ich nur … O Gott! Ich musste sofort aufhören, daran zu denken!

Roth senkte seine unmöglich langen Wimpern, während allen Anwesenden zu dämmern begann, was Caymans Worte bedeuteten. Einer nach dem anderen sahen sie mich an, als hätte ich … als hätte ich ein Gemetzel auf einer Säuglingsstation veranstaltet und mich anschließend fröhlich im Blut dieser Kinder gesuhlt.

„Was ist?“, fragte ich in die Runde und trat von einem Fuß auf den anderen. Ich sah zu Zayne und bemerkte den zuckenden Wangenmuskel.

Cayman ließ den Kopf sinken. „Mit anderen Worten: Sie musste bloß einen Orgasmus erleben.“

„O mein Gott!“ Stöhnend schlug ich die Hände vors Gesicht. Lieber hätte ich jetzt in dieser Gasse gestanden und mich von dem Wächter in kleine Stücke schneiden lassen.

„Und sehr wahrscheinlich hat sie den nicht selbst herbeigeführt“, fügte Cayman hinzu. „Das ist die einzige Erklärung.“

Kann mich bitte jemand auf der Stelle umbringen?

Zayne fluchte leise, und ich glaubte, von irgendwoher das geflüsterte Wort Hure zu hören. Aber ich war mir nicht sicher, weil niemand auf das schwache Murmeln reagierte. Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, mit wem ich diese „Lust der Sünde“ erlebt hatte. Schließlich gab es ja nicht allzu viele Kandidaten ohne Seele, denen ich näherkommen konnte.

„Alsoooo …“ Roth dehnte das eine Wort. „Das ist jetzt etwas peinlich.“

Langsam ließ ich die Arme sinken. „Ach, findest du?“

Er sah mich nicht an. „Nachdem wir das nun geklärt haben …“

„Aber was ist mit der Seele, die genommen werden muss?“, warf Nicolai ein.

Meine Nackenhaare richteten sich auf. Eigentlich hätte ich froh darüber sein müssen, dass das eine Thema erledigt war, aber dieses hier war ja beinah noch schlimmer.

Roth zuckte mit den Schultern. „Vergesst nicht, der Kleine Salomon ist ein antiker Text. Das heißt, er lässt sich nicht so einfach interpretieren. Offenbar ist uns allen irgendein Fehler unterlaufen, sogar mir mit meiner überlegenen Intelligenz. Ihr habt den Kleinen Salomon, also seht nach, ob ihr dahinterkommt, was falsch gelaufen ist.“

Für den Augenblick schienen die Wächter ihm das abzunehmen, doch Abbot warf mir einen Blick zu, mit dem er mir ankündigte, dass wir uns später noch unterhalten würden. Ich wusste jetzt schon, dass mir dieses Gespräch nicht gefallen würde.

„Aber zurück zum Thema. Drei ihrer Ketten sind gerissen, und jetzt gibt es eine Lilin.“

„Einen Augenblick“, warf ich ein und atmete tief durch. „Ich wusste nicht, dass ihre Ketten reißen würden, wenn die Lilin geschaffen wird.“ Unbehagen erfasste mich, als ich von Abbot über Zayne zu Roth sah. „Keiner … keiner von euch hat mir davon etwas gesagt. Ihr habt mir alle erzählt, wenn die Lilin erschaffen werden, dann haben alle Beteiligten so viel damit zu tun, sie aufzuspüren, dass keinem Zeit bleibt, sich um Lilith zu kümmern.“

„Es war nicht notwendig, dir das zu sagen“, antwortete Abbot knapp.

Eine hitzige und hässliche Gefühlsregung verdrängte meine Furcht, als ich mich zu dem Mann umdrehte, der früher einmal wie ein Vater für mich gewesen war. Ich hatte all diese Lügen so satt. Die Tatsache, dass Lilith meine Mutter war, dass der Wächter Elijah, der sich immer so verhielt, als würde meine bloße Existenz ihn anwidern, in Wahrheit mein Vater war – all das hatte Abbot mir verschwiegen. „Ach wirklich? Wie kann so etwas unnötig sein, wo sie doch meine Mutter ist?“

„Gutes Argument“, warf Roth ein.

„Du hast es mir auch verschwiegen“, konterte ich. Er presste die Lippen zusammen, und ich wartete darauf, dass er mich ansah und mir erklärte, warum er mir ein so wichtiges Detail vorenthalten hatte. Als er nicht weiter reagierte, überkam mich große Unruhe. „Und wenn die vierte Kette reißt und Lilith befreit wird?“

Der dritte Dämon, der bislang geschwiegen hatte, schüttelte den Kopf. „Lilith wird nicht befreit werden. Der Boss hat sie jetzt weggesperrt, da müsste schon ein Wunder geschehen, damit sie entkommen kann.“ Er lachte, und ich zog eine Braue hoch.

Abbot zuckte mit den Schultern. „Auch wenn sich Lilith weiterhin in Gefangenschaft befindet, soll ja eine Lilin erschaffen worden sein. Wenn das stimmt, haben wir ein gewaltiges Problem.“

„Momentan kann es nur eine geben. Bei mehreren Lilin hättet ihr das längst mitgekriegt, dann hätte es nämlich eine Bevölkerungsexplosion bei den Geistern gegeben. Aber es reicht auch schon, wenn eine Lilin frei herumläuft. Die kann sehr schnell die ganze Stadt in ihren eigenen Spielplatz zum Seelensaugen verwandeln“, erklärte Roth. „Mit einer einzigen Berührung können sie eine Seele nehmen oder mit Leuten spielen, indem sie ihnen Stück für Stück ihre Persönlichkeit wegnehmen und ihren gesamten Ehrenkodex verändern. Die Lilin können sogar einen Wächter auf seine eigenen Kameraden losgehen lassen, wenn sie ihn in die Finger kriegen.“

Oh, das wäre übel. Sehr übel sogar.

„Und sie können als Einzige die Geister kontrollieren“, fügte Cayman hinzu. „Wenn sie eine Seele vollständig nehmen, wird die von ihnen geschaffene rachsüchtige Kreatur nur auf die Lilin hören. Das ist … doppelt beschissen.“

Geister waren alle Wesen, die einmal eine Seele besessen hatten, die ihnen aber abhandengekommen war. Sie fuhren nicht zur Hölle, es gab auch keine Existenz irgendwo zwischen den Ebenen. Sie blieben auf der Erde zurück und saßen hier fest, während Verbitterung und Hass in ihnen wuchsen. Sie wurden schnell gefährlich und waren so mächtig, dass sie auf eine nicht sehr freundliche Weise auf Menschen einwirken konnten. Manchmal nahmen sie sich Leute vor, die sie zu Lebzeiten gekannt hatten, manchmal stürzten sie sich einfach auf den Erstbesten, der ihnen über den Weg lief.

„Ihr wisst ja, dass die Alphas – eure großen bösen Kerle im großen bösen Himmel – wegen der ganzen Regeln darüber gar nicht glücklich sein werden.“ Roth verschränkte die Arme vor der Brust. „Deshalb müssen wir die Lilin ausfindig machen, bevor die Alphas auf die Idee kommen einzuschreiten. Ansonsten sind wir alle in Gefahr, auch ihr Wächter.“

Die Alphas waren diejenigen, die das Sagen hatten. Die Engel. Wegen meiner halb dämonischen Herkunft hatte ich noch nie einen von ihnen zu Gesicht bekommen. „Warum sollten die Wächter in Gefahr sein?“, fragte ich verwundert.

„Die Alphas sind nicht gerade die größten Fans der Wächter, obwohl sie sie selbst erschaffen haben“, erklärte Cayman. „Stimmt’s, furchtloser Anführer?“ Als Abbot nichts erwiderte, grinste der infernalische Herrscher. „Die Alphas werden die Existenz einer Lilin als Beleg dafür ansehen, dass die Wächter nicht in der Lage sind, die Dinge unter Kontrolle zu halten. Damit werden sie für die Alphas nutzlos. Die werden die Wächter zur Strafe auslöschen – und uns alle gleich dazu.“

O mein Gott, Alphas alberten nicht bloß herum – die meinten es ernst.

„Deshalb müssen wir zusammenarbeiten“, ergänzte Roth.

Maddox lachte laut auf. „Wir sollen mit Dämonen zusammenarbeiten? Hast du Crack genommen?“

„Wie ich schon einmal gesagt habe, mag der Boss es nicht, wenn man während der Dienstzeit Drogen konsumiert.“ Roths Gesicht nahm einen ausdruckslosen Zug an. „Und ihr müsst eure Engstirnigkeit überwinden. Wir leben in einer Stadt mit einer halben Million Einwohner, die Vorstädte nicht mitgerechnet. Der Schaden, den eine einzige Lilin anrichten kann, ist astronomisch groß.“

„Also sind wir wieder da, wo wir vor zwei Monaten schon mal waren?“, fragte Zayne. „Nur dass wir es damals mit einem liebeskranken Dämon zu tun hatten und heute mit einer Lilin. Einer Lilin, die einem Menschen die Seele entreißen kann und …“

„Augenblick mal“, ging Maddox dazwischen und drehte sich so, dass er endlich den Blick von den Dämonen abwenden musste. „Wenn das Ritual erfolgreich war und eine Lilin geboren wurde, müsste dann nicht Layla die Mutter sein? Diese Dämonin entstand doch aus ihrem Blut.“

„Igitt!“ Angewidert verzog ich das Gesicht. „Ich werde diese Lilin ganz sicher nicht als mein Kind bezeichnen. Also versucht auch bitte schön nicht, mir so was anzuhängen.“

„Die Lilin wurde auch aus dem Blut der Lilith geboren, also …“ Roth seufzte und schüttelte den Kopf. „Es ist nicht wichtig, du himmlischer Ausschuss.“

„Wie bitte?“, fauchte Maddox.

Er ignorierte den Wächter.

„Genau das, womit wir uns befassen müssen – einer Lilin oder etwas Ähnlichem“, murmelte Abbot vor sich hin. Ich stutzte. Was sollte denn das nun wieder heißen? Er schüttelte den Kopf. „Wir müssen diese Lilin finden und unschädlich machen.“

„Können wir uns denn sicher sein, dass Lilith nicht befreit werden kann?“, fragte ich. Mir war noch immer nicht klar, was ich von der Tatsache halten sollte, dass meine Mutter in der Hölle gefangen war.

„Das wird der Boss nicht zulassen.“ Roth beobachtete Abbot und lächelte verkrampft.

Die Anspannung zwischen den beiden war deutlich zu spüren. Mein Instinkt sagte mir, dass mehr dahintersteckte als nur die Tatsache, dass die zwei Feinde waren. „Das Problem ist, dass wir nicht viel über die Lilin wissen.“

Ich hatte das Gefühl, mich hinsetzen zu müssen. „Wirklich nicht?“

„Nein. Es könnte etwas über sie im Kleinen Salomon stehen, aber …“ Roth nickte Abbot zu „… den habt ihr.“

„Und er wird auch weiter sicher bei uns aufgehoben bleiben“, erwiderte er.

„Sicherheit ist etwas Subjektives“, kommentierte Roth.

„Wir wissen bereits, was im Kleinen Salomon über die Lilin geschrieben steht“, sagte Nicolai.

„Lust, dieses Wissen mit uns zu teilen?“, meinte Roth grinsend. „Teilen macht schließlich Spaß.“

Abbot trat von einem Fuß auf den anderen. „Keine neuen Erkenntnisse. Nur vage Hinweise auf die Zeit, als sie über die Erde geherrscht haben. Nichts, was wir nicht schon längst wussten“, erklärte er und ergänzte nach einer kurzen Pause: „Das ist eine ernste Sache. So ernst, dass wir euch bei euren Nachforschungen in der Angelegenheit nicht behindern werden.“

Es bedeutete, dass die Wächter Roth und die anderen nicht verfolgen würden, was ein enormes Zugeständnis war. Zwar schäumten Maddox und die anderen Wächter vor Wut, aber Abbot sorgte mit einer Handbewegung für Ruhe.

„Als Anführer des Clans in D. C. ist das meine Entscheidung“, verkündete er und warf ihnen allen einen energischen Blick zu. „Wir dürfen nicht riskieren, dass eine Lilin an der Oberfläche ihr Unwesen treibt.“ Den gleichen Blick richtete er nun auch auf die Dämonen. „Aber sobald sich mir der Verdacht aufdrängt, dass das Ganze nur irgendeine Finte ist, werde ich persönlich jeden Einzelnen von euch zur Strecke bringen.“

Roth zuckte mit den Schultern. „Ihr müsst nur besonders wachsam sein, wenn ihr auf eure … Jagd geht.“

„Ich kann es nicht fassen, dass wir eine Abmachung mit Dämonen treffen“, sagte Maddox und wich einige Schritte zurück.

Mir ging es nicht anders, aber eine Lilin war wirklich eine schwerwiegende Sache.

„So ist es nun mal“, gab Abbot zurück und atmete tief durch. „Wir werden nach allen verdächtigen Berichten und Meldungen Ausschau halten. Unsere Kontakte bei der Polizei und in den Krankenhäusern dürften sich als hilfreich erweisen.“

Cayman nickte zustimmend. Dass wir alle hier zusammenstanden und uns zivilisiert unterhielten, war wirklich monumental. „Wir werden auch in unseren Reihen Augen und Ohren offen halten. Eine Lilin wird am ehesten andere Dämonen aufsuchen, um Bekanntschaften und Freundschaften zu schließen. Hoffentlich wird sie jemanden finden, dem sie vertraut.“

„Gut“, sagte Abbot und straffte die Schultern. „Aber für den Augenblick werdet ihr verdammt noch mal meinen Grund und Boden verlassen.“

Eine kleine weiße Wolke stieg aus meinem Mund auf, als ich ausatmete. Mir war übel. Sie konnten jetzt noch nicht weggehen. Auf gar keinen Fall. Ich machte ein paar Schritte auf sie zu und nahm dabei einfach keine Notiz von den Blicken der Wächter. Es war mir egal. Sollten sie sich doch ihre engstirnigen Ideale so tief wie möglich in …

„Wir sind schon so gut wie weg, aber …“ Jetzt endlich drehte sich Roth zu mir um. Als er mich ansah, traf mich sein Blick wie ein Faustschlag. „… wir müssen erst noch reden.“