Es kostete mich viel Mühe, über das hinwegzukommen, was Roth gesagt hatte, und den Tag zu Ende zu bringen. Ich hatte ihn nicht verstanden, und es würde noch lange dauern, ehe ich damit aufhören konnte, es zu versuchen. Während des Nachmittagsunterrichts schwankte ich die ganze Zeit zwischen der Alternative, Roth aufzuspüren und mit ihm das Gleiche zu machen wie mit seinem Hamburger, und der, ihn einfach nur endlos lange anzustarren.
Manchmal war es einfach scheiße, ein Mädchen zu sein.
Ich schleppte mich aus der Schule bis zur Straßenecke. Als ich den alten Impala entdeckte, brachte ich ein mattes Lächeln zustande. Fast hätte ich vergessen, dass Zayne mit uns essen gehen wollte, und während ich mit Roth beschäftigt gewesen war, hatte ich gar keine Gelegenheit gehabt, mir darüber Gedanken zu machen, dass Zayne sich einverstanden erklärt hatte, mit uns abzuhängen.
Dabei kam das nur sehr selten vor.
Ich beschloss, einen gewissen wankelmütigen Dämon für die nächsten Stunden zu vergessen, machte die Wagentür auf und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. „Hey“, begrüßte ich Zayne.
Er grinste mich an. Er trug eine Baseballkappe, die er so tief in die Stirn gezogen hatte, dass seine obere Gesichtshälfte fast ganz verdeckt wurde. Manche Männer konnten einfach keine Baseballkappen tragen, aber bei Zayne war das Gegenteil der Fall. „Wohin fahren wir?“
„Little Italy – zwei Blocks von hier entfernt.“
„Cool.“ Er sah in den Außenspiegel, einen Moment später fuhr er los.
„Danke, dass du gekommen bist“, sagte ich und ließ den Kopf gegen die Rückenlehne sinken. „Ich war überrascht, dass du zugesagt hast.“
„Das hättest du nicht sein müssen. Ich wollte mitkommen.“ Er streckte den Arm aus und strich mir sanft eine Strähne aus dem Gesicht. „Wie war’s in der Schule?“
Ich drehte mich zur Seite und betrachtete sein markantes Profil. „Darüber möchte ich jetzt nicht reden.“ Wenn ich ihm von den Vermutungen rund um die Lilin erzählen wollte, würde ich unweigerlich Roth erwähnen müssen, und dabei wollte ich doch diesen gemeinsamen Abend genießen. „Nach dem Essen?“
Er warf mir einen flüchtigen Blick zu. „Muss ich mir wegen irgendwas Sorgen machen?“, fragte er schließlich.
„Nein.“ Es gefiel mir, wie sich seine Haare kräuselten, die unter der Kappe hervorlugten. „Was hast du heute so getan?“
„Geschlafen“, antwortete er, während er am Lokal vorbeifuhr und nach einem Parkhaus Ausschau hielt. „Die letzte Nacht war langweilig. Auf den Straßen herrschte Totenstille. Ich weiß nicht, wieso, aber danach fühle ich mich am nächsten Tag viel müder als üblich.“
„Ist diese Totenstille ungewöhnlich?“ Ich musste an die Lilin denken.
„Kommt drauf an. Wenn das so weitergeht, dann ja.“ Nachdem wir im Erdgeschoss des Parkhauses einen Platz gefunden hatten – er hatte einfach unverschämtes Glück –, stellte er den Motor aus und drehte sich zu mir um, während er den Schlüssel abzog. „Nicht bewegen“, sagte er, und ich gehorchte ihm aus purer Neugier. Mit dem Daumen strich er über meine Unterlippe. „Du hattest da einen kleinen Fussel, und ich glaube …“
Weiter kam er nicht, da er abrupt nach Luft schnappte. Zuerst war mir nicht klar, was ich da tat, doch dann begriff ich nach und nach den Grund für seine Reaktion – dieses zermürbende Gefühl, bei dem sich mein Innerstes anspannte, seine geweiteten Pupillen, das plötzliche Strahlen seiner blauen Augen, die Art, wie er angestrengt durchatmete, der salzige Geschmack seiner Haut, als meine Zunge über die raue Daumenkuppe glitt.
O Gott!
O mein Gott!
Ich leckte an seinem Daumen. Ich leckte tatsächlich an seinem Daumen.
Und mein Körper reagierte auf den rundweg verbotenen Geschmack seiner Haut. Ein Gefühl von Schwere senkte sich auf meine Brüste herab, Hitze durchströmte mich. Zayne zog sich nicht zurück, ganz im Gegenteil. Es schien eher so, als würde er sich weiter zu mir vorbeugen wollen, obwohl er bereits mit dem Oberkörper über der Mittelkonsole hing.
Stöhnend wich ich vor ihm zurück. Meine Wangen glühten, mein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Zayne schaute mich an, sein Atem ging unregelmäßig. Ich hatte keine Ahnung, was ihm durch den Kopf ging, und ich wollte es auch gar nicht wissen.
Entsetzen trat an die Stelle der brodelnden Hitze, die mein Inneres in Lava verwandeln wollte. Was zum Teufel hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich brauchte Luft und Platz, also löste ich hastig den Gurt und schmiss mich förmlich aus seinem Wagen.
Mir brannten die Augen. Nach dem, was ich gerade gemacht hatte, würde ich dieses gemeinsame Abendessen nicht durchstehen. Ich musste ein Taxi rufen oder zu Fuß nach Hause gehen oder nach Alaska umsiedeln oder mir den Mund zunähen …
Als ich um den Impala herumlief, stand plötzlich Zayne vor mir. Den Schirm seiner Baseballkappe hatte er nach hinten gedreht, seine Augen waren weit aufgerissen. Ganz sicher hielt er mich für einen Freak. Und ich war ja auch ein Freak. Wie ein absoluter Feigling wich ich zur Seite aus, damit ich um ihn herumlaufen konnte, aber er stellte sich mir wieder in den Weg und legte die Hände auf meine Schultern.
„Hey. Wo willst du denn so eilig hin?“
„Keine Ahnung.“ Meine Kehle fühlte sich an, als würde sie sich zuschnüren. War ich vielleicht gegen ihn allergisch? Nein, das klang idiotisch. Vielleicht war es ja eine Panikattacke. „Wir sollten gehen. Am besten jetzt. Oder wir fahren nach Hause, wenn du das möchtest. Ich hätte dafür total Verständnis, und es tut mir …“
„Langsam, langsam, kein Grund zur Panik.“ Sanft knetete er meine Schultern. „Es ist okay. Alles ist bestens.“
„Nein, ist es nicht.“ Mir versagte die Stimme. „Ich …“
„Es ist wirklich alles in Ordnung.“ Er wollte mich an sich ziehen, aber als ich mich zu weigern versuchte, zog er einfach umso fester. Mein Gesicht drückte gegen seine Brust, ich atmete seinen frischen Duft ein. „Hör zu, du hast eine Menge Stress aushalten müssen, und es sind ein paar sehr verrückte Dinge passiert.“
Das stimmte zwar, aber das rechtfertigte nicht, dass ich irgendjemandem die Finger ableckte. Ich kniff die Augen zu, während er mich in die Arme nahm. Er beugte sich vor, bis sein Kinn auf meinem Kopf lag. Nur Zayne konnte so verständnisvoll sein. Manchmal war er einfach zu perfekt.
„Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe“, erklärte ich erstickt. „Mir war das nicht mal bewusst, bis … na ja, du weißt schon. Es tut mir schrecklich leid.“
„Hör auf.“ Er wiegte mich sanft hin und her, was etwas Beruhigendes an sich hatte. „Es war nicht …“
Ich lehnte mich weit genug zurück, um ihn ansehen zu können. „Es war nicht was? Nicht eklig? Ich bin mir ziemlich sicher, es wäre dir lieber gewesen, wenn ich nicht …“
„Du hast keine Ahnung, was mir lieber wäre und was nicht.“ Das klang nicht herablassend, sondern mehr wie eine Feststellung.
In seinem Gesicht suchte ich nach der Antwort auf eine Frage, die ich noch nicht stellen konnte oder wollte. Er sah mir in die Augen, und ich senkte den Blick. Dann legte er eine Hand auf meine Wange, was bei mir ein überwältigendes Gefühl von Zuneigung aufkommen ließ, begleitet von etwas noch Eindringlicherem.
„Wir sollten uns auf den Weg machen. Deine Freunde warten schon auf uns.“
Ich nickte, und als wir aus dem Parkhaus in die rasch verblassende Novembersonne traten, drehte er seine Kappe wieder so, dass der Schirm seine Augen vor dem grellen Licht schützte. Bis zum Lokal war es ein halber Block, aber wir redeten kein Wort. Ich war mir nicht sicher, ob es etwas mit meiner Leckaktion zu tun hatte oder ob es einen anderen Grund gab.
Die hübsche junge Kellnerin führte uns durch den schmalen Gang zwischen den Tischen, wobei sie Zayne kaum einmal aus den Augen ließ.
„Wenn Sie irgendetwas brauchen, lassen Sie es mich bitte wissen“, sagte sie nur an Zayne gewandt, als wir vor einem der Tische stehen blieben.
„Werden wir machen“, gab er lächelnd zurück.
Ich musste mich davon abhalten, die Augen zu verdrehen. Stacey und Sam saßen bereits an dem Tisch, der mühelos Platz für sechs Leute bot. Die beiden gaben ein süßes Paar ab – Sam mit seinem welligen Haar, das bis an den Rand seiner Brille reichte, und Stacey, die die Hände auf dem Tisch gefaltet hatte. Ich hoffte wirklich, dass sich erfüllen würde, was die beiden sich erhofften.
Und dass dazu auch gegenseitiges Fingerablecken gehören würde.
Zayne rutschte auf der Sitzbank durch, woraufhin Sam sich sofort gerader hinsetzte. Ich überspielte mein Grinsen, während ich mich zu Zayne setzte. „Tut mir leid, dass wir etwas spät dran sind.“
„Kein Problem“, sagte Stacey. „Wir haben solange Knabberzeugs gemampft.“
„Vermutlich wären wir zu Fuß schneller gewesen.“ Zayne lehnte sich nach hinten und legte einen Arm auf die weinrote Rückenlehne. „Aber ich werde mein Baby auf keinen Fall irgendwo am Straßenrand parken.“
Als Zayne seinen Wagen erwähnte, erwachte sofort Sams Interesse, und er begann eine Unterhaltung über den Impala. Stacey und ich sahen ihn nur an, und vermutlich rechnete sie genauso wie ich damit, dass er jeden Moment anfing zu hyperventilieren, aber er blieb tatsächlich cool.
Nachdem die Kellnerin unsere Getränkebestellung aufgenommen hatte, fuchtelte Sam mit einer Knabberstange, als wäre die ein Zauberstab. Dabei verteilte er kleine Spritzer Knoblauchsoße auf der karierten Tischdecke. „Wusstet ihr, dass sie in Supernatural extra einen Chevy Impala genommen haben, weil eine Leiche im Kofferraum Platz hat?“
Zayne blieb ganz gelassen. „Ich möchte wetten, dass man da sogar zwei Leichen verstauen kann.“
Sam grinste, sah aber im gleichen Moment zur Seite, als Zayne neben mir erstarrte. Die Atmosphäre im Restaurant veränderte sich schlagartig und nahm etwas Unnatürliches an. Zayne streckte sich und drehte den Kopf zur Seite, und als ich ihn leise fluchen hörte, wusste ich Bescheid. Ich wusste es, auch wenn es keinen Sinn ergab.
Stacey, die mir gegenübersaß, zog abrupt die Brauen hoch. „Ähm …“
Ich kniff die Augen zu, als ich spürte, wie er an unserem Tisch stehen blieb.
„Na, dass ich euch hier treffen würde“, sagte Roth und machte keinen Hehl aus seinem spöttischen Tonfall. „Und sogar alle zusammen.“
Als ich mich zwang, die Augen aufzumachen, war er immer noch da. Er zwinkerte mir zu, und ich wollte in diesem Moment nur das Gleiche tun, was ich am Morgen bei dieser Lehrerin beobachtet hatte.
„Hey, Roth.“ Sam winkte ihm zu. „Willst du dich zu uns setzen? Wir haben Platz genug.“
Ich wollte protestieren, aber da setzte sich Roth schon neben mich. Stacey sah uns drei an, als würde ihr jetzt nur noch eine Portion Popcorn fehlen.
„Wie praktisch, dass du ausgerechnet hier reinspazierst“, merkte Zayne an. Sein Arm lag weiter auf der Rückenlehne, aber er beugte sich vor und stützte sich mit dem anderen Arm auf dem Tisch ab. „Und das bei bestimmt tausend Restaurants in der ganzen Stadt.“
Roth runzelte die Stirn, streckte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit einem Mal kam es mir so vor, als würde ich auf einem schmalen Hocker kauern. „Da habe ich wohl Glück gehabt.“
„Statistisch gesehen ist es eher unwahrscheinlich, dass er uns hier zufällig antrifft“, sagte Sam mehr zu sich selbst, während sich Stacey langsam zu ihm umdrehte. „Aber das Lokal ist nur zwei Blocks von der Schule entfernt, was die Wahrscheinlichkeit erhöht.“
Ich riss die Augen auf. O nein, rettet die Panda-Babys! Ich hatte Zayne nichts davon gesagt, dass Roth unsere Schule besucht hatte. Nachdem Roth in die Dämonenfalle geraten und verschwunden war, hatte es dafür auch keine Notwendigkeit gegeben.
„Was hat das damit zu tun?“, wollte Zayne wissen.
Niemand am Tisch außer Roth kannte die Zusammenhänge, und irgendjemand würde es jetzt ausplaudern. Also kam ich allen anderen zuvor, zumal es wohl besser war, wenn er es von mir erfuhr. „Roth geht auf unsere Schule.“
Wie zur Marmorstatue erstarrt saß Zayne da.
Ich wagte einen Blick und sah, dass er Roth anstarrte. „Ach, wirklich?“
„Ihr zwei kennt euch gar nicht?“, fragte Stacey.
Die Muskeln in Zaynes Unterarm zuckten. „Wir sind uns ein-, zweimal begegnet.“
Roth lächelte verträumt. „Ach, das waren noch Zeiten.“
O Gott …
„Du weißt, dass er ein Wächter ist, nicht wahr?“, flüsterte Sam ihm zu, nachdem er sich vorgebeugt hatte. „Ich meine, ich hätte es dir mal beim Mittagessen gesagt, aber ich bin mir nicht sicher.“
„Sam!“, zischte Stacey ihm zu.
„Was denn?“, gab er irritiert zurück.
„Ich weiß nicht, aber ich finde es unhöflich, auf so was hinzuweisen.“
„Das ist nicht unhöflich.“ Roths goldene Augen funkelten schelmisch. „Ich hab das schon mal gesagt, ich finde das gewaltig.“
Zayne setzte ein Lächeln auf, dabei ballte er eine Faust. „Darauf möchte ich wetten.“
Ich wollte nur noch meinen Kopf auf die Tischplatte hämmern.
„Oh, aber ganz sicher. Du gehst doch da raus und hilfst beim Kampf gegen das Verbrechen und bei all den anderen guten Sachen“, erwiderte Roth, während ich mir ein Aufstöhnen verkneifen musste. „Das ist fantastisch. Ich wette, wenn du abends deinen kleinen … na ja, nicht ganz so kleinen Kopf aufs Kissen legst, fühlst du dich wie ein Held. Augenblick, schlaft ihr überhaupt in Betten? Ich habe mal gehört, dass Wächter …“
„Musst du eigentlich wirklich hier bei uns sitzen?“, unterbrach ich ihn, da meine Geduld am Ende war. Zayne aufzuziehen war ganz eindeutig nichts, was uns hier weiterhelfen würde.
„Na ja, jemand hat mich um mein Mittagessen gebracht.“ Roth warf mir einen unmissverständlichen Blick zu. „Also habe ich immer noch Hunger.“
„Ja, stimmt. Du schuldest ihm noch ein Essen“, meinte Sam grinsend.
Ich ließ die Schultern sinken.
Zayne lehnte sich zurück und setzte sich kerzengerade hin.
„Das ist jetzt gerade richtig peinlich geworden“, murmelte Stacey, doch ihre dunklen Augen funkelten vor Neugier.
Zu meinem Erstaunen war es aber nicht ganz so peinlich wie der Moment, in dem ich Zaynes Daumen abgeleckt hatte. Das Essen selbst war allerdings eine ziemliche Qual. Roth und Zayne tauschten die ganze Zeit über spitze Bemerkungen aus, Sam und Stacey waren ausschließlich darauf fixiert, dieses Hin und Her zu verfolgen, als würden sie ein Tennismatch ansehen. Als ich um die Rechnung bat, war ich bereit, irgendjemanden mit einem Tritt an den Hals ins Reich der Träume zu schicken.
Vor allem mich selbst.
Roth wollte von Zayne wissen, wie viel er eigentlich wog, da er laut Roth aus Stein bestand. Ich hielt in der Zwischenzeit Ausschau nach der Kellnerin und hoffte, sie würde die Rechnung bringen. Als Sam von den Toiletten zurückkam, fiel an der winzigen Theke im hinteren Teil des Restaurants ein Gast von seinem Hocker. Ich staunte, als Sam kurz über die Schulter schaute, dann mich ansah und die Nase rümpfte. Verdammt, dahinten konnte man sich wohl ordentlich betrinken. Während der Happy Hour gab es hier offenbar ein paar gute Angebote.
„Ich wiege genug“, gab Zayne zurück. „Was ist mit dir? Du siehst aus wie ein Sack Kartoffeln.“
Er stieß einen verächtlichen Laut aus. „Dann sieh lieber noch mal hin – oder besser noch: Lass mal deine Augen überprüfen. Können Wächter eigentlich degenerative Augenkrankheiten bekommen?“
Ich seufzte, betrachtete die anderen, überwiegend leeren Tische und wippte wie gestört auf meinem Platz vor und zurück. Ich war schon zur Toilette gegangen, aber ich überlegte, ob ich mich vielleicht verstecken sollte, bis wir gehen wollten. Im Restaurant war nicht allzu viel los, aber es war auch erst kurz vor der Zeit, um die die meisten Leute zu Abend aßen. Das Gezanke zwischen Zayne und Roth hielt an, geriet aber in den Hintergrund, als mein Blick an einem besetzten Tisch hängen blieb. Irgendetwas lenkte meine Aufmerksamkeit auf die zwei Männer, die dort saßen. Beide waren etwas älter als ich, ich schätzte sie ungefähr auf Zaynes Alter. Beide hatten braune Haare, die sie gleich kurz geschnitten trugen – so wie Cops oder Typen vom Militär. Ihre weißen Hemden wirkten gebügelt, wenn nicht sogar gestärkt. Soweit ich das erkennen konnte, hatten sie helle Kakihosen an. Natürlich gab es keine Aura zu sehen, da ich nach wie vor keine Seelen wahrnahm, und trotzdem wurde mein Blick geradezu magisch von diesen Kerlen angezogen.
Vielleicht lag es ja daran, dass sie die ganze Zeit auf unseren Tisch starrten wie zwei Psychopathen, die uns im Fadenkreuz hatten.
Ich erschauderte, als ich dem rechten Mann in die Augen sah. Sein Blick war völlig ausdruckslos, ja sogar kalt. Als wäre er ein Roboter.
Plötzlich landete Roths Hand auf meinem Oberschenkel, und ich zuckte zusammen. „Was gibt’s da zu sehen, Shortie?“
„Gar nichts.“ Ich wollte seine Hand wegschieben, aber Zayne kam mir zuvor.
„Finger weg, Kumpel.“ Er schleuderte Roth die Hand förmlich ins Gesicht. „Sofern du willst, dass die auch weiterhin zu deinem Körper gehören.“
Roth nickte, seine Miene nahm einen energischeren Ausdruck an. Er setzte zu einer Entgegnung an, aber in dem Moment kam die Kellnerin mit der Rechnung an den Tisch, die ich an mich nahm. „Ihr seid fertig?“, fragte ich Stacey und Sam, die wie gebannt dreinschauten, während sie nickten. Zayne kümmerte sich um die Rechnung, und ich stand so abrupt auf, dass ich Roth regelrecht von der Bank stieß.
Als Zayne sich ebenfalls erhob, beugte sich Roth vor und hauchte mir ins Ohr: „Lauft nicht gleich los. Wir drei müssen uns unterhalten.“
Zayne kniff die Augen zusammen und stellte sich zwischen uns, um eine hohe und breite Barriere zu bilden, die Roth ein unübersehbares Grinsen entlockte. Ich tat so, als müsste ich noch mal zur Toilette, damit Stacey und Sam sich vor uns auf den Weg machten und wir drei ungestört reden konnten. Ich hielt es für sinnvoll, diese Unterhaltung hier im Lokal zu führen und nicht an irgendeinem abgelegenen Ort, wo Zayne und Roth am Ende noch versuchen würden, sich gegenseitig umzubringen.
Kaum waren Stacey und Sam gegangen, setzte sich Roth auf Staceys Platz und gab uns ein Zeichen, dass wir uns ihm gegenüber setzen sollten. Seufzend rutschte ich auf der Bank durch. Die kleine Portion Spaghetti, die ich gegessen hatte, bekam meinem Magen überhaupt nicht, als ich einen Blick zu dem anderen Tisch warf. Beide Männer saßen noch immer da und beobachteten uns.
„Mach’s kurz“, warnte Zayne ihn. „Ich weiß nämlich nicht, wie lange ich deine Anwesenheit noch ertragen werde.“
Roth machte einen Schmollmund. „Du bist immer so gemein, Stony. Vielleicht hat dir ja jemand einen Stock in deinen Hintern geschoben, den du mal entfernen lassen musst.“
„Roth“, schimpfte ich und umklammerte die Tischkante. „Hör damit auf.“
„Er hat damit angefangen.“
Einen Moment lang bekam ich den Mund nicht mehr zu. „Was?
Hab ich es hier mit Zweijährigen zu tun?“
Er sah den vor Wut kochenden Zayne an, und dann entdeckte ich in seinen Augen wieder dieses leichte Funkeln. „Tja, also zumindest er guckt so aus der Wäsche, als müssten mal seine Windeln gewechselt werden.“
„Jetzt reicht’s.“ Zayne wollte aufstehen, doch ich legte ihm hastig eine Hand auf den Arm.
„Hör bitte auf, okay?“ Als er schnaubend ausatmete und sitzen blieb, ließ ich die Hand auf seinem Arm liegen. „Also, worüber willst du reden, Roth?“
„Er wusste nicht, dass wir in die gleiche Klasse gehen.“
Ich versteifte mich und lehnte mich zurück. „Es hat sich nie eine Gelegenheit ergeben, es ihm zu sagen, und ich will sehr hoffen, dass du nicht darüber mit uns reden willst.“
„Ich finde es nur interessant“, meinte er schulterzuckend, „dass du den besten kleinen steinernen Freund auf der ganzen Welt darüber im Dunkeln lässt.“
Nervös trommelte Zayne mit den Fingern auf der Tischplatte herum. „Komm zur Sache, Roth.“
Er ließ sich nach hinten sinken und wurde zum Sinnbild träger Arroganz. „Es gibt außer der köstlichen Lasagne noch einen anderen Grund, weshalb ich hier bin. Aus demselben, aus dem ich wieder in der Schule bin. Obwohl ich es herrlich normal finde, ist da noch was anderes.“ Er sah mich an. „Wir glauben, dass eine Lilin in der Schule war oder sogar noch ist.“
„Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.“
Roth beschrieb den heutigen Zwischenfall, und ich erzählte ihm von der Schlägerei, die sich davor zugetragen hatte. „Bis heute habe ich mir nichts dabei gedacht. Ich wollte es dir sagen, gleich …“
„Nach dem Abendessen?“, unterbrach mich Zayne. „Und dann wolltest du mir auch davon erzählen?“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Roth.
„Ja“, antwortete ich. „Ich wollte nicht … na, du weißt schon …“ „Uns das Abendessen verderben?“ Er lächelte Roth an. „Das kann ich gut verstehen.“
Roth verdrehte die Augen. „Jedenfalls sind die seltsamen Vorkommnisse in der Schule nicht der einzige Grund. Ich glaube, die Lilin wird auch versuchen, Kontakt zu Layla aufzunehmen“, fuhr er fort und überraschte mich damit völlig.
„Was?“, warf ich ein. „Warum hast du das nicht schon vorher gesagt?“
„Weil du nicht zum Plaudern aufgelegt warst“, gab er lächelnd zurück.
Das stimmte zwar, aber ein Argument war es nicht. „Und wieso glaubst du, sie will zu mir?“
„Die Lilin wird sich zu dir hingezogen fühlen“, erklärte er ruhig. „Immerhin teilt ihr euch das gleiche Blut.“
Ich erschauderte. Mein Stammbaum war wirklich äußerst verkorkst. Mein Vater war ein Wächter, der meinen Tod wollte. Meine Mutter war eine Superdämonin, an die sich niemand heranwagte, und jetzt war irgendwo da draußen auch noch eine Lilin unterwegs, die von sich behaupten konnte, meine Halbschwester zu sein. Super.
„Wäre die Lilin eine Gefahr für Layla?“, hakte Zayne nach und hob die Schultern, als wolle er mich an sich drücken und mit mir davonfliegen.
Roth schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung.“
„Das ist auch nicht unser vorrangigstes Problem“, warf ich ein und beugte mich vor. „Wenn die Lilin auf die Leute in der Schule eingewirkt hat, dann gibt es bereits vier Betroffene. Was wird aus ihnen werden?“
„Ich weiß nicht, ob es sich verhindern lässt, dass sie ihre Seele verlieren und zu Geistern werden. Es kann gut sein, dass es nicht nur die vier sind. Hunderte könnten … infiziert sein.“ Roth zog die Brauen hoch. Es war tatsächlich eine gute Idee, von Infizierten zu reden. „Es lässt sich nicht mal sagen, ob diese Infizierten diejenigen sind, die die Lilin einsetzen wird.“
„Einsetzen wird?“, wiederholte ich.
Roth zuckte flüchtig mit den Schultern. „Du weißt doch, wenn die Lilin einen Geist erschaffen, können sie ihn auch kontrollieren. Nur sie sind dazu in der Lage. Stell dir mal das Chaos vor. Nicht nur, dass eine Lilin ihr Unwesen treibt, sie erschafft auch noch gehässige beschränkte Geister, die was gegen die Lebenden haben.“
Das hatte ich tatsächlich völlig vergessen. „Wir finden also nur heraus, wen die Lilin ausgesucht hat, wenn …“ Ich musste schlucken. „… wenn die vier in der Schule sterben.“
Er nickte und wandte sich an Zayne. „Deshalb bin ich wieder dort und werde bleiben. Und ich finde, wir könnten ein bisschen ermitteln gehen.“
Ich wartete, aber er redete nicht weiter. „Und was schwebt dir da vor?“, fragte ich schließlich.
„Ich denke, wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass Dean infiziert ist. Mit ihm müssen wir reden.“
„Der hat Hausverbot bis Gott weiß wann“, machte ich ihm klar. Roth lächelte listig. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich seine Anschrift mühelos herausfinden kann.“
Daran hatte ich keinen Zweifel. Ich sah Zayne an, der bedächtig nickte. „Vielleicht kann er uns ja etwas erzählen, das uns eine Richtung vorgibt.“
„Seht ihr? Ich bin unverzichtbar.“ Roths Augen leuchteten. „So würde ich das nicht ausdrücken“, konterte Zayne. „Aber ich kann dir eines versprechen: Wenn du Layla wehtust oder auch nur einen Grund lieferst, dass sie dir einen merkwürdigen Blick zuwirfst, dann werde ich dich persönlich vernichten.“
Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Okay, also gut. Ich würde sagen, unser kleines Meet and Greet ist vorbei.“ Ich stieß Zayne an. „Lass uns gehen.“
Er trotzte noch einen Moment lang Roths Blick, dann stand er auf und hielt mir die Hand hin. Keine Sekunde länger konnte ich seinen übertriebenen Beschützerinstinkt leugnen. Aber andere zu verteidigen war schon immer seine Aufgabe gewesen.
„Ich wollte ihr nicht wehtun.“
Wir drehten uns zu Roth um, der ebenfalls aufgestanden war. Ich schnappte leise nach Luft, und Zayne verzog den Mund. „Ganz wie du meinst, Mann.“ Er beugte sich vor, und auch wenn er breiter als Roth, aber nicht ganz so groß war, machte ihn das nicht weniger beeindruckend. „Du kannst deine Spielchen mit anderen Leuten treiben, aber bei ihr wirst du diesen Scheiß nicht durchziehen.“
Ich drückte Zaynes Hand, ehe es zwischen den beiden noch zum Kampf auf Leben und Tod kommen konnte. „Lass uns gehen.“
Ein Muskel an Roths Kiefer zuckte, als wir uns wegdrehten. Ich wusste, er folgte uns, und als ich über die Schulter sah, wunderte es mich nicht, ihn hinter uns zu sehen. Allerdings überraschte es mich, dass die beiden Kakihosen-Träger ebenfalls aufgestanden waren. Ich stutzte.
Roth bemerkte meine Reaktion und folgte meiner Blickrichtung. Dann sah er wieder zu mir und presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Es wirkte so, als hätte er verstanden, was ich dachte – dass mit diesen Typen da etwas nicht stimmte.
Draußen gingen gerade die Straßenlaternen an. Zayne hielt meine Hand fester umschlossen, als wir um eine Gruppe Passanten herumgingen, die alle auf den Bus warteten. Er seufzte, als ihm auffiel, dass Roth noch immer bei uns war. „Ist das dein Ernst? Willst du uns zu meinem Wagen bringen?“
„Ich glaube schon.“ Roth wurde etwas langsamer und fiel einen Schritt zurück. „Wir werden verfolgt.“
Unter dem Schirm seiner Kappe konnte ich sehen, wie sich Zaynes Pupillen weiteten, als er über die Schulter schaute. Er sah wieder nach vorn und wurde etwas schneller. „Zwei Männer?“
„Richtig“, antwortete Roth.
Ich wollte mich auch so gern umdrehen, aber das wäre sicher zu auffällig gewesen. „Irgendeine Ahnung, wer die zwei sind?“
„Nö. Aber vielleicht wollen sie nur deine Telefonnummer haben“, meinte Roth. „Vielleicht gehören sie zu deinem Fanclub.“
Er hatte mal gesagt, er würde der Präsident meines Fanclubs sein, was eigentlich ziemlich dumm war, weil diese Worte gar nichts bedeuteten. Ich atmete die frische Luft tief ein. „Und was machen wir jetzt?“
„Dein Wagen steht im Parkhaus, richtig?“, wandte sich Roth an Zayne. Als ich ihm einen verwunderten Blick über die Schulter zuwarf, zwinkerte er mir zu. „Ich bin euch beiden gefolgt.“
„Großartig.“ Zayne ließ mich los und legte seine Hand stattdessen an mein Kreuz. „Dann bist du also Dämon und Stalker. Wahnsinn.“
„Sehr witzig, Stony.“ Roth grinste gehässig, als er Zaynes tiefes Grollen hörte. „Wollen wir doch mal sehen, ob sie uns wirklich folgen. Was können sie uns schon Schlimmes anhaben? Es sind ja nur Menschen.“
Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, zu welchen schrecklichen Dingen Menschen fähig waren, aber es ging gar nicht anders. Ich musste an das eine Mal denken, als Roth und ich in einem Parkhaus von diesen Folterdämonen angegriffen worden waren, die zu gern Fußball mit unseren Köpfen gespielt hätten. So wie mit Gassen hatte ich auch mit Parkhäusern nicht sehr viele positive Erfahrungen gemacht.
Wir gingen um die Ecke, und aus meinem Mund stiegen kleine dunstige Wolken auf. Meine Nase war eiskalt, als ich mich endlich umdrehte. Einige Leute waren hinter uns, auch die beiden jungen Männer. Ihre Hemdschöße flatterten bei jedem Schritt. Etwas Metallisches reflektierte das Licht. Mein Herz begann zu rasen. „Ich glaube, einer von ihnen ist bewaffnet.“
Roth kicherte schadenfroh. „Wenn die versuchen sollten, uns zu überfallen, lach ich mich tot.“
„Da wärst du aber der Einzige“, gab ich zurück und rümpfte die Nase. Überfallen zu werden gehörte nicht zu den Dingen, die ich auf meine Liste mit allen Katastrophen der aktuellen Woche setzen wollte.
„Was denn?“, fragte Roth, als wir den Eingang zum Parkhaus erreichten. „Wenn es wirklich darum geht, haben sie sich die falschen Leute ausgesucht.“
Im Parkhaus war alles ruhig, die Deckenlampen tauchten die Wagen und den fleckigen Betonboden in mattes gelbes Licht. Nichts an diesem Parkhaus hatte etwas Einladendes an sich, das einem das Gefühl gab, hier werde einem schon nichts passieren.
An der ersten Wagenreihe hallten hinter uns Schritte wider. Roth blieb stehen, Zayne drehte sich um und stellte sich vor mich, dann nahm er die Kappe ab und gab sie mir. Ich fragte mich, was ich seiner Meinung nach damit tun sollte. Aufpassen, dass kein Dreck rankam?
Einer der jungen Männer kam auf uns zu, es war nicht der, bei dem ich die Waffe vermutete. Im fahlen Licht sah sein Gesicht eingefallen aus, so als hätte er schon seit einiger Zeit nicht mehr genug zu essen bekommen.
Roth verschränkte die Arme, sodass sein Hemd am Rücken spannte. „Was geht ab, ihr Bürschchen?“
Ich verdrehte die Augen.
Der vordere Mann griff hinter sich, und mir blieb das Herz stehen. Roth nahm die Arme runter, Zayne ging in Lauerstellung. Der Kerl holte etwas Schwarzes, Rechteckiges hervor, das eindeutig keine Waffe war. Er hob das Ding wie einen Schild vor sich und hielt es krampfhaft fest.
Roth lachte laut auf. „Ihr wollt uns wohl verarschen.“
In der rechten Hand hielt der Typ eine Bibel. „Wir wissen, wer ihr drei seid“, erklärte er, während er Zayne und Roth ansah und dann auf die Stelle schaute, an der ich hinter Zayne hervorlugte. „Gottes Irrtum, ein Dämon aus der Hölle und etwas noch viel Schlimmeres.“