„Allmählich glaube ich, dass wir auf die bescheuertste Schule in ganz Nordamerika gehen“, sagte Stacey beim Mittagessen. Zwischen zwei schwarz lackierten Fingernägeln hielt sie ein Chicken Nugget eingeklemmt. „Ich meine, wo findet man sonst Lehrerinnen, die bei einem Kollegen den Nussknacker machen?“
Sam verzog den Mund und ließ seine Kringelfritte auf den Teller fallen. „Ja, das war ziemlich verrückt.“
Es war mehr als nur ziemlich verrückt. Seit der Schlägerei im Biounterricht waren bis zu diesem Zwischenfall nur ein paar Tage vergangen. Da musste noch irgendetwas anderes laufen. Und was war mit dem Pärchen, das es mitten im größten Trubel im Korridor getrieben hatte? Ich knabberte an meinem Nugget und hoffte, dass ich mit meinem Verdacht falschlag. Trotzdem war angeblich eine Lilin geboren worden, und unerklärliches Verhalten war nun einmal ein Zeichen für die Anwesenheit einer Lilin, richtig? Aber wenn die hinter Deans Wut, dem hemmungslosen Pärchen und der Lehrerin steckte, waren das schon vier Leute, die kurz davorstanden, zu Geistern zu werden. Die Last einer solchen möglichen Katastrophe raubte mir den Atem.
Ich schaute über die Schulter und wünschte, ich könnte wieder Auren sehen. Diejenigen, die von der Lilin betroffen waren, mussten irgendwie anders sein, da die Überreste ihrer Seelen irgendeine Art von Makel aufweisen würden. Aber ich nahm nichts wahr und war damit praktisch nutzlos.
Ich erschauderte, als ich das angeknabberte Nugget auf mein Tablett legte. Hing der plötzliche Verlust meiner Fähigkeit vielleicht mit der Lilin zusammen? Falls ja, würde es bedeuten, dass ich mich in ihrer Nähe aufgehalten hatte.
Nein, das war undenkbar. Ich würde es merken, wenn etwas anwesend wäre, das sich mein Blut und das meiner Mutter teilte. Es musste irgendetwas anderes sein.
„Was habt ihr nach der Schule vor?“, fragte Sam. Als ich hochsah, schaufelte er sich gerade alles rein, was noch auf seinem Teller lag. Dieser Junge und sein Appetit waren einfach legendär. „Ich hab überlegt, dass wir uns irgendwo was zu essen holen könnten. Nur wir drei.“
Ich lächelte.
Hoffnungsvoll sah Stacey mich an. „Ich muss heute nicht auf meinen kleinen Bruder aufpassen. Also hab ich Zeit. Layla?“
In Anbetracht der Tatsache, wie sich Abbot gestern Abend aufgeführt hatte, wollte er bestimmt, dass ich von der Schule direkt heimkam. Was bedeutete, dass es das Letzte war, was ich wollte. „Ja, ich schicke Zayne nur eine SMS, damit er Bescheid weiß.“ Nicolai würde dagegen ganz sicher keine Nachricht von mir kriegen. „Das dürfte kein Problem sein.“
„Du solltest ihn auch einladen“, schlug sie vor und klatschte dabei in die Hände wie ein Seehund auf Crack.
Als Sam daraufhin die Augenbrauen hochzog, hätte ich die Idee fast verworfen, aber dann nahm ich mein Handy und dachte mir: Was soll’s? Mehr als Nein konnte Zayne nicht sagen, und das wäre auch nicht das erste Mal. „Ich frag ihn.“
Während ich anfing zu schreiben, warf Stacey Sam einen überraschten Blick zu.
Stacey & Sam wollen nach der Schule irgendwo was zu essen holen. Willst du mitkommen?
Ich legte das Handy neben den Teller, rechnete aber nicht mit einer schnellen Antwort. Zayne würde jetzt wohl schlafen.
„Meinst du, er kommt?“, fragte Sam, der mit seiner Gabel spielte.
„Wahrscheinlich nicht“, antwortete ich schulterzuckend.
„Falls doch, kannst du ihn nicht um ein Interview bitten.“ Mit der Wasserflasche in der Hand zeigte Stacey warnend auf Sam. „Und du kannst dich auch nicht wie ein irrer Fan aufführen. Damit erschreckst du ihn nur, und dann kommt er nie wieder raus, um mit uns zu spielen.“
Sam lachte leise. „Ich werde mich nicht wie ein irrer Fan aufführen.“
Das war eher zweifelhaft. Die wenigen Male, bei denen Sam auf Zayne getroffen war, hatte er ihn voller Ehrfurcht angestarrt und den Mund nicht mehr zugekriegt. Ich konnte ihm das gar nicht mal verübeln. Die Wächter mischten sich nicht oft unters Volk. Die meisten Leute wussten nicht mal, dass ein paar von den ganz normalen Menschen auf der Straße, in Geschäften oder Restaurants in Wahrheit Wächter waren.
Stacey grinste in die Runde. „Irgendeine Idee, wo …“
„… ich bin?“, ertönte in dem Moment eine tiefe Stimme, bei der mein Herz einen Satz machte. „Ich bin genau hier.“
Auf keinen Fall hätte ich Roth an unserem Tisch haben wollen. Ein bösartiges Déjàvu verpasste mir einen Schlag auf den Kopf. Es war genauso wie damals, als Roth das erste Mal in meinem Leben aufgetaucht war. Ich konnte nicht fassen, dass er die Dreistigkeit besaß, zum Mittagessen ausgerechnet zu uns zu kommen. Und doch stand er jetzt da.
Ich kniff die Lippen zusammen, als er sich ohne Einladung und ohne eine irgendwie geartete Reaktion von unserer Seite einfach neben mich setzte. Er hatte keins von den orangefarbenen Plastiktabletts dabei, sondern stellte eine McDonald’s-Tüte auf den Tisch. Grinsend holte er eine kleine weiße Tüte heraus. „Fritte?“
Ich atmete tief durch. „Nein.“
„Ich nehme eine.“ Sam beugte sich über den Tisch und schnappte sich gleich ein paar Stück. „Schön, dass du wieder da bist. Drüsenfieber ist Scheiße. Ich hatte das mal, als ich … Oh!!“ Erschrocken riss er die Augen auf, als er den bösen Blick bemerkte, den Stacey ihm zuwarf.
Roth kümmerte sich nicht darum, was zwischen den beiden lief, sondern legte die Frittentüte zwischen uns gleich neben mein Telefon, dann holte er einen Cheeseburger heraus. „Ja, Drüsenfieber war die Hölle. So als wäre man an ein Bett gekettet.“
Fast hätte ich mich verschluckt.
Mein Handy vibrierte, auf dem Display wurde Zaynes Antwort angezeigt. Ehe ich es an mich nehmen konnte, hatte Roth es sich schon geschnappt. „Ich hole euch ab, dann gehen wir rüber.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Zusammen?“
Mir ging ein ganzer Schwall aus Flüchen durch den Kopf, als ich ihm das Telefon aus der Hand riss. „Es ist unhöflich, Nachrichten zu lesen, die für andere Leute bestimmt sind.“
„Tatsächlich?“
„O ja“, bestätigte Stacey. „Aber ich freue mich, dass Zayne sich uns zum Abendessen anschließt.“
Roth runzelte die Stirn, dann fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich freue mich auch.“
Ich stieß einen verächtlichen Laut aus.
Aus zusammengekniffenen Augen sah er mich an.
„Abendessen?“ Sam stutzte. „Ich dachte, wir holen gleich nach der Schule was zu essen. Und ich hatte mir eher den Italiener ein Stück die Straße runter vorgestellt, aber kein richtiges Abendessen …“
Daraufhin grinste Roth. „Egal, reden wir wieder von mir. Mir geht’s wieder gut, und ich bin zurück.“ Als er mir einen listigen Blick zuwarf, hätte ich ihm am liebsten eine gescheuert. Stattdessen hatte ich im Bett gelegen und ihm wie ein Baby nachgeweint. „Ich habe euch bestimmt gefehlt.“ Er biss von seinem Cheeseburger ab und grinste. „Sogar sehr.“
Ich wusste nicht, warum meine Emotionen so abrupt umschlugen. Der Schmerz, den seine Zurückweisung hinterlassen hatte, explodierte zu unbändigem Zorn von der Art, die Linda Blair im Exorzisten dazu veranlasst hatte, den Kopf rotieren zu lassen und grüne Kotze auszuspucken. Mein Verstand schaltete sich einfach ab, ich dachte an überhaupt nichts, als ich ihm den Hamburger aus der Hand nahm und ihn mit aller Kraft hinter Roth auf den Boden schleuderte. Das befriedigende Klatschen, als sich Ketchup und Majo wie ein Burger-Massaker auf dem Fußboden verteilten, zauberte mir ein breites Lächeln auf die Lippen.
Stacey begann hysterisch zu lachen.
Roth sah auf den Boden und drehte sich langsam zu mir um.
„Aber den wollte ich doch essen.“
„Pech gehabt“, gab ich zurück und verkniff mir ein irres Kichern. „Deine Fritten landen auch gleich da unten, wenn du nicht endlich deinen Arsch von hier wegbewegst!“
„Oha“, murmelte Stacey, während sie sich jetzt vor Lachen beinah schüttelte.
Sekundenlang starrten Roth und ich uns an, bis auf einmal seine Lippen zuckten, als müsste er sich ein Grinsen verkneifen. Meine Wut legte noch einen Gang zu. Dann griff er nach der Tüte Fritten. „Ich glaube, wir müssen uns unterhalten.“
„Nein, müssen wir nicht.“
„Doch, das müssen wir“, beharrte er.
Ich schüttelte den Kopf.
Roth starrte mich an, und auf einmal … auf einmal veränderte sich etwas an der Art, wie er mich ansah. Sein harter Gesichtsausdruck war ein wenig milder geworden. „Layla.“
„Also gut“, erwiderte ich und griff nach meiner Tasche, während mir ein wirklich dämlicher Gedanke durch den Kopf ging. Vielleicht wollte er sich ja dafür entschuldigen, dass er sich wie ein Arsch verhalten hatte. Nein, das war unwahrscheinlich. Ich drehte mich zu Stacey und Sam um, die sich beide köstlich amüsierten. „Schick mir eine SMS, wenn ihr wisst, wo wir uns nach der Schule treffen.“
„Geht klar.“ Nach einer kurzen Pause fügte Stacey hinzu: „Aber tu den Fritten nicht weh. Das wäre ein Sakrileg.“
„Das kann ich nicht garantieren.“ Ich ging los, ohne auf Roth zu warten, und war unglaublich stolz auf mich. Vor zwei Monaten hätte ich es nicht gewagt, eine Szene zu machen, aber inzwischen war aus mir ein anderer Mensch geworden.
Das wurde mir jetzt langsam klar.
Als ich an den Toiletten vor der Cafeteria vorbeikam, ging die Tür zu den Jungentoiletten auf, und Gareth kam herausgestolpert, gefolgt von einer Horde kichernder – ja, kichernder – Footballspieler. Sie stanken nach Pot und steuerten auf die Cafeteria zu.
„Für eine Tüte Cheetos könnte ich morden“, verkündete Gareth.
Einer von seinen Kumpels ergänzte lachend: „Und ich würde für ein paar Zimtschnecken ein Baby vor einen fahrenden Bus werfen.“
Wow, das waren aber zu allem entschlossene Schleckermäuler. Ich wusste, dass diese ganze Truppe ohne Ende Party machen konnte, aber keiner von denen kiffte. Das war eindeutig ein untypisches Verhalten. Waren sie womöglich auch … infiziert?
Roth holte mich ein. Er hatte keine Schultasche dabei, nur seine dämlichen Fritten. „Ich bin erstaunt. Das muss ich zugeben. Du hast mich überrascht.“
„Tatsächlich?“ Ich stieß ein raues Lachen aus und ärgerte mich, dass er auch noch den Entsetzten mimte. „Hast du gedacht, ich freue mich, dich zu sehen, nach allem, was du mir gesagt hast? Ernsthaft?“
Er steckte eine Fritte in den Mund und kaute nachdenklich darauf herum, als müsste er wirklich erst noch nachdenken. „Ja. Ich weiß, dass es so ist.“
Am Ende des Korridors blieb ich abrupt stehen und drehte mich zu Roth um. „Du bist größenwahnsinnig.“
„So weit würde ich nicht gehen.“ Und die nächste Fritte verschwand in seinem Mund.
„Du hältst dich für unentbehrlich, obwohl du es nicht bist.“
Er grinste mich an. „Genau genommen bin ich sogar sehr wertvoll. Als der Kronp…“ Ich riss ihm die Tüte aus der Hand und warf die restlichen Fritten in einen Abfalleimer. „So, jetzt weißt du, für wie wertvoll ich deinen ständigen Kronprinz-Scheiß halte.“
Roth stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich befinde mich noch im Wachstum und brauche Nahrung. Jetzt werde ich verhungern, und das ist allein deine Schuld.“
„Meinetwegen.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
Er sah mich an, schließlich legte er den Kopf in den Nacken und lachte los. Mir lief ein Schauer über den Rücken, da ich nicht auf diese Reaktion gefasst gewesen war. Ich hatte schon vergessen, wie ansteckend sein tiefes, volltönendes Lachen sein konnte. Aber schnell verstummte er wieder und setzte eine unerwartet düstere Miene auf. „Oh, Shortie, du machst es mir schon jetzt schwer.“
„Was mache ich dir schwer? Und hör auf, mich Shortie zu nennen!“
Er schüttelte den Kopf. „Komm schon, wir müssen ernsthaft reden. Irgendwo, wo uns keiner stören kann.“ Er ging auf die doppelflügelige Tür zu, und da wusste ich, wohin er wollte – zu unserer Treppe. Jenem Ort, den wir Schüler nicht aufsuchen sollten und um den alle einen großen Bogen machten. Die Treppe führte zur alten Turnhalle, es roch nach Schimmel – aber es war zuvor unser Ort gewesen.
Also auch der Ort, den ich als Letztes aufsuchen wollte. Aber Roth ging bereits die Stufen runter. Ich straffte die Schultern und folgte ihm. Nichts hatte sich in der Zwischenzeit an dem drei mal drei Meter großen Treppenabsatz geändert. Noch immer blätterte graue Farbe von den Betonwänden, das Geländer war von Rost überzogen. Staub trieb durch den Lichtkegel, der durch ein winziges Fenster am Kopf der Treppe fiel. Die Zeit hatte diesen Ort hier scheinbar vergessen.
Roth drehte sich zu mir um und lehnte sich gegen die Wand, dann hob er die Arme und streckte sich. Sein Shirt rutschte dadurch nach oben und gab den Blick frei auf einen Teil seines Bauchs und auf das Drachentattoo – Klopfer. Die blauen und grünen Schuppen leuchteten so strahlend wie immer. Roth hatte einmal gesagt, dass der Drache nur dann in Aktion treten würde, wenn es etwas wirklich Übles abzuwenden galt. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, was dafür noch passieren musste, wenn er den Drachen in jener Nacht mit Paimon nicht zum Einsatz hatte kommen lassen. Der Drache schlief jetzt, die Flügel hatte er eng angelegt, der Schwanz verschwand unter dem Bund von Roths dunkler Jeans. In Anbetracht dessen, wie tief diese Jeans auf seinen Hüften hing, bekam ich bei der Länge, die ich von Klopfers Schwanz sehen konnte, glühende Wangen.
„Layla …“
Ich zwang mich, den Kopf zu heben, und schnappte unwillkürlich nach Luft, als ich sah, wie sehr seine ockerfarbenen Augen leuchteten.
„Gefällt dir, was du siehst?“
„Nein, überhaupt nicht“, behauptete ich und ballte die Fäuste.
„Du schwindelst.“ Er begann spöttisch zu lächeln. „Und du bist nach wie vor eine miserable Lügnerin.“
Während ich um Geduld rang, ließ ich meine Tasche auf den Boden fallen. „Wieso bist du hier, Roth?“
Er antwortete nicht sofort. „Willst du die Wahrheit hören?“ „Nein, ich will natürlich Lügen hören.“ Ich verdrehte die Augen. „Was meinst du denn?“
Ein sanftes Lachen kam über seine Lippen. „Mir gefällt die Schule irgendwie. Solche Orte haben wir unten nicht.“ Er zuckte mit einer Schulter. „Es ist hier so normal.“
Etwas umklammerte mein Herz. Aus dem gleichen Grund mochte ich selbst auch die Schule. Hier konnte ich mich normal geben. Aber ich weigerte mich, ihm in irgendeiner Weise Verständnis entgegenzubringen. „Du solltest nicht hier sein.“
„Deinetwegen?“, fragte er und zog eine Braue hoch.
Herrgott, natürlich nur meinetwegen! wollte ich ihm ins Gesicht brüllen. „Weil deine Anwesenheit hier sinnlos ist.“
„Eigentlich nicht.“ Er nahm die Arme endlich runter, wofür ich Gott dankte, weil sein Bauch mich so nicht länger ablenken konnte. „Du willst mir doch sicher nicht erzählen, dass dieser Kampf auf Leben und Tod heute Morgen ganz normal gewesen ist.“
Ich erwiderte gar nichts.
„Und ich nehme an, dass das nicht der einzige seltsame Zwischenfall in den letzten Tagen gewesen ist, richtig?“ Aus leicht zusammengekniffenen Augen sah er mich an.
Am liebsten hätte ich das abgestritten, weil ich nicht wollte, dass er noch überheblicher dreinblickte. Aber das wäre dumm gewesen. Ich durfte nicht das eine sehr reale und gewaltige Problem vergessen, dem wir uns gegenübersahen. „Es gab ein paar merkwürdige Dinge, ja. Dean, ein Junge, der sonst keiner Fliege was zuleide tut, hat einen Mitschüler derart brutal zusammengeschlagen, dass der wiederbelebt werden musste. Und ein Pärchen hat es im Korridor getrieben und …“
„Das ist doch nichts Schlimmes“, meinte er amüsiert.
„Nur dass an dieser Schule ein strenges Verbot für öffentliche Liebesbekundungen gilt und ein Lehrer desinteressiert an den beiden vorbeigegangen ist, als die zwei sich gerade eben auf die Mädchentoilette zurückgezogen haben.“ Ich strich meine Haare nach hinten und legte eine Hand auf den Ring an meiner Halskette. „Meinst du also, die Lilin war hier?“
Er nickte. „Das ergibt einen Sinn. Immerhin wurde sie ja auch hier erschaffen. Und genau deshalb müssen wir reden. Du solltest in der Lage sein, die Lilin ausfindig zu machen, zumindest aber jenen seltsamen Dämon, der sich hier an der Schule aufhält.“
„Ähm …“ Ich sah zur Seite und zog an der Kette. Ich wollte es ihm eigentlich nicht sagen, aber er war ein Dämon, und vielleicht wusste er ja, was los war. „Na ja, eigentlich nicht.“
Er stieß sich von der Wand ab, stellte sich kerzengerade hin und war ganz auf mich konzentriert. „Wie meinst du das?“
„Ich kann keine Auren mehr sehen. Nichts. Das hat vor ein paar Tagen angefangen.“
„Einzelheiten. Erzähl mir alles.“
„Na ja, die Auren fingen beim Mittagessen an zu flackern“, erklärte ich seufzend. „Dann war da dieser stechende Schmerz hinter meinen Augen, und seitdem sehe ich keine Auren mehr. Ich stehe also praktisch im Dunkeln da und kann Dämonen nicht so wahrnehmen, wie das den Wächtern möglich ist. Jedenfalls nicht so intensiv. Diese Fähigkeit habe ich nie trainieren müssen.“
„Das kann kein Zufall sein.“
„Das habe ich auch schon befürchtet“, sagte ich und ließ den Ring los. „Ich hatte gehofft, es würde keine Verbindung zur Lilin geben.“
Roth erwiderte nichts. Nachdenklich runzelte er die Stirn und betrachtete mich so eindringlich, dass ich mich am liebsten gewunden hätte. „Und was glaubst du, wie sie auf meine Fähigkeit einwirkt?“, fragte ich, als mir das Schweigen zu viel wurde.
„Ich weiß nicht.“ Endlich schaute Roth zur Seite und kratzte sich am Kopf. „Aber dann werden wir die Lilin auf die altmodische Weise suchen müssen.“
„Wir?“
Sein unterwürfiger Blick wäre beinah lächerlich gewesen, aber in Wahrheit war er unglaublich sexy, wofür ich Roth hasste. „Ja. Wir. Du und ich. Wie zwei …“
„Nein.“ Ich hob die Hand. „Wir werden nicht noch einmal zusammenarbeiten, ganz gleich, wobei.“
„Hatten wir diese Unterhaltung nicht schon einmal?“ Er machte einen Schritt auf mich zu, ich wich zurück. „Denk mal daran, wie gut das ausgegangen ist. Wir waren das perfekte Team.“
Ich ging weiter nach hinten, bis ich die kühle Wand im Rücken spürte. „Da wusste ich auch noch nicht, dass ich nur ein billiger Zeitvertreib für dich war.“
Seine Zungenspitze strich an seinen oberen Schneidezähnen entlang. Ich konnte die kleine Kugel sehen, die dem Stecker Halt gab. Es sollte wohl nicht sein einziges Piercing sein, aber von dem Gedanken verabschiedete ich mich sofort. Darüber musste ich nun wirklich nicht nachdenken.
„Es war gehässig von mir, so was zu sagen. Das gebe ich zu. Ich neige dazu … dumme Dinge von mir zu geben. Ich bin ein Idiot.“
„Da kann ich nur zustimmen.“
Plötzlich kam er so schnell auf mich zugeschossen, dass ich die Bewegungen gar nicht nachvollziehen konnte, sondern nur sah, wie er im nächsten Moment vor mir stand. „Was ich über Eva gesagt habe, war auch nicht so gemeint.“
Etwas in mir – etwas unglaublich Dummes, das erstochen gehörte – öffnete sich wie eine Blüte, die zum ersten Mal die Sonne sah. Ich versuchte es zu ersticken. „Kümmert mich nicht.“
„Doch, tut es.“ Er senkte den Kopf, seine Lippen kamen meinen bedenklich nahe. Ich verkrampfte mich, vermochte kaum zu atmen, und mein Herz begann zu rasen. „Es hat dich verletzt.“
„Wieso interessiert dich das überhaupt?“
Roth sagte nichts. Meine Lippen kribbelten, weil er mich so eindringlich ansah. Ganz leicht legte er die Hände auf meine Hüften, sodass sie fast nicht zu spüren waren. Ich umfasste seine Handgelenke und wollte ihn von mir wegdrücken. „Tu es nicht“, sagte er leise.
„Wieso?“, flüsterte ich und klammerte mich schon an den winzigen Funken Hoffnung, der in mir aufkeimte. „Und warum hast du dann all diese Dinge zu mir gesagt, wenn du es nicht so gemeint hast …“
„Ist doch egal.“ Innerhalb eines Augenzwinkerns hatte er sich ein paar Meter von mir entfernt. „Wir müssen Freunde sein. Zumindest müssen wir so gut miteinander auskommen, dass du nicht mein Fast Food in den Müll schmeißt, sobald ich den Mund aufmache.“
Mit einem Mal war er ein anderer Roth. Nicht der Junge, der mich noch vor ein paar Wochen in seinen Armen gehalten und all diese wunderbaren Dinge mit mir gemacht hatte. Ehe ich mich zurückhalten konnte, platzte es aus mir heraus: „Habe ich dir irgendetwas bedeutet?“
„Das ist nicht wichtig“, sagte er tonlos, als er sich zur Treppe umdrehte. „Und das war es auch nie, Layla.“