An den kurzen Weg zurück zum Haus konnte ich mich so gut wie nicht erinnern. Der Schmerz in meinem Herzen nahm es mühelos mit dem auf, was ich gefühlt hatte, als ich Roth in der Teufelsfalle gesehen hatte. Es war ein eisiger und trotzdem sengender Schmerz, der mein Inneres gleichzeitig erfrieren und verbrennen ließ. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und mit jedem Schritt drängten die Tränen in meinen Augen mehr darauf, vergossen zu werden.
Roths Worte waren mehr als nur ein Stich gewesen, und das schreckliche Gewicht, das zwischen meinen Brüsten auf mir lastete, ließ mich befürchten, dass dort drinnen etwas zerbrochen war, auch wenn ich mich nicht dazu bekannt hatte, wie tief meine Gefühle für ihn gewesen waren.
Normalerweise mache ich einen großen Bogen um Jungfrauen.
Gott, war ich wirklich so dumm gewesen? Hatte ich mich tatsächlich so sehr in ihm getäuscht? Meine Wangen fühlten sich wie verbrüht an, als mir jedes seiner Worte durch den Kopf ging. Jedes einzelne war wie ein Dolchstoß gewesen, ausgesprochen mit der Absicht, mich zu verstümmeln. Und das war Roth auch bestens gelungen. Aber diese Umarmung … die Art, wie er mich an sich gedrückt hatte? War das für ihn bedeutungslos gewesen? So einfach konnte ich das nicht hinnehmen. Genauso die Behauptung, seine gequälten Worte an mich, bevor die Falle ihn mir entrissen hatte, seien nur so dahingesagt gewesen. Aber vielleicht war ich ja tatsächlich so naiv, dass ich Gefühle für jemanden entwickelt hatte, für den ich nichts hätte empfinden sollen. Jetzt konnte ich ja sehen, was mir das eingebracht hatte.
Unter dem Schmerz fühlte ich plötzlich noch etwas anderes – ein brennender Durst manifestierte sich. Ich konnte ihn in jeder Zelle meines Körpers spüren, sogar in den Zähnen. Das Verlangen, mich zu nähren, erwachte schnell. Meine Gefühle waren völlig außer Kontrolle und nährten diese verbotene Sehnsucht.
Wütend wischte ich mir über die Wangen, als ich die Zufahrt zum Anwesen erreichte. Vor dem Eingang hielten sich mehrere Wächter auf, die ihre wahre Form angenommen hatten und ihre Flügel dicht am Rücken zusammengelegt trugen. Keiner von ihnen achtete auf mich, als ich vorbeilief. Ihre Seelen konnte ich zwar nicht sehen, aber ich schmeckte ihre Reinheit auf meiner Zungenspitze. Einen Moment lang stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, diese Wärme zu spüren, während sie mir durch die Kehle lief und dabei die von Roth zurückgelassene Kälte und den Schmerz linderte. Es wäre auch gar nicht so schwierig. Sie vertrauten mir zwar nicht, aber sie rechneten auch nicht damit, dass ich angreifen würde. Und wenn ich erst einmal eine Seele zu fassen bekommen hätte, würde mich nichts mehr aufhalten kö…
Dieser Gedankengang endete abrupt, als ich entsetzt feststellte, dass ich stehen geblieben war. Ich stand einfach da und starrte auf Zaynes gebeugten goldblonden Kopf, während mir das Wasser im Mund zusammenlief. Das gierige Verlangen, meine Überlegungen in die Tat umzusetzen, ließ meinen Magen verkrampfen.
Die Ellbogen hatte er auf die Knie gestützt, als er den Kopf hob, aber in der nächsten Sekunde stand er schon da. „Layla?“
„Ich bin müde.“ Meine Stimme klang nicht so, wie sie sollte. Zu angestrengt, zu bemüht. Ich konnte ihn jetzt nicht in meiner Nähe haben, weder ihn noch sonst jemanden. „Ich … ich gehe ins Bett.“
Das Strahlen seiner Haut verblasste ein wenig, als er sich umdrehte, mir nach drinnen folgte und die Tür hinter uns zumachte. Die Deckenbeleuchtung im Foyer war aus, die kleinen Wandlampen verbreiteten ein sanftes Licht. Aus dem Wohnzimmer drang Jasmines Stimme in den Flur, woraufhin ich schnell weiterging. Jede Stufe saugte mir regelrecht Kraft aus dem Leib, und als ich endlich den Treppenabsatz erreicht hatte, wollte ich mich nur noch umdrehen und mich auf denkbar schlechteste Weise auf Zayne stürzen.
Zügig ging er um mich herum und stellte sich vor meine Schlafzimmertür. „Rede mit mir.“
Langsam hob ich den Blick. Was er in meinem Gesicht sah, konnte ich mir nicht vorstellen, auf jeden Fall veranlasste es ihn, die Hand nach mir auszustrecken. Ich trat einen Schritt nach hinten, um nicht von ihm berührt zu werden. Ich war zu dicht davor, zusammenzubrechen und etwas zu tun, was ich mir niemals würde verzeihen können. Mein Herz raste, ich schüttelte den Kopf. „Ich will nicht reden.“
„Etwas ist nicht in Ordnung.“ Leicht neigte er den Kopf zur Seite.
Ich hielt den Atem an.
„Hat er dir wehgetan?“, wollte er wissen.
„Nein“, brachte ich heraus und atmete durch die Nase aus. „Ich meinte, nicht körperlich. Hat er …“
„Ich kann das jetzt nicht, bitte“, flüsterte ich und sah in seinen Augen, dass er verstand. „Ich muss allein sein.“
Zaynes Nasenflügel blähten sich auf, als er zur Seite trat. „Brauchst du irgendetwas?“
Mir war übel, weil mein Puls so raste. „Orangensaft vielleicht.“
Er nickte und lief nach unten. Ich ging in mein Zimmer und ließ das Licht aus, da ich es nicht brauchte, denn ich verbrachte so viel Zeit hier oben, dass ich mich auch mit verbundenen Augen zurechtgefunden hätte. Ich stellte mich vor das große Fenster und wünschte, ich könnte es öffnen, um die kühle Nachtluft hereinzulassen. Aber es war zugenagelt worden, gleich nachdem ich für den Rest meines Lebens Hausarrest bekommen hatte. Abbot schien wohl zu denken, ich könnte mir Flügel wachsen lassen und davonfliegen, um mich irgendwo mit meiner Dämonenhorde zu treffen.
Ich kniff die Augen zu, und mir wurde klar, dass ich genau das wollte. Nicht den Teil mit der Dämonenhorde, sondern den Teil mit dem Davonfliegen. Fast hätte ich mich heute Abend gewandelt. Vielleicht würde mir das ja noch einmal gelingen. Mein Körper begann zu kribbeln, und die Haut auf meinem Rücken spannte sich. Ich öffnete die Augen und atmete langsam und flach aus. Fast konnte ich spüren, wie die Nachtluft meine Haut streichelte. Ich fragte mich, wie hoch ich wohl kommen würde und ob es ein genauso gutes Gefühl wäre, als würde ich eine Seele nehmen.
Abbot würde ausrasten, sollte ich heute Nacht das Anwesen verlassen. Außerdem wäre es zu gefährlich. Nicht für mich, sondern für andere, weil ich momentan eine Bedrohung für unschuldige Menschen darstellte.
Zaynes Präsenz füllte mein ganzes Schlafzimmer aus. Ich drehte mich um, und zum ersten Mal seit dem Verlust meiner Fähigkeit, Seelen zu sehen, war ich froh, dass ich seine jetzt nicht wahrnehmen konnte. Er stellte ein großes Glas Orangensaft zwischen Notizbüchern und Druckerpapier auf meinem Schreibtisch ab. Dann schaute er mich besorgt an. „Wenn du irgendetwas brauchst, ruf mich an oder schick mir eine SMS.“
Ich nickte.
„Versprich es mir.“ Er kam nicht näher, wandte aber auch den Blick nicht von mir ab.
„Versprochen“, sagte ich, obwohl ich einen riesigen Kloß im Hals hatte. Manchmal … nein, nicht bloß manchmal! Jemanden wie ihn hatte ich überhaupt nicht verdient. „Danke.“
Er kniff kurz die Augen zu. „Dank mir nicht, Layla, Biene. Nicht dafür.“ Als er mich wieder ansah, hatten seine Augen einen dunkelblauen Farbton angenommen. „Du weißt, ich … ich würde alles für dich tun.“
Ich nickte blindlings, da mir Tränen in die Augen traten und mir die Sicht nahmen. Er lächelte mich schwach an, dann verließ er mein Zimmer. Ich ging sofort zum Schreibtisch, griff nach dem kühlen Glas und trank den Saft in einem Zug aus. Die Zitronensäure linderte den Heißhunger, und als ich das Glas hinstellte, machte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung aus. Ich wischte meine feuchten Hände an meinem Jeansrock ab und drehte mich um.
Die weißen Gardinen flatterten vor dem geschlossenen Fenster.
Ich wurde stutzig.
In meinem Zimmer gab es keinen Lufthauch, die Klimaanlage war nicht angegangen. Ich hätte diese riesige Bestie gehört, wenn sie sich eingeschaltet hätte. Außerdem war es draußen so kalt, dass die Anlage gar nicht anspringen konnte.
Ich wollte zum Fenster gehen, da sackten die Gardinen nach unten, bis sie wieder an der Wand anlagen. Okay, das war jetzt eindeutig merkwürdig. Ein kalter Hauch lief mir über den Rücken. Also gut, das war sogar richtig unheimlich. Aber auf einmal erwachte Bambi zum Leben und lenkte mich ab, da sie sich an meinem linken Bein nach oben schlängelte. Mit ihrer Bewegung waren zwar schmerzliche Erinnerungen verbunden, aber es diente jetzt einem anderen Zweck.
Du hast mich von meiner Langeweile abgelenkt.
Ich schnappte nach Luft, als mich der Schlag unterhalb der Knie erwischte. Ich drehte mich vom Fenster weg, zog den Reißverschluss meines Kapuzenshirts auf und streifte es vorsichtig ab, dann ließ ich es auf den Boden fallen. Ein Blick auf meinen Arm ließ mich zusammenzucken, da der weiße Verband einen großen dunklen Fleck aufwies. Was für eine schreckliche Nacht!
Ich biss mir auf die Lippe, zog mich aus und griff nach der kurzen Schlafanzughose. Ehe ich auch noch ein langärmeliges Oberteil anziehen konnte, glitt Bambi von meiner Haut. In der Dunkelheit war sie nichts als ein Schatten, während sie sich wieder zusammenfügte. Anstatt auf die Jagd zu gehen oder wie ein vergessenes Haustier zu Roth zurückzueilen, schlängelte sie sich zum Puppenhaus, das Abbot für mich gebaut hatte, als ich noch ein Kind gewesen war.
Das Puppenhaus hatte ich total demoliert, nachdem Roth verschwunden war und man mir verboten hatte, das Haus zu verlassen. Vor ungefähr einer Woche tauchte es dann auf einmal wieder hier in meinem Zimmer auf. Dach und Wände waren repariert worden. Ich vermutete, es war Zaynes Werk, aber ich wusste nicht, warum er sich die Mühe gemacht hatte und wieso ich so erleichtert gewesen war, als es auf einmal wieder da war. Offenbar hatte ich Probleme damit, Dinge loszulassen.
Bambi schaffte es, ihre ganzen Einmeterachtzig im obersten Stock zusammenzurollen und den Kopf auf das winzige Bett zu legen. Es schien für sie bequem zu sein. Und es sah eigenartig aus.
Minutenlang betrachtete ich den dämonischen Hausgeist. Eisige Kälte bildete sich in meiner Brust und ersetzte das entsetzliche Brennen. Warum hatte Roth mir Bambi überlassen? Sie war sein Hausgeist, nicht meiner. Außerdem schien ihm die Schlange immer sehr wichtig gewesen zu sein. Es ergab keinen Sinn, war aber vermutlich auch egal. Vor langer Zeit hatte er einmal zugegeben, dass er manche Dinge völlig grundlos tat.
Wie sich jetzt herausgestellt hatte, war ich nur eines von diesen vielen Dingen.
Es tat ziemlich weh, als ich ins Bett kletterte und mich auf meinen unversehrten Arm legte. Es war noch gar nicht so spät am Abend, als ich die Augen zumachte, doch es kam mir vor, als wäre seit heute Morgen eine Ewigkeit vergangen. Innerhalb weniger Stunden war meine ganze Welt auf den Kopf gestellt worden.
Ich roch nach einem Hohedämon. Roth war zurück und so gut wie unverletzt. Eine Lilin war geboren worden, weil ein Orgasmus offenbar apokalyptische Dimensionen besaß. Und Roth … ihm hatte ich nie etwas bedeutet.
Ich war für ihn nur ein Job gewesen.
Weiter nichts.
Mein Kopf schmerzte, als hätte ich ihn die ganze Nacht hindurch gegen die Wand geschlagen. Das wäre sicher witziger und fruchtbarer gewesen, als nur an die Decke zu starren und jeden Moment noch einmal zu durchleben, den ich mit Roth geteilt hatte. Ich war auf der Suche nach einem gravierenden Fehler in unserer scheinbaren Beziehung gewesen, aber das hatte genauso viel gebracht, als hätte ich Löcher in einen Eimer gebohrt und versucht, damit Wasser zu transportieren.
Roth war ein Dämon.
Ein männlicher Dämon.
Ein männlicher Dämon, der schöne Dinge begehrte.
Und ich war so unerfahren wie eine Nonne, also hatte ich vieles von dem, was er gesagt hatte, auf mich bezogen … was er gesagt und wie er mich angesehen hatte, jede Berührung und jeder Kuss. Ich war der Meinung gewesen, dass das etwas bedeuten musste, und dieser Schmerz war heftig. Er brannte bitter in meiner Kehle. Seltsam war nur, dass die Tränen einfach nicht über mein Gesicht laufen wollten. Ich wünschte, sie würden es tun, weil ich das Gefühl hatte, dass mit ihnen etwas Reinigendes einhergehen würde.
Als es Zeit wurde, zur Schule zu gehen, kuschelte ich mich in die schwere, warme Decke. Ich wartete darauf, dass jemand hereinkam und mir sagte, ich müsse aufstehen. Doch das Einzige, was ich hörte, waren Nicolais Schritte, und zwar zu dem Zeitpunkt, an dem er mich normalerweise zur Schule fahren sollte. Er machte nicht die Tür auf, um nach mir zu suchen. Nach ein paar Sekunden verhallten seine Schritte im Erdgeschoss.
Erneut schloss ich die Augen, war mir aber nicht sicher, ob ich dankbar dafür sein sollte, dass sich niemand für mich interessierte, oder ob ich mich verletzt fühlen sollte. Vor Roth … bevor der Clan von ihm und unserer Beziehung gewusst hatte, wäre Abbot oder sonst jemand längst hergekommen, um mich aus dem Bett zu schleifen oder um sich zumindest zu vergewissern, dass ich nachts nicht von Freddy Krueger entführt worden war. Und jetzt? Nichts. Mehr als jemals zuvor kam ich mir wie ein Hausgast vor, der auf Dauer bleiben sollte, aber längst nicht mehr willkommen war.
Als ich wieder einnickte, begab sich mein Gehirn in alle Richtungen auf Wanderschaft. Ein alter Plan kam mir in Erinnerung, an den ich schon lange nicht mehr gedacht hatte. Mein schläfriger Blick glitt in Richtung Schreibtisch. Das leere Glas stand auf dem Stapel College-Bewerbungen. Diese Papiere waren so gut wie in Vergessenheit geraten, und vermutlich war es bereits zu spät, um sich für den nächsten Herbst noch einzuschreiben. Aber vielleicht sollte ich genau das tun.
Zum Teufel mit allem – mit der Lilin, mit Roth, mit sämtlichen Wächtern. Ich konnte weit weg von hier auf ein College gehen und so tun … was? So tun, als wäre ich ganz normal? Das konnte ich hinkriegen, immerhin machte ich das schon seit Jahren. Ich könnte mich dort unter die Leute mischen und aus alldem hier eine weit entfernte Erinnerung machen. Es war eine egoistische Entscheidung, aber das war mir egal. Ich wollte egoistisch sein und nicht länger hierbleiben, gefangen in diesem Körper oder mit all diesen Problemen belastet.
Ein Gutes war, dass ich ihn in der Schule nicht sehen würde. Es gab für Roth keinen Grund, wieder dort aufzutauchen.
Irgendwann schlief ich ein und wachte wieder auf, als ich spürte, wie sich die Matratze unter einem Gewicht neigte und die Decke bewegt wurde. Desorientiert blinzelte ich in die Dunkelheit. Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust, und ich schaute über die Schulter.
Ein himmelblaues Augenpaar schaute mich an.