14. KAPITEL

„Ich hab’s gewusst!“

Zerknirscht sah ich Stacey an, die sich im kleinen Spiegel in ihrer Spindtür betrachtete und mit den Fingerspitzen ihr Haar kämmte. Da ich unbedingt mit jemandem über das hatte reden müssen, was sich mit Zayne abgespielt hatte, war Stacey gleich am Montagmorgen von mir überfallen worden. So leise wie möglich hatte ich ihr alles erzählt, angefangen bei Danikas Äußerung bis zur barbusigen Tugendhaftigkeit. Abzüglich der Sache mit dem Tattoo.

„Woher?“

Sie warf mir einen Blick zu, der Überlegenheit vermitteln sollte. „Na ja, wenn man sieht, wie er sich gegenüber Roth verhalten hat, dann war es ziemlich offensichtlich, dass er es nicht mag, wenn du mit einem anderen Typen unterwegs bist.“

Ich machte einem Mädchen Platz, das durch den Korridor rannte. „Er kann Roth einfach nicht leiden.“

Stacey verdrehte die Augen. „Und es passt sehr gut dazu, dass er endlich den ersten Schritt unternimmt. Er hat einen Konkurrenten bekommen.“

Meine Lippen formten ein stummes O. So hatte ich das Ganze noch gar nicht gesehen. Konnte es sein, dass Zayne mich wegen Roth endlich nicht mehr nur als das kleine Mädchen sah, das sich im Schrank versteckt hielt? Oder hatte er mich schon längst nicht mehr so wahrgenommen, und jetzt wurde er endlich aktiv, weil er dachte, ich interessiere mich für einen anderen?

Ich hielt mir vor Augen, dass es letztlich völlig egal war, weil wir nicht zusammen sein konnten. Erstens würde Abbot völlig ausrasten, zweitens konnten wir uns ja nicht mal küssen. Trotzdem ging mir die Sache nicht aus dem Kopf, als wir in Richtung Klassenraum losmarschierten.

„Es kann doch eigentlich nicht so unvorstellbar für dich sein, dass Zayne sich zu dir hingezogen fühlt. Du bist richtig hübsch, Layla. Von der Art, die Jungs …“

„Sag jetzt nicht ‚von der Art, die Jungs ins Bett kriegen wollen‘. Das ist nämlich einfach nur schräg.“

Lachend knuffte Stacey mich in die Seite. „Okay, ich will damit nur sagen, dass man kein Genie sein muss, um das mit Zayne zu kapieren. Es ist ja schließlich nicht so, als wollte Danika dich verkuppeln. Und Zayne“, sie sprach jetzt deutlich leiser, „hat dich auf eine total unplatonische Weise berührt. Es ist alles ganz simpel. Tu es einfach.“

Tu es einfach.

Ich schüttelte den Kopf, auch wenn mein Herz wieder schneller zu schlagen anfing. „Es ist kompliziert.“

„Nein, ist es nicht.“ Vor der Tür zum Klassenzimmer blieb sie stehen und riss die Augen auf. „Ich hatte gerade die perfekteste Idee in der Geschichte aller Ideen.“

Skeptisch zog ich eine Braue hoch. So was aus Staceys Mund zu hören machte es sehr unheimlich, und vermutlich bestand dabei auch noch das Risiko einer Gefängnisstrafe. „Was denn für eine?“

„Du weißt doch, wie du das mit dem Kinobesuch zu Thanksgiving für Sam und mich arrangiert hast, oder?“ Ihre Augen funkelten vor Begeisterung. „Du solltest Zayne einladen und dann alles klarmachen – ein Kinodate.“

„Ein Kinodate?“, wiederholte eine tiefe Stimme. Wir drehten uns um und sahen einen grinsenden Roth dastehen. „Wie süß. Und wer spendiert das Popcorn?“

Sein plötzliches Auftauchen verärgerte mich so sehr, dass meine Haut zu kribbeln begann, während ich in seine spöttisch dreinblickenden bernsteinfarbenen Augen schaute. Dass ich nicht bemerkt hatte, wie er sich uns näherte, war ein weiterer Beweis dafür, wie sehr ich von der Rolle war. Verdammt. „Andere zu belauschen ist unhöflich.“

Er zuckte mit den Schultern. „Die Tür zum Klassenzimmer zu blockieren ist ebenfalls unhöflich.“

„Von mir aus.“ Ich drehte mich weg und wollte Stacey nach drinnen dirigieren, da hielt Roth mich zurück.

„Eigentlich möchte ich dich für zwei Sekunden ausleihen“, sagte er und sah zu Stacey, die ihm eben einen sehr bösen Blick zuwerfen wollte. „Wenn du nichts dagegen hast.“

Sie verschränkte die Arme. „Ich bezweifle, dass sie von dir ausgeliehen werden möchte.“

„Noch nie wurden wahrere Worte gesprochen“, bestätigte ich und lächelte unverbindlich.

„Ich glaube, sie wird ihre Meinung ändern.“ Vielsagend sah Roth mich an. „Es ist wichtig.“

Was bedeutete, dass es um die Lilin oder einen Dämon oder einen Wächter oder etwas anderes ging, womit ich mich wirklich nicht befassen wollte. Seufzend machte ich einen Schritt zur Seite, was Stacey mit ungläubiger Miene kommentierte. „Ist schon okay“, sagte ich.

Mit zusammengekniffenen Augen sah sie Roth an. „Pass bloß auf, dass ich dich nicht noch mehr hasse.“

Erstaunt schaute er ihr nach, als sie das Klassenzimmer betrat. „Was hast du ihr von mir erzählt?“

„Eigentlich nichts“, gab ich beiläufig zurück. „Sie muss wohl von selbst zu der Erkenntnis gelangt sein, dass du ein Arschgesicht bist.“

Grinsend wandte er sich mir zu. „Das hat wehgetan, Shortie.“

„O ja, als ob dich das interessieren würde.“ Ich warf einen Blick durch das kleine Fenster in der Tür und sah, dass Mr Tucker bereits am Pult saß. Ob Mrs Cleo wohl jemals zurückkommen würde? Bis zum zweiten Klingeln hatten wir nur noch höchstens eine Minute. „Also, was willst du?“

Aus der Hosentasche zog er einen schmalen gelben Papierstreifen, mit dem er mir vor der Nase herumfuchtelte. „Rat mal, was ich gefunden habe.“

„Offensichtlich keine bessere Persönlichkeit“, antwortete ich.

„Ha. Sehr witzig.“ Mit der Kante des Streifens strich er mir über die Nase und lächelte amüsiert, als ich nach dem Papier schlug. „Ich habe Deans Adresse.“

„Oh. Wow, das ging aber schnell.“

„Kann man wohl sagen.“

Ich wollte nicht wissen, wie er an die Adresse gekommen war. Bestimmt war er ins Sekretariat spaziert und hatte da irgendwas Widerwärtiges gemacht. Ich griff nach dem Zettel, aber er zog die Hand zurück. „Ich brauche die Adresse, damit Zayne und ich mit ihm reden können.“

„Du und Stony?“ Lachend steckte er den Papierstreifen zurück in die Hosentasche.

„Ja“, stieß ich zähneknirschend hervor.

„Du meinst, ihr zwei habt euren Spaß ohne mich? Falsch gedacht. Wir werden daraus einen flotten Dreier machen.“ Er grinste verrucht, als er sah, wie ich die Augen verdrehte. „Heute. Nach der Schule. Du und dein Gargoyle-Toy-Boy, ihr wartet draußen auf mich.“

Ich wollte mich weigern, aber er zwinkerte mir schnell zu, schlug sich mit der flachen Hand auf seine Hosentasche und ging in den Klassenraum.

Das würde sicher sehr vergnüglich werden.

Von dem Moment an, als Roth auf die Rückbank des Impala kletterte, wusste ich, unser spontan verabredeter Ausflug würde kein gutes Ende nehmen. Selbst wenn die zwei sich darauf einigen konnten, dass wir alle zusammenarbeiten mussten, würde keiner von beiden es dem anderen in irgendeiner Weise leicht machen.

Dabei erwartete niemand von ihnen, dass sie sich an den Händen fassten und „Kumbaya“ sangen.

Zwischen Zayne und mir herrschte auch so schon eine seltsame Stimmung, aber Roth mit dabeizuhaben machte es so etwa um ein Zehnfaches schlimmer. Wenn es Zayne am Samstag so vorgekommen war, als würde ich ihm aus dem Weg gehen, konnte er sich am Sonntag absolut sicher sein, dass ich das tat. Ich wusste nicht, wie ich ihn auch nur ansehen sollte, ohne von Kopf bis Fuß rot zu werden.

„Wir müssen noch gut drei Blocks fahren. Er wohnt in einem dieser alten Backsteingebäude“, sagte Roth, der in der Mitte der Rückbank saß und sich auf beiden Rückenlehnen der Vordersitze aufstützte. „Vorausgesetzt natürlich, du gibst irgendwann mal so viel Gas, dass wir nicht erst Ende des Jahres ankommen.“

„Klappe“, gab Zayne zurück.

„Ich meine ja nur“, sagte er. „Ich bin mir sicher, der Junge, den Dean plattgemacht hat, kann heute schon wieder schnell genug laufen, um uns zu überholen.“

„Klappe“, erwiderte ich.

Im Rückspiegel sah ich seinen verkniffenen Blick und schenkte ihm ein breites Lächeln. Er lehnte sich nach hinten und schaute störrisch drein, hielt aber den Mund. Nach einiger Zeit fand Zayne das Haus, und ein Stück weiter entdeckten wir einen Parkplatz, in den er den Impala hineinquetschen konnte.

Braune und goldene Blätter wurden vom Wind über den Gehweg geweht, während wir zu dem Haus zurückgingen. Die Stufen zur Haustür waren verwittert und wiesen Risse auf, Gleiches galt für die Backsteinfassade.

Zayne ging um Roth herum und griff nach dem eisernen Türklopfer, während er den missmutigen Blick des Kronprinzen einfach ignorierte.

„Lass gut sein“, raunte ich Roth zu, als die Tür geöffnet wurde.

Eine ältere Frau erschien. Sie trug ihr volles rotes Haar nach hinten gekämmt, aber ringsum an ihrem Kopf standen kürzere Strähnen in alle Richtungen ab. Fältchen umgaben ihre braunen Augen genauso wie die blassrosa Lippen. Sie wirkte müde, richtiggehend erschöpft. Neugierig ließ sie den Blick zwischen Zayne und Roth hin und her wandern, dabei strich sie mit einer Hand über ihren grauen Sweater.

„Kann … kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Ja, wir sind … äh … Freunde von Dean und wollten nur mal kurz zu ihm und mit ihm reden“, erklärte ich.

Sie legte die Hände auf den Saum ihres Sweaters und drückte sie fest an den Körper. „Dean kann im Moment keinen Besuch empfangen. Es tut mir leid, aber Sie werden wiederkommen müssen, wenn er keinen Hausarrest mehr hat.“

„Sehen Sie, das ist für uns nicht so einfach“, mischte Roth sich ein und schob Zayne aus dem Weg. Als Mrs McDaniel Roth sah, wirkte ihr Gesicht sofort viel entspannter.

„Wir müssen mit Dean reden, und zwar jetzt“, wiederholte Roth freundlich, aber bestimmt.

Zayne versteifte sich zwar, sagte aber nichts. Da wir nicht gerade vorhatten, das Haus zu stürmen, war ein wenig dämonische Überredungskunst genau das, was wir brauchten.

Und sie funktionierte auch.

Die Frau nickte langsam und trat einen Schritt zur Seite. „Er ist oben. Das zweite Schlafzimmer links. Möchten Sie gern etwas trinken? Oder ein paar Kekse?“

Ehe Roth etwas dazu sagen konnte, ging ich dazwischen: „Nein, das ist nicht nötig.“

Mürrisch verzog er das Gesicht.

Mrs McDaniel nickte noch einmal, dann verschwand sie ins nächste Zimmer und summte dabei „Paradise City“.

Die vertraute Melodie sorgte dafür, dass mir prompt übel wurde. Von Roth hatte ich sie seit seiner Rückkehr nicht mehr gehört. Daher konnte ich ihn einen Moment lang nur anstarren.

„Ich hätte wirklich einen Keks genommen“, brummte er und nahm auf dem Weg nach oben immer zwei Stufen auf einmal.

Zayne verdrehte die Augen. „Pech gehabt.“

Ich kam wieder zur Besinnung und folgte den Jungs in den ersten Stock. Der Flur war schmal und schlecht beleuchtet. An den Wänden löste sich die alte beigefarbene Tapete. Als wir uns der zweiten Tür links näherten, beschlich mich ein unbehagliches Gefühl. Von allen Seiten schien etwas auf meinen Hals zu drücken und mir den Atem zu rauben. Die Luft war stickig. Ich sah zu Zayne und erkannte an der verspannten Haltung seiner Schultern, dass er es ebenfalls spürte.

Es fühlte sich nach dem Bösen an, dem reinen Bösen. Anders ließ sich das nicht beschreiben.

Als Roth ohne anzuklopfen die Tür öffnete, verstärkte sich das Gefühl noch weiter. Die Wächterin in mir wollte diesem Gestank den Rücken kehren oder ihn eliminieren. Aber die Dämonin war nur neugierig.

Die beiden Jungs blieben vor mir stehen und nahmen mir die Sicht auf das Zimmer, also musste ich um Zayne herumspähen, um etwas sehen zu können. Der Raum war ein einziger riesiger Widerspruch. Eine Hälfte war tadellos aufgeräumt, Bücher lagen ordentlich aufeinandergestapelt, und Papiere waren in Ordnern verstaut, bei deren Beschriftung es jemand mit dem Etikettendrucker ein wenig übertrieben hatte. Ein kleiner Hocker stand an einem Teleskop, das zum Fenster hin ausgerichtet war. Die andere Hälfte sah aus, als hätte sich ein Hurrikan dort ausgetobt. Kleidung lag auf dem Boden verstreut. Auf einem Relaxsessel türmten sich noch halb volle Essensverpackungen vom Chinesen, ein Berg aus Mountain-Dew-Flaschen reichte fast bis auf Höhe der Bettkante.

Auf dem Bett selbst fand sich Dean McDaniel.

Er lag rücklings da und trug nur Socken und blaue Boxershorts.

Er hatte Kopfhörer aufgesetzt, seine Füße bewegten sich zu einem Rhythmus, den wir nicht hören konnten.

Dean wusste, wir waren hier. Seine Lider bewegten sich, als er zu uns hinüberschaute, um kurz darauf wieder an die Decke zu starren. Deutlicher hätte er seine Missachtung uns gegenüber nicht ausdrücken können. Ich folgte seinem Blick, und mir stockte der Atem.

Heilige Scheiße, an der Decke fanden sich mit Marker angefertigte Zeichnungen. Kreise, die mit Sternen durchsetzt waren. Linien, die sich zu Formen zusammenschlossen, wie ich sie aus dem Kleinen Salomon kannte.

Roth betrachtete ebenfalls kurz die Decke, schlenderte zum Bett und riss Dean die Kopfhörer runter. „Es ist unhöflich, uns zu ignorieren.“

Der Junge auf dem Bett – dieser Junge, der immer so ruhig und unauffällig gewesen war und der anderen Schülern die Tür aufgehalten hatte – grinste spöttisch und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Sehe ich wirklich so aus, als würde mich das kümmern?“

„Und sehe ich wirklich so aus, als könnte ich dir nicht auf der Stelle den Kopf abreißen?“, gab Roth zurück.

„Hey, hey“, rief ich dazwischen und warf ihm einen warnenden Blick zu. „Das ist überhaupt nicht hilfreich!“

Dean sah mich an und setzte sich auf. Blitzschnell griff er sich zwischen die Beine und machte etwas, das meine Ohren knallrot anlaufen ließ. „Du kannst natürlich gern bleiben, Süße. Aber diese beiden Vollpfosten sollen sich verpissen.“

Ich bekam den Mund nicht mehr zu. „Okay, du kannst das mit dem Kopfabreißen durchziehen, Roth.“

Roth grinste.

„Wir sind uns noch nicht begegnet.“ Zayne trat vor und versuchte wohl, als die Stimme der Vernunft zu agieren. „Mein Name ist …“

„Ich weiß, was du bist.“ Dean ließ sich zurück aufs Bett fallen. „Magnam de cælo, et tu super despectus.”

„Und jetzt spricht er auch noch Latein?“ Das wurde ja immer verrückter. „Was hat er gesagt?“

„Etwas, das Stony nicht gefallen dürfte“, antwortete Roth lachend.

„Und ich weiß auch, wieso ihr hier seid. Ihr kriegt von mir gar nichts. Also … wo die Tür ist, wisst ihr ja.“ Dean sah wieder mich an. „Aber wie gesagt, du kannst …“

„Wenn du den Satz zu Ende bringst, wirst du für den Rest deines Lebens humpeln“, warnte ich ihn und brachte Zayne zum Lächeln. Als ich Dean betrachtete, versuchte ich, den stillen Jungen aus meiner Klasse in ihm wiederzuerkennen, aber was mich da so lüstern anstarrte, war eher ein Mann Mitte vierzig, der zu viel getrunken hatte. „Bist du noch da drin, Dean?“

„Ich glaube, die Antwort darauf kennen wir alle“, sagte Roth und kniete sich neben dem Bett auf den Boden. Dean richtete seine Aufmerksamkeit auf ihn. „Falls da noch ein Stück Menschlichkeit in ihm stecken sollte, kann ich es jedenfalls nicht entdecken.“

Ich wollte das nicht glauben. Mich machte die Vorstellung krank, dass diesem Jungen nach und nach seine ganze Seele entrissen wurde. Vielleicht ging mir das einfach alles zu nah. Ich war mir nicht sicher, auf jeden Fall wollte ich nicht glauben, dass es keine Hoffnung mehr für ihn gab. „Weißt du, wer dir das angetan hat?“

Dean lag einen Moment lang reglos da, doch auf einmal sprang er so schnell vom Bett, dass er vor meinen Augen verwischte und ich nicht wusste, ob er es auf mich abgesehen hatte oder nicht. Zayne ging noch rechtzeitig dazwischen und bekam den Jungen an der Schulter zu fassen. Ein heftiger Stoß, und Dean flog zurück aufs Bett. „Wenn du das noch mal versuchst, wird dir nicht gefallen, was ich dann mit dir mache.“

Dean atmete angestrengt ein, ein Schaudern überkam ihn, das seinen schmächtigen Leib durchschüttelte. Er lag auf der Seite und zog die Beine so weit an, dass die Knie sein Kinn berührten. Sein ganzer Körper wackelte, als würde jemand brutal das Bett hin und her schaukeln.

„Es ist konstant“, sagte er und legte die Hände auf seine Ohren. Mein Puls beschleunigte sich. „Was ist konstant?“

Es. Ich höre es die ganze Zeit.“ Er vergrub die Finger in seinen Haaren. „Es hört nie auf, es gönnt mir nie eine Pause.“

„Was ist es?“, fragte Zayne.

Der Junge verzog das Gesicht, die Wangen wurden bleich. „Es hört nicht auf.“

„Ich glaube, er hat Schmerzen.“ Hilfe suchend wandte ich mich an Zayne. „Was können wir machen?“

Zayne zog die Brauen hoch. „Er ist nicht besessen. Das kannst du an seinen Augen erkennen.“

„Ihm fehlt ein großes Stück seiner Seele, und vermutlich fühlt sich das wie eine Schusswunde an.“ Roth schüttelte den Kopf und stand auf. „Dean, du musst uns sagen, was mit dir geschehen ist.“

„Ich verstehe nicht“, stöhnte er.

Er schaukelte unverändert hin und her, und trotz seines anfänglichen Verhaltens hätte ich ihn am liebsten in die Arme genommen und an mich gedrückt. Erneut stellte Roth ihm die Frage, und Zayne wiederholte sie noch einmal, aber keiner von ihnen konnte ihm eine verständliche Antwort entlocken.

Ich ging näher ans Bett heran. „Wann hat es angefangen, Dean?“

Erst nach einer Weile erwiderte er: „Vor Tagen.“

Roth sah zu mir und nickte, dass ich weitermachen sollte. „Wo hat es angefangen? In der Schule?“

„Ja“, krächzte Dean. „Da hat es angefangen.“

Zayne stellte sich zu mir. „Hat es jemand ausgelöst?“, wollte ich wissen.

Dean wippte langsamer vor und zurück, ließ die Hände sinken und starrte mich mit leerem Blick an. Ich verlagerte mein Gewicht, da mir sein eindringliches Starren Unbehagen bereitete. Er sah mich an, als müsste ich die Antwort auf meine Frage längst kennen, aber für mich ergab das alles keinen Sinn.

Als er nichts sagte, legte Roth eine Hand auf seine nackte Schulter. Dean zuckte zurück, als hätte jemand versucht, ihn zu brandmarken. Er riss den Mund auf und heulte laut auf wie ein verwundetes Tier.

„Was hast du gemacht?“, fragte Zayne aufgebracht.

Roth zog die Hand zurück. „Überhaupt nichts.“

Ich drehte mich um, da die Tür zu Deans Zimmer aufging. Seine Mom kam herein, offensichtlich war sie aus der Trance erwacht, in die Roth sie versetzt hatte. „Was machen Sie hier? Was tun Sie meinem Sohn an?“

„Shit“, murmelte Roth und ging zu Deans Mutter, legte die Hände an ihre Wangen und hinderte sie daran, noch mehr Fragen auf uns abzufeuern. „Schhht, es ist alles in Ordnung. Ihrem Sohn geht es gut.“

Mrs McDaniel begann zu zittern. „Nein, das stimmt nicht“, flüsterte sie, und ihre traurige Miene und ihr Kummer brachen mir fast das Herz. „Er ist ein guter Junge, aber es geht ihm nicht gut. Es geht ihm überhaupt nicht gut.“

„Wir sind hier, um ihm zu helfen“, versuchte ich sie zu beruhigen. Wenigstens hatte Dean aufgehört zu heulen.

Roth versteifte sich, hielt seinen Blick aber weiter auf die Mutter gerichtet. „Es ist alles in Ordnung. Sie müssen nur wieder nach unten gehen und mit dem Abendessen anfangen. Chili Dogs wären gut.“

Nach einem angespannten Augenblick zog sich Mrs McDaniel zurück und verließ das Zimmer, wobei sie wieder Roths Song vor sich hin summte. Ich atmete erleichtert aus und drehte mich zu Dean um, der seine Kopfhörer in der Hand hielt.

„Dean …“

„Raus hier“, sagte er. Als wir uns nicht von der Stelle rührten, hob er den Kopf, und mir lief ein eisiger Schauer über die Haut. Sein starrer Blick hatte etwas erschreckend Leeres. „Raus hier.“

Zayne blieb stehen. „Wir müssen …“

„Raus hier!“ Dean sprang auf, holte aus und warf die Kopfhörer in Roths Richtung. „Raus hier!“

Roth bekam sie zu fassen, bevor sie in seinem Gesicht landen konnten. Der Kunststoff zerbröselte zwischen seinen Fingern, die Reste warf er auf den Boden. „Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn Leute mir Sachen ins Gesicht schleudern.“

Den Jungen schien das nicht zu kümmern, stattdessen drehte er sich zur Seite und stürmte auf Zayne los. Doch der musste etwas bemerkt haben, da er sich sofort wandelte. Das Shirt zerriss auf der Vorder- und der Rückseite, Granit trat an die Stelle menschlicher Haut, und er breitete seine Flügel aus, die das gesamte Zimmer in Anspruch zu nehmen schienen. Zayne schnappte sich Dean, drehte ihn herum und legte ihm den Arm um den Hals, sodass der massive Bizeps auf Deans Kehle drückte.

Daraufhin rastete Dean erst richtig aus, trat und schlug um sich, während er unaufhörlich irgendwelche lateinischen Worte hinausbrüllte.

„Angeber“, meinte Roth und verdrehte die Augen. „Als ob du dich hättest wandeln müssen.“

Zayne ignorierte ihn und ließ die Armmuskeln spielen, um Dean lange genug die Kehle zuzudrücken, bis das unmenschliche Heulen aufhörte. Schnell wurden seine Arme und Beine schlaff, und dann war er auch schon am Boden.

Nachdem er Dean aufs Bett gelegt hatte, nahm Zayne wieder seine menschliche Gestalt an und betrachtete sein in Fetzen herabhängendes Shirt. „Tut mir leid, aber ich glaube, jetzt werden wir nicht mehr viel aus ihm rausholen können.“

„Nicht, dass wir vorher schon viel aus ihm rausgekriegt hätten“, betonte Roth und verzog die Lippen, während er den bewusstlosen Jungen betrachtete. „Er hat nur bestätigt, dass er in der Schule mit der Lilin in Kontakt gekommen ist.“

„Das ist doch schon mal etwas, oder nicht?“, fragte ich.

Keiner von beiden reagierte. Als wir das Haus der McDaniels verließen, fühlte ich mich irgendwie niedergeschlagen. Ich wusste nicht, was ich mir davon versprochen hatte, Dean einen Besuch abzustatten. Jedenfalls hatte ich nicht damit gerechnet, ihn so zu erleben. Keiner von uns schien eine Ahnung zu haben, was Dean Schreckliches hörte.

Als wir wieder im Impala saßen, beugte sich Roth vor und tippte mir auf die Schulter. „Was du da oben gesagt hast, war falsch.“

Ich registrierte Zaynes verwunderten Gesichtsausdruck, als ich mich zu Roth umdrehte. „Wovon redest du?“

„Dass wir ihm helfen können.“ Ein ernstes Funkeln war in seinen bernsteinfarbenen Augen zu erkennen.

„Wieso?“, fragte ich, während sich mein Magen leicht verkrampfte.

„Weil ich nicht glaube, dass wir das tatsächlich können.“