Mit dieser Aussage hatte Zayne ganz offensichtlich nicht gerechnet. Verwirrt sah er mich an.
Seine Emotionen fühlen zu können klang zwar verrückt, ergab aber durchaus Sinn.
„Wie meinst du das?“, fragte er.
Ich zog die Hände zurück und ballte sie zu Fäusten, und fast im gleichen Moment ließ das intensive Verlangen nach. „Ich kann fühlen, was du fühlst“, antwortete ich und hörte mich genauso fassungslos an wie Zayne. „Ich habe keine Ahnung, wie das geht, aber ich weiß, das gerade eben war nicht das erste Mal. Ich habe es schon häufiger erlebt, nur hab ich nicht kapiert, womit ich es zu tun hatte.“
Er lehnte sich zurück. „Das musst du mir genauer erklären.“
„Wenn du mich anfasst, also Haut mit Haut in Berührung kommt, dann nehme ich schwache Reste von irgendwelchen Gefühlen auf, die nicht zu mir gehören.“ Ich musste an Stacey denken, wie sie mich angefasst hatte, während sie mit mir über Sam redete. Da hatte ich Hoffnung verspürt, die aber nicht meine eigene gewesen war. Dann bei Roth, bei Zayne und sogar bei den Leuten, die mich in der Nacht angerempelt hatten, als ich unterwegs gewesen war, um hoffentlich wieder Auren sehen zu können. Moment mal! „Es hat angefangen, als ich keine Auren mehr sehen konnte. Eigentlich direkt danach. Heilige Scheiße!“
„Verdammt“, murmelte Zayne und schüttelte den Kopf. „Dann konntest du alles fühlen, was ich im Augenblick der Berührung empfunden habe.“
„Ganz schwach, wie ein plötzliches Aufwallen von Gefühlen. Nichts allzu Deutliches.“
Er verzog den Mund zu einem schwachen Lächeln. „Na, dann bin ich ja beruhigt. Hättest du nämlich das Gleiche gefühlt wie ich, wäre das ziemlich peinlich geworden, wenn ich bedenke, was mir da durch den Kopf gegangen ist.“
Ich lachte, obwohl meine Wangen glühten. „Ja, ich schätze, das wäre wirklich peinlich.“
„Irgendwie schon.“ Er schluckte, dann legte er die Hand an meine Wange. „Was fühlst du jetzt?“
„Keine Ahnung.“ Es war schwierig, zwischen meinem eigenen Gefühlschaos und dem zu unterscheiden, was möglicherweise von ihm dazukam. Aber dann stieß ich auf etwas, das von ihm stammen konnte. Eine beständige Empfindung, die sich ihren Weg rund um alle meine Vorbehalte bahnte. „Glück?“, flüsterte ich und legte die Finger um sein Handgelenk. Die Wärme steigerte sich, als würde ich in der Sommersonne stehen. „Du bist glücklich.“
Er lächelte mich an. „Ja, das kann man so sagen.“
Ich versuchte zu verstehen, wie durch den Verlust meiner Fähigkeit, Seelen zu sehen, diese neue Begabung ausgelöst worden war. Nachdenklich ließ ich die Hand sinken und wollte von Zaynes Schoß aufstehen, aber er fasste mich an den Hüften und hielt mich fest. Fragend sah ich ihn an.
Zaynes Grinsen hatte einen jungenhaften Charme. „Was ist?“
„Das weißt du ganz genau.“
Er zuckte beiläufig mit der Schulter. „Konzentrier dich auf das eigentlich Wichtige. Die ganze Sache mit Gefühlen. Wir wissen, dass sich ein Sukkubus genauso wie ein Inkubus von Emotionen ernährt, richtig? Und Lilith wird in manchen Texten als Sukkubus beschrieben. Vielleicht hast du diese Fähigkeit schon immer besessen, und sie zeigt sich erst jetzt.“
Mit anderen Worten: eine dämonische Fähigkeit. „Warum können nicht zur Abwechslung mal ein paar Wächterfähigkeiten zum Vorschein kommen?“
„Ist das wichtig?“ Er tippte mit den Fingern auf meine Hüften.
„Das sollte es sein. Für dich.“
Er wurde ernst. „Ist es aber nicht. Es ist nichts Böses dabei, wenn man die Gefühle anderer Leute wahrnimmt. Vermutlich kann sich das sogar als sehr nützlich erweisen.“
Vermutlich ja, dennoch war es eine weitere Sache, die mich von Zayne unterschied und die dafür sorgte, dass ich mich in meiner eigenen Haut nicht mehr wohlfühlte. Mir kam ein Gedanke, gerade als sich mein Körper entspannte. Ich faltete die Hände. „Glaubst du, die Lilin kann Emotionen fühlen und Seelen sehen?“
„Ich weiß nicht.“
Ich konnte mir selbst nicht erklären, wieso ich mir diese Frage stellte. Vielleicht hing es damit zusammen, dass ich wissen wollte, wie ähnlich sich meine DNA und die der Kreatur waren.
Zayne verlagerte das Gewicht, ich rutschte ein kleines Stück nach vorn. „Ich weiß, was du jetzt denkst.“
„Tatsächlich?“
Er nickte. „Du denkst an diesen Zirkel und daran, wann du mehr über die Lilin herausfinden kannst.“
Wie üblich traf er genau ins Schwarze. „Na ja, meine Gründe dafür sind völlig selbstlos. Je mehr wir über die Lilin wissen, desto schneller können wir sie finden.“
„Und deren Alte wird nicht vor dem nächsten Vollmond in diesem Club sein?“, fragte er gleich darauf. „Das dauert ja noch Wochen. Ich glaube, das müsste am 6. Dezember so weit sein.“
Ich nickte gedankenverloren. Dämonen, Gargoyles, Hexen – alle hatten sie es mit dem Vollmond. „Dann bist du einverstanden, dass ich hingehe?“
„Eigentlich nicht, aber so, wie ich dich kenne, wirst du sowieso alle Hebel in Bewegung setzen, um dort hinzukommen. Ich unterstütze dich lieber und bin auf dem Laufenden, anstatt nicht zu wissen, wo du bist und was du machst.“ Er ließ den Kopf gegen die Rückenlehne sinken und betrachtete mich unter seinen langen Wimpern hindurch. „Und ich nehme an, Roth ist schon außer sich vor Freude, dass ihr zwei zusammen hingehen werdet.“
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.
„Mir ist schon klar, dass die Hexen mich dort nicht sehen wollen, vor allem diese Sorte Hexen. Aber ich werde dich an dem Abend begleiten, zumindest soweit das möglich ist“, redete er weiter. „Und auch wenn ich das am liebsten nicht zugeben würde, aber mit Roth dort aufzutauchen halte ich für eine gute Idee.“
„Was?“ Völlig verblüfft sah ich ihn an. „Hast du das jetzt gerade wirklich gesagt?“
„Ich würde Roth am liebsten Schicht für Schicht abschälen, ganz langsam, bis ich auf den Knochen angekommen bin. Du weißt schon, mit einer Art Spargelmesser.“
Ich rümpfte die Nase. „Iiih.“
Er lächelte verhalten. „Aber in seiner Gegenwart bist du relativ sicher.“
Noch immer schaute ich ihn erstaunt an. „Relativ?“
„Er wird dich beschützen … besser, als er es heute gemacht hat.“ Der Widerwille war ihm sehr deutlich anzuhören. „Du bist aber nicht vor ihm sicher.“
„Es ist egal, was er tatsächlich oder deiner Meinung nach von mir will, ich bin vor ihm sicher. Vertrau mir. Er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass zwischen ihm und mir nichts weiter ist als …“
„Ja“, wisperte ich.
„So ein Arschloch.“
Ich konnte mir ein Auflachen nicht verkneifen. „Stimmt.“
„Tut mir leid“, sagte er dann. Nach allem, was er mir gestanden hatte, kam mir diese Entschuldigung sehr ungewöhnlich vor, aber das war das Gute, das in Zayne steckte.
Er legte die Arme um mich und zog mich an seine Brust. Ich schmiegte mich an ihn, machte die Augen zu und lauschte seinem gleichmäßigen Herzschlag. So, wie ich in seinen Armen lag, fand ich genau die Art von Trost, die nur er spenden konnte.
Ich atmete zittrig ein. Im Augenblick überstürzten sich die Ereignisse, und innerhalb weniger Wochen war so viel geschehen, doch in ruhigen Minuten wie diesen dachte ich an all diese wundervollen Dingen, von denen ich immer geträumt hatte, dass Zayne sie irgendwann einmal zu mir sagen würde. Und jetzt war aus diesen Träumen Wirklichkeit geworden. Eigentlich gab es Wichtigeres, um das ich mich hätte kümmern sollen, aber in diesem Moment war das hier für mich das Allerwichtigste.
Diese Entwicklung mit Zayne war völlig unerwartet gekommen. Lust zu empfinden war eine Sache. Einen Menschen zu haben, der einem wirklich wichtig war, eine ganz andere. Aber seine Worte … waren von einer anderen, tieferen Bedeutung. Sie drangen bis ins Herz vor, rissen Mauern ein, zerstörten Barrieren und ebneten sich ihren eigenen Weg.
Als Zayne über meine Wirbelsäule strich, konnte ich mir einen Seufzer nicht verkneifen.
„Schön?“, fragte er.
Ich nickte.
Er machte weiter, und ich zwang mich, die Augen aufzumachen. Langsam ließ ich den Blick über die staubigen Rücken der Bücher in den Regalen wandern. Ich musste etwas sagen, aber es war mir noch nie leichtgefallen, laut auszusprechen, was ich für Zayne empfand. Nicht einmal Stacey hatte ich anvertraut, welche Gefühle ich für ihn hegte. Seit ich in ihn verknallt war, hatte ich das für mich behalten und die Wahrheit mit Lügen geschützt. Aber Zayne hatte sich mir offenbart, und ich schuldete es ihm, genauso offen und ehrlich zu sein.
„Ich muss dir was gestehen“, flüsterte ich.
Den Mut zusammenzunehmen war gar nicht so einfach. „Ich habe immer davon geträumt … dass du mir das sagst … dass du mich willst.“ Ich hatte das Gefühl, in Flammen zu stehen, doch ich zwang mich weiterzureden. Jedes Wort kam mir sehr langsam und leise über die Lippen. „Ich wollte dich schon, seit … seit ich den Unterschied zwischen Jungs und Mädchen erkannt hatte.“
Sein Griff um mich wurde noch etwas fester. Mit belegter Stimme erwiderte er: „Das klingt nach einer langen Zeit.“
„Das war es auch.“ Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals, und aus einem unerfindlichen Grund wollte ich weinen. „Und es war so schwer für mich, weißt du? Ich musste immer aufpassen, dass niemand mir etwas anmerkte. Und ich musste versuchen, nicht eifersüchtig zu sein auf Danika und alle anderen Mädchen, die …“
„Es gab nie ein anderes Mädchen, Layla, Biene.“
Es dauerte ein wenig, bis diese Worte meinen Dickschädel durchdrungen hatten, dann lehnte ich mich zurück und hob den Kopf. „Wie bitte?“
Diesmal war er derjenige, der rot anlief. „Ich bin nie mit einem Mädchen zusammen gewesen.“
Ich bekam den Mund nicht mehr zu.
„Musst du mich wirklich so überrascht ansehen?“
„Tut mir leid. Es ist nur so, dass ich nicht glauben kann, dass du noch nie … Ich meine, du bist schließlich du. Du siehst wahnsinnig gut aus, du bist nett und klug und perfekt, und egal, wo du auftauchst, überall sehen dir die Frauen hinterher.“
Er musste lächeln. „Ich habe ja nicht gesagt, dass sich nie eine Gelegenheit ergeben hat. Ich habe sie nur nie genutzt.“
„Wieso?“
Unsere Blicke trafen sich. „Die Wahrheit?“
Ich nickte.
„Anfangs wusste ich nicht, warum ich mich zurückhielt, wenn ich … na ja, wenn ich es hätte tun können. Es kam mir so vor, dass es nicht interessant genug für mich war, um es bis zum Schluss durchzuziehen. Erst letztes Jahr wurde es mir klar.“ Als er eine Pause einlegte, begann mein Herz wieder schneller zu schlagen. „Es liegt an dir.“
„An mir?“
„Ja.“ Er spielte mit einer von meinen Haarsträhnen und wickelte sie um seine Finger. „Ich kam bis an einen bestimmten Punkt, und dann konnte ich nur noch an dich denken. Über diesen Punkt hinaus weiterzumachen wäre mir verkehrt vorgekommen. Du weißt schon … mit einer anderen Frau auszugehen, wenn ich mir dabei vorstellte, mit dir zusammen zu sein.“
O mein Gott …
Mein Herz floss über bei diesen Worten, und alle möglichen Partien meines Körpers begeisterten sich an der Tatsache, dass er sich vorgestellt hatte, mich an seiner Seite zu haben … und dass er sich das schon länger vorstellte, als ich es mir hätte träumen lassen.
Zayne schob die aufgerollte Haarsträhne auf meine Schulter, wo sie sich langsam wieder entrollte. „Und was machen wir jetzt?“
Unglaublich, aber tatsächlich begann ich mir in diesem Moment zu überlegen, wie wir beide am besten unsere Unschuld verlieren könnten – gemeinsam. Aber ich zweifelte daran, dass Zayne es wirklich ernst meinte. Nachdem ich all den Schweinkram aus meinem Gehirn verbannt hatte, setzte ich zum Reden an, doch er legte mir einen Finger an die Lippen.
„Du musst das jetzt nicht beantworten“, sagte er. „Ich weiß, das ist nicht leicht für dich. Nichts wird bei uns beiden jemals leicht sein, und ich weiß, du hast vor vielen Dingen Angst. Ich will dich nicht drängen, weil ich weiß …“ Er unterbrach sich und nickte, als würde er mit sich selbst reden. „Ich weiß, er bedeutet dir immer noch etwas. Roth, meine ich.“
Ich wich zurück. „Ich …“
„Ja“, fuhr er ernst fort. „Das ist etwas, das ich nur ungern laut aussprechen oder auch nur denken möchte, aber ich weiß, dass es so ist. Du hast … viel mit ihm geteilt, und er war für dich da, als ich es nicht war.“
Ich wusste, er bezog sich auf die Nacht, als Petr mich angegriffen hatte. Ich hatte ihn angerufen, aber er war nicht rangegangen, weil er sauer auf mich war und seine Zeit mit Danika verbrachte. Das hatte er sich bis heute nicht verzeihen können. „Zayne, dich trifft keine Schuld, was diese Nacht angeht.“
„Ich hätte auf deinen Anruf reagieren müssen, aber darum geht es nicht. Er war für dich da, und er hat dich so akzeptiert, wie du bist. Noch eine Sache, in der ich nicht immer allzu gut gewesen bin.“ Er strich mit einem Finger an meiner Wange entlang und ließ die Hand sinken. „Jedenfalls weiß ich, dass du immer noch Gefühle für ihn hegst, aber ich finde, wir können dem hier eine Chance geben – wir können uns eine Chance geben.“
Mein Herzschlag geriet ins Stocken und beschleunigte sich dann. Zayne hatte recht. So ungern ich das auch zugeben wollte, empfand ich tatsächlich immer noch etwas für Roth. Aber … aber das hier war Zayne, wir beide hatten eine gemeinsame Vergangenheit. Jahrelang hatte ich ihn verehrt und von ihm geträumt. Da war all das, was er gerade eben gesagt hatte.
Und natürlich war da auch alles, was ich für ihn empfand. Die Freude auf jeden neuen Tag, an dem ich ihn wiedersehen würde. Die Art, wie er mir mit einem einzigen Blick ein Lächeln entlocken konnte. Seine Macht, mich dazu zu bringen, mich nach einer kurzen Berührung oder einem Kuss zu sehnen. Zwischen uns war immer etwas gewesen, nur hatte ich stets geglaubt, dieses Etwas würde nicht auf Gegenseitigkeit beruhen.
Er lächelte schwach. „Darum finde ich, sollten wir es langsam angehen lassen.“
„Langsam?“ Langsamer, als mir das Oberteil auszuziehen und auf seinem Schoß zu sitzen?
„Ja, wir können uns für ein Date verabreden. Was hältst du davon?“
Spontan wollte ich ablehnen. Es war einfach zu riskant … Und wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich war, dann hatte ich schreckliche Angst davor, endlich das zu bekommen, was ich immer hatte haben wollen. Was, wenn es aus irgendeinem von einer Million Gründen, die dagegen sprachen, nicht funktionierte? Was, wenn es in Enttäuschung endete und unsere Freundschaft dabei zerstört wurde? Was, wenn Zayne durch mich seine Seele verlor?
Es gab so viele Risiken und Gefahren, aber als mein Herz einen Schlag lang aussetzte, wurde mir klar, dass das Leben voller Risiken war, für Halbdämonen genauso wie für jeden anderen, und dass ich es leid war, nicht zu leben und nichts zu versuchen.
Ein Date war nichts Schlimmes, richtig? Ich sah ihn an und begann breit zu lächeln. „Wie wäre es mit einem Kinobesuch?“
Am folgenden Morgen blieb Zayne nach der Jagd noch auf und fuhr mich zur Schule. Für den Clan war das nichts Ungewöhnliches, und Nicolai freute sich vermutlich, endlich mal zu Hause bleiben zu können.
Zwischen uns war alles ganz normal.
Er neckte mich.
Brachte mich zum Erröten.
Und als wir an der Schule angekommen waren, lehnte er sich zu mir rüber und gab mir einen sanften Kuss auf die Wange, der den Wunsch in mir weckte, ihm einen anständigen Abschiedskuss geben zu können.
Ich war mir nicht sicher, wie man unsere Beziehung bezeichnen sollte. Gingen wir miteinander aus? War er mein Freund und ich seine Freundin? Wir hatten nichts festgelegt, und das war für den Augenblick vermutlich auch besser so. Auch wenn ich bereit war, ein Risiko einzugehen, war ich mir nicht sicher, ob wir das tatsächlich durchziehen konnten.
Oder ob der Versuch mich zum egoistischsten Menschen auf der Welt machen würde.
Es änderte aber nichts an dem dämlichen Grinsen, mit dem ich die Schule betrat. Als ich am Morgen aufgewacht war, waren mir sämtliche Probleme leichter erschienen, so als wären sie alle in Glitzer getaucht worden, was sie gleich viel schöner aussehen ließ.
Ich musste darüber kichern, was mir den sonderbaren Blick einer Mitschülerin einbrachte. Na wenn schon. Ich bog um die nächste Ecke und ging an der immer noch leeren Vitrine für die Pokale vorbei, als ich einen vertrauten Rotschopf entdeckte. Mit dem Besen in der einen Hand winkte Gerald mich zu sich, kaum dass er mich gesehen hatte.
Ich ging um eine Mädchengruppe herum und steuerte auf ihn zu. „Ist alles in Ordnung?“
Er nickte. „Sie haben sich um das Problem im Keller gekümmert. Alles rausgeschafft und sogar den Schleim weggewischt.“
„Gut.“ Es war eine Erleichterung, das zu hören. Zayne war letzte Nacht zu den anderen dazugestoßen, aber heute Morgen hatten wir nicht mehr darüber geredet.
Er runzelte die Stirn, während er sich umschaute. „Ich wollte dir auch noch danken.“
„Wofür?“
„Dafür, dass du den Wächtern nichts von mir gesagt hast“, antwortete er und nahm den Besenstiel in die andere Hand. „Ich weiß, du hast nichts gesagt, weil ich sonst jetzt nicht hier stehen würde. Das weiß ich zu schätzen.“
„Kein Problem. Ich glaube zwar nicht, dass sie überhaupt was gegen dich haben, aber ich wollte kein Risiko eingehen.“ Vor ein paar Monaten hätte ich es vielleicht getan, aber jetzt nicht mehr. Diese Erkenntnis nahm mir ein bisschen von meiner guten Laune.
Wieder zuckten Geralds kirschrote Augen nervös hin und her. „Habt ihr noch immer vor, den Zirkel in Bethesda zu besuchen?“
„Ja.“ Die ersten Schüler warfen uns merkwürdige Blicke zu, und auch ein paar Lehrer wurden auf uns aufmerksam. Ich konnte Stacey sehen, die an meinem Spind auf mich wartete. Neben ihr stand ein verdutzt dreinschauender Sam. Staceys Gesichtsausdruck sprach Bände.
Gerald machte eine sorgenvolle Miene. „Ich wünschte, ihr würdet euch das noch mal überlegen. Es muss doch auch einen anderen Weg geben.“
„Wenn du nicht zufällig eine Ausgabe von Lilin für Dummys zur Hand hast, wüsste ich keinen anderen Weg.“ Das wäre natürlich richtig hilfreich gewesen. „Danke, dass du so besorgt bist, aber ich muss jetzt …“
„Du begreifst nicht.“ Seine Hand schoss nach vorn und legte sich um mein Handgelenk. Die plötzliche Angst glich einem Fausthieb in den Magen, was umso beunruhigender war, weil ich inzwischen wusste, es war nicht meine eigene Angst. „Trotz allem machst du einen netten Eindruck, Kind. Aber manchmal stellst du Fragen, auf die du Antworten erhältst, von denen du lieber nichts wüsstest.“
Gerald ließ meine Hand los, noch bevor ich mich losreißen konnte. Im Wegdrehen sah er zu meinem Spind, dann eilte er zurück in den Materialraum.
Okay, das war ziemlich schräg gewesen, aber vielleicht war es für einen Hexer sogar noch etwas schräger als schräg.
Kopfschüttelnd wandte ich mich um und wurde von Stacey neugierig beobachtet, als ich mir den Weg durch die Menge bahnte. „Hängst du jetzt schon mit Hausmeistern rum?“
„Und ihr haltet sogar schon Händchen?“, ergänzte Sam.
„Klappe“, gab ich zurück. „Und damit meine ich euch beide.“ Stacey zeigte mir den Stinkefinger und grinste, als ich die Augen verdrehte. „Was war gestern los mit dir? Und sag bitte nicht, dass du mit Roth durchgebrannt bist.“
Tja … „Nein, ich bin nach Hause gegangen. Mir war nicht gut. Ihr wisst doch, wie …“ Ich unterbrach mich, neigte den Kopf zur Seite und zog die Brauen zusammen. Irgendwie sah Sam anders aus. Mit seinen Haaren hing es nicht zusammen, auch wenn es so schien, als hätte er seine unbändigen Locken wenigstens mal gebürstet. Dann sah ich es. „Wo ist deine Brille, Sam?“
„Er hat sie verloren“, antwortete Stacey, als wir durch den Flur gingen. „Sieht er jetzt nicht heiß aus?“
„Auf jeden Fall“, meinte ich grinsend. „Aber kannst du ohne Brille überhaupt was sehen?“
„Das reicht schon.“ Mühelos fädelte er sich in den Strom aus Schülern ein. „Aber warum hat der Hausmeister eben nach deiner Hand gegriffen? Sah ein bisschen seltsam aus.“
„Er hat mir gestern geholfen, als mir so übel war.“ Die Lüge kam mir etwas zu schnell und zu glatt über die Lippen. „Er hat mir nur die Hand geschüttelt.“
Ein süßliches, wildes Aroma kündigte Roths Gegenwart an, und als ich über die Schulter schaute, kam er mitten durch den Flur auf uns zu. Mit besorgter Miene sah er auf sein Handy, ohne auf die Umgebung zu achten. Aber zum Glück wich ihm jeder aus, der ihm entgegenkam.
Auf einmal hob er den Kopf, und unsere Blicke trafen sich. Nahe dem Kinn wies seine Haut einen bläulichen Schimmer auf, es war der Beleg für die Kraft, die hinter dem Fausthieb eines Wächters steckte. Ich sah schnell zur Seite und verfluchte mich stumm für das schlechte Gewissen, das sich bei mir regte. Zwei Sekunden später schlich er um mich herum. „Guten Morgen, die Damen, der Herr.“
„Hey“, erwiderte Sam grinsend. „Ich muss zum Unterricht. Wir sehen uns beim Mittagessen?“
Ich sah ihm nach, wie er auf dem Absatz kehrtmachte und den Flur entlanglief. Roth beobachtete ihn ebenfalls und verzog dabei sonderbar einen Mundwinkel. „Wird aus unserem kleinen Sam etwa auf einmal ein großer Junge?“
„Was?“, fragte ich.
„Ich weiß nicht.“ Er zuckte mit den Schultern und drehte sich zu Stacey um. „Keine Brille. Dazu so angezogen, als hätte ihm seine Mom mal nicht die Sachen hingelegt, und du starrst ihn an, als hättest du gern Brillen tragende Babys von ihm.“
Staceys Wangen liefen rot an, sie fing an zu kichern. „Vielleicht ist es ja so.“
„Oh.“ Roth riss die Augen auf. „Wie verdorben.“
Von der Bemerkung über die Babys abgesehen verhielt sich Roth während des Unterrichts ziemlich ruhig. Er drehte sich nicht zu mir um, wie er es sonst tat, um mich zu ärgern, und er lehnte sich auch nicht ein einziges Mal so nach hinten, dass er den Arm auf meinem Tisch hätte abstützen können.
Er war irgendwie … anders.
Wie immer wurde Bambi während des Unterrichts unruhig und folgte auf meinem Körper einer unsichtbaren Landkarte. Als die Stunde um war, konnte ich es nicht erwarten, endlich rauszukommen. Die Glocke ertönte, der Vertretungslehrer machte das Licht an.
„Und nicht vergessen“, sagte er, fuhr sich durchs Haar und legte sich eine Hand in den Nacken, während er auf seinen Terminplaner sah. „Es ist ein Test angesetzt für …“
Weiter kam er nicht, da ein gedämpftes Kreischen zu hören war. Er sah zur Tür, in dem Moment ertönten lautere Schreie, schrille, entsetzte Schreie, die aus dem Flur kamen. Geschlossen standen wir auf und traten nervös auf der Stelle.
Als die Schreie noch heftiger wurden, lief Roth los.
„Was ist das?“, flüsterte Stacey mir zu.
„Ich denke, wir sollten alle hier im Klassenzimmer bleiben“, sagte Mr Tucker und versuchte Roth aufzuhalten, doch der war zu schnell für ihn. Die halbe Klasse folgte ihm bereits zur Tür. „Wir wissen nicht, was da draußen los ist! Kommt, kommt, alle zurück auf eure Plätze!“
Mr Tucker hatte keine Chance.
An der Tür kam es zu einem kurzen Rückstau, dann quollen wir hinaus in den überlaufenen Flur. Stacey klammerte sich an meinem Sweater fest. Im Gang war es so ruhig geworden, dass man einen Floh hätte husten hören können. Diese Stille empfand ich als noch entsetzlicher als die Schreie.
Ich drängte mich durch die Menge und entdeckte Roth. Seine Schultern wirkten unnatürlich verkrampft. Als ich bei ihm ankam, drehte er sich zu mir um und schüttelte den Kopf. Ich ließ den Blick zu der fast kreisrunden freien Fläche mitten zwischen den Schülern wandern und sah ein Paar Beine in mattgrauer Hose, das leicht hin und her schaukelte.
„O mein Gott“, flüsterte Stacey.
Ich zwang mich, nach oben zu sehen, und legte mir eine Hand auf die Brust. Im ersten Moment wollte mein Verstand sich weigern, das zu akzeptieren, was meine Augen erfassten. Aber das Bild löste sich nicht in Luft auf, und es veränderte sich auch nicht zu etwas Harmloserem.
Mitten im Gang hing Gerald Young an einer Lampenhalterung, das rot-goldene Schulbanner um den Hals gewickelt.