28. KAPITEL

„Du siehst aus wie eine Ninja“, sagte Danika. „Okay, nicht wie eine besonders begabte, sondern mehr so wie eine Nach-der-Schule-Spezialninja.“

Ich sah über die Schulter zu meinem Bett, wo sie saß. Beim besten Willen konnte ich mich nicht daran erinnern, sie in mein Zimmer gebeten zu haben. „Danke. Besten Dank.“

„War nur ein Scherz“, kicherte sie. „Eigentlich siehst du richtig heiß aus.“

„Das will ich gar nicht“, gab ich zurück und zog meine flachen Schuhe an. Die Anspielung mit der Ninja hatte ich schon begriffen, weil ich eine schwarze Yogahose und dazu ein schwarzes Oberteil trug. Vermutlich sah ich auch noch aus wie eine Leiche. Zu viel Schwarz machte sich bei meinem Teint nie gut.

„Du willst das eigentlich nie.“ Sie stand vom Bett auf. „Und gerade das macht dich so sexy.“

Ich wandte mich zu ihr um und musste daran denken, wie bizarr es war, eine solche Bemerkung von ihr zu hören. Danika konnte es in Sachen Aussehen und Körper mit allen Models von Victoria’s Secret aufnehmen. Menschen und Wächter überall auf der Welt würden vor ihr auf die Knie sinken, wenn man ihnen die Chance dazu gab.

„Deine Haut sieht schon viel besser aus“, stellte sie fest, nachdem sich betretenes Schweigen breitgemacht hatte.

Wir hatten uns zwar gegenseitige Freundschaft versprochen, aber die kam nur sehr langsam auf Touren. „Ich habe letzte Nacht eine Tonne Feuchtigkeitscreme verbraucht.“

„Darf ich dir etwas sagen, das sich bestimmt sehr seltsam anhören wird?“

Ich stellte mich vor den kleinen Spiegel neben dem Kleiderschrank und knotete mein Haar zum Dutt. „Klar.“

Sie setzte sich wieder auf die Bettkante. „Ich bin eifersüchtig auf dich.“

Langsam ließ ich die Hände sinken und sah Danika an.

Sie errötete. „Aber nicht wegen Zayne. Obwohl … ja, okay, das macht mich auch irgendwie eifersüchtig, aber das ist jetzt nun mal so. Vielmehr beneide ich dich darum, dass du aus dem Haus kommst und Dinge tun kannst. Du kannst zur Schule gehen und Dämonen kennzeichnen, wenn du willst. Du hast schon gegen Dämonen gekämpft und bist verletzt worden.“

„Du bist eifersüchtig auf mich, weil ich verletzt worden bin?“

„Ich weiß, das ergibt keinen richtigen Sinn“, sagte sie seufzend. „Ich freue mich nicht darüber, dass du verletzt worden bist, aber du bist da draußen unterwegs gewesen. Du bekommst Schrammen und Kratzer ab, während du draußen bist. Ich dagegen …“ Sie machte eine ausladende Geste. „Ich sitze hier in der Falle.“

Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich darauf erwidern sollte, auch wenn ich sie verstanden hatte. Die Frauen im Clan wurden derart nach allen Seiten hin abgeschirmt und behütet, dass es einem die Luft zum Atmen nehmen konnte. Wahrscheinlich hatten sie nicht mal unter einem Niednagel zu leiden, und falls es doch einmal vorkommen sollte, war das ein guter Grund, den nationalen Notstand auszurufen.

Danika und die anderen Frauen saßen tatsächlich im goldenen Käfig und waren zur Untätigkeit verdammt.

„Schon klar“, sagte ich verständnisvoll und setzte mich zu ihr. „Weißt du, als ich jünger war, da war ich eifersüchtig auf andere Wächterinnen, weil sie vom Clan akzeptiert wurden. Jeder kümmerte sich um sie und hörte ihnen zu, wenn sie etwas zu sagen hatten. Sie waren alle erwünscht, während ich … na ja, ich war einfach nur da. Aber darüber bin ich dann doch ziemlich schnell hinweggekommen.“ Ich sah Danika an und wünschte, die Verhältnisse könnten für uns alle einfacher sein. „Ich glaube, in gewisser Weise ergeht es euch schlechter als mir.“

Sie nickte bedächtig. „Es ist ja nicht so, als wollte ich mich grundsätzlich nicht paaren und keine Kinder haben. Aber ich …“

„Du möchtest gern auch noch was anderes machen, richtig?“ Wieder nickte sie, und ich biss mir auf die Lippe. „Warum tust du es dann nicht einfach? Du hast dein Training absolviert, du kannst kämpfen. Oder brauchst du die Erlaubnis der Männer? Wer will dich aufhalten, wenn du das Haus verlassen und auf die Jagd gehen willst?“

Sekundenlang saß Danika schweigend da, plötzlich leuchteten ihre Augen auf. „Weißt du was? Du hast recht. Ich kann das machen, und was wollen sie schon dagegen unternehmen? Wollen die mich vielleicht nach Hause schicken?“ Sie musste lachen. „Da möchte ich sehen, wie sie das versuchen.“

„Wie wer was versucht?“

Wir drehten uns zur Tür um, als wir Zaynes Stimme hörten. Gütiger Himmel! So wie er in seiner dunklen Cargohose und dem eng anliegenden Shirt dastand, war er unglaublich heiß.

„Gar nichts“, gab Danika amüsiert zurück und überraschte mich damit, dass sie sich zu mir rüberbeugte und mich kurz an sich drückte. Dann sprang sie auf, winkte Zayne zu und schob sich an ihm vorbei nach draußen.

Verwundert sah er mich an. „Was ist hier los?“

Ich schüttelte den Kopf und wiederholte Danikas Antwort: „Gar nichts. Bist du so weit?“

„Ja.“ Er musterte mich, als ich zu ihm kam. „Hübsches Outfit.“

„Danika meint, ich sehe aus wie eine Nach-der-Schule-Spezialninja.“

„Nett“, gab er lachend zurück.

Ich wollte an ihm vorbeigehen, aber er legte eine Hand an den Türrahmen und versperrte mir den Weg. Ich sah ihn an, und er beugte den Kopf nach vorn, so als wollte er mich küssen. Aber das konnte nicht sein. Er würde nicht noch einmal etwas so Verrücktes versuchen. Zayne wurde schließlich nicht von Todessehnsucht geplagt. Aber je näher sein Mund kam, desto nervöser wurde ich. Sein frischer Duft nach Winterminze hüllte mich ein, dann strichen seine Lippen über meine Wange.

Ich verkrampfte mich auf die denkbar wundervollste Weise. Ich kniff die Augen zu, während meine Finger zuckten, da sie ihn berühren wollten. Zwischen uns war mit einem Mal alles so … so eigenartig. Beide hatten wir uns eingestanden, dass zwischen uns irgendetwas war und dass wir mehr wollten. Aber es verlief auch eine Trennlinie zwischen uns, die aus Zeichen, Versprechen und Gefahren bestand.

Mir fiel das Versprechen ein, das ich mir letzte Nacht selbst gegeben hatte. Das Versprechen, das alles veränderte, was wir beide wollten. Tiefe Enttäuschung traf mich mit der Wucht von sturmgepeitschten Wellen, gerade als ich unter seinem Arm hindurchtauchte.

Ohne auf seinen irritierten Blick einzugehen, strich ich mir die Hose glatt. „Brauchen wir noch irgendwas, bevor wir uns auf den Weg machen?“

Einen Moment lang sah er mich nur an, schließlich antwortete er: „Alles, was wir benötigen, habe ich bereits in den Impala gepackt.“

Was wir für einen möglichen Exorzismus brauchten, war Weihwasser – von dem ich mich auf jeden Fall fernhalten würde –, raffiniertes Salz und stinkender, gesegneter Weihrauch. Es war genau das, was wir auch für einen Exorzismus hier im Haus benötigt hätten, den ich vorübergehend in Erwägung gezogen hatte, den ich den Wächtern aber nur mit viel Mühe hätte erklären können. Ich würde dann auf Petr zu sprechen kommen müssen, und wenn ich daran dachte, wie sich Abbot mir gegenüber verhielt, wäre das alles andere als klug gewesen. Ich hatte keine Ahnung, was ich wegen Petr machen sollte, zudem hielt sich in meinem Hinterkopf die zweifelnde Frage, ob er tatsächlich als Geist ins Haus zurückgekehrt war. So oder so war ich aufgeregt und begeistert, als wir zur Garage gingen. Einen Exorzismus hatte ich noch nie beobachten können, das würde ganz sicher sehr interessant werden.

„Darf ich ‚Im Namen des Herrn treibe ich dich aus‘ rufen, wenn sich die Gelegenheit ergibt?“, wollte ich wissen.

„Was?“ Zayne begann zu lachen, während er mir die Beifahrertür aufhielt. „Ich sag dir das ja nur ungern, aber wir müssen überhaupt nichts sagen, und niemand wird irgendwas in dieser Art rufen.“

Ich machte einen Schmollmund. „Dann ist das Ganze ja nicht halb so unterhaltsam wie die Exorzismen, die im Fernsehen gezeigt werden.“

Er warf mir einen vielsagenden Blick zu, als ich einstieg. Eben wollte er die Tür schließen, da betrat Dez die Garage, ging zu einem der SUVs und sah zwischen Zayne und mir hin und her.

„Begleitet sie dich zum Haus?“

„Ja.“ Zayne lehnte sich gegen seinen Wagen und betrachtete den älteren Wächter. „Ist das ein Problem für dich?“

Abwehrend hob Dez die Hände. „Ich habe kein Wort gesagt. Sei nur vorsichtig.“ Als er mich ansah, kam es mir so vor, als hätte er mich am liebsten aus dem Wagen gezerrt und mich über die Schulter geworfen, um mich von hier wegzuschaffen. „Sie ist …“

„Eine Dämonin?“, fragte ich und verzog mürrisch den Mund.

„Nein.“ Dez runzelte die Stirn. „Ich wollte ‚ein Mädchen‘ sagen, das nicht in Gefahr gebracht werden muss und das verletzt werden könnte.“

„Oh.“ Jetzt fühlte ich mich mies. „Danke, dass du darauf hingewiesen hast.“

Zayne schloss die Wagentür, bevor ich noch mehr sagen konnte. Als er an Dez vorbeiging, meinte er: „Du weißt, ich werde nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt.“

Dez nickte. „Sei trotzdem vorsichtig.“

Während Dez in den hinteren Teil der Garage ging, beobachtete ich, wie Zayne einstieg und hinter dem Lenkrad Platz nahm. „Schon gehört?“

„Was?“ Der Motor erwachte schnurrend zum Leben.

„Ich bin ein Mädchen.“

Er musste lächeln. „Ach, halt die Klappe.“

Ich kicherte ausgelassen.

Zayne lenkte den Wagen aus der Garage, dabei fragte er mich, ob ich schon etwas von Stacey oder Sam gehört hatte. Von Stacey war ich heute angerufen worden. Das Telefonat war ein bisschen bemüht gewesen, aber insgesamt völlig normal verlaufen. Außer dass ich ihr zum ersten Mal hatte erzählen können, was ich heute Abend unternehmen würde. Es hatte etwas Befreiendes für mich, endlich nicht mehr lügen zu müssen, wenn es darum ging, was ich außerhalb der Schule so trieb.

Die Fahrt bis zum Stadthaus der Verstorbenen in Alexandria dauerte nicht allzu lange. Unterwegs war kaum etwas los, und wir hatten das Glück, einen unauffälligen Parkplatz hinter dem Haus zu finden.

Zayne dabei zuzusehen, wie er das Türschloss knackte, war unglaublich scharf.

Ich konnte mich nur wundern, was das wohl über mich aussagte, wenn es mich anmachte, wie selbstbewusst er mit dem Einbruchswerkzeug hantierte.

„Praktisch, wenn man so was kann“, stellte ich fest, als ein lautes Klack verkündete, dass die Tür entriegelt worden war.

Grinsend richtete er sich auf. „Entweder es geht auf diese Tour, oder man bricht die Tür auf. Ich finde die sanfte Methode aber besser.“

Roth hätte das Schloss mit roher Gewalt geknackt und dabei noch seinen Spaß gehabt. Die beiden hätten wirklich nicht unterschiedlicher sein können.

Nachdem er die Tür leise geöffnet hatte, warteten wir einen Moment lang, um Gewissheit zu haben, dass keine Alarmanlage anschlug. Da alles ruhig blieb, betraten wir das dunkle Foyer. Im Haus war alles in tiefe Schatten getaucht. Im Zimmer zur Straße hin brannte nur eine einzelne kleine Lampe auf einem Beistelltisch. Die Dielenbalken knarrten bei jedem Schritt.

Zayne hängte sich die Stofftasche über die Schulter und sah sich die Gemälde an den grünen Wänden an. Als wir in das Esszimmer kamen, schoss ein kleiner Schatten unter dem Tisch hervor.

Eine graue Katze.

Anstatt vor den Fremden davonzulaufen, schmiegte sich die Katze zuerst an Zaynes, dann an meine Beine. Bambi regte sich interessiert, als ich mich vorbeugte und die Katze hinter den Ohren kraulte. Wortlos ermahnte ich die Schlange, gar nicht erst mit dem Gedanken zu spielen, dass es sich bei dem Tier um eine Mahlzeit handeln könnte.

Ich fragte mich, ob die Katze der Frau oder dem Verlobten gehörte. Oder vielleicht beiden zusammen? Der Gedanke daran machte mich traurig.

Auch als wir die Küche betraten, herrschte überall Grabesstille. Nahe dem Herd standen ein Fressnapf und ein Schälchen mit Wasser.

„Mir kommt hier alles normal vor“, sagte Zayne. „Oder spürst du irgendwas?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Wir müssen uns oben umsehen.“

Die Katze folgte uns durchs Haus und die Treppe rauf in den ersten Stock. Es war zu düster, um die Motive der gerahmten Fotos an den Wänden genauer zu erkennen, aber sie sahen nach Familienfotos aus, wie sie gern über die Weihnachtszeit herum aufgenommen wurden.

Oben gab es nur zwei Zimmer, die durch ein gemeinsames Badezimmer miteinander verbunden waren. Ein Zimmer war als provisorisches Büro eingerichtet worden, im anderen brannte eine kleine Stehlampe.

Die Katze huschte an uns vorbei und sprang aufs Bett, kaum dass wir die Tür geöffnet hatten. Sie drehte sich auf den Rücken und präsentierte uns ihren gut genährten Bauch.

Ich streichelte die Katze, während Zayne sich umsah. Im Gegensatz zu Roths Kätzchen versuchte diese hier nicht, mich umzubringen, als ich vorsichtig ihren Bauch massierte.

Es kam mir verkehrt vor, in diesem Zimmer zu sein, weil das hier die Privatsphäre eines anderen war. Das Bett war nicht gemacht, Kissen lagen herum. Die Schubladen der Kommode standen offen, auf dem Nachttisch war ein Glas Wasser zurückgelassen worden. Gleich daneben fand sich das gerahmte Foto eines Paars. Das Bild zog mich an, ich ließ die Katze in Ruhe und nahm den Bilderrahmen, um ihn in den Lichtschein der Lampe zu halten.

Plötzlich begann meine Hand so heftig zu zittern, dass ich das Bild fast hätte fallen lassen. „O mein Gott.“

„Was ist?“, fragte Zayne.

Ich brachte keinen Ton heraus und starrte nur auf das Foto. Ein Mann lächelte in die Kamera, er schien Ende zwanzig zu sein. Seinen Arm hatte er um die Schultern einer Frau gelegt, die ein Stück kleiner war als er.

Die Frau hatte ich schon mal gesehen, wenn auch nur kurz. Zayne kam zu mir und nahm die Tasche von der Schulter. „Was ist denn?“

Mit zitternden Fingern gab ich ihm den Bilderrahmen. „Den beiden gehört dieses Haus, richtig?“

Er stutzte und nahm mir den Rahmen ab. „Ich schätze, ja. Es wäre etwas eigenartig, wenn sie sich das Foto eines anderen Paars auf den Nachttisch stellen.“

Panik erfasste mich. „Ich kenne die Frau.“

„Woher?“

Ich bekam weiche Knie. „Das ist sie.“

Völlig ratlos sah er mich an. „Ich habe keine Ahnung, was du da redest.“

Wenn mein Herz noch wilder schlug, würde es mir wahrscheinlich gleich aus der Brust platzen. „Sie ist die Frau, von der ich mich Donnerstagabend genährt habe.“

„Ganz sicher?“, fragte Zayne und stellte die Tasche auf den Boden.

„Ja.“ Ich wollte mich hinsetzen, war aber zu nervös.

„Wie kannst du dir da so sicher sein? Du hast sie doch nur …“ „Es ist die Frau!“, brüllte ich ihn an und presste mir die Hände auf den Bauch. Mir wurde übel. „O mein Gott!“

„Langsam!“ Er wollte nach mir fassen, aber ich wich ihm aus. „Jetzt beruhige dich erst mal. Du hast dich von ihr genährt, und sie ist weggegangen. Hat sie den Eindruck gemacht, dass mit ihr alles in Ordnung war?“

„Ja, aber du siehst, was mit der Frau aus dem Kinderheim passiert ist. Vanessa.“

„Wir wissen nicht, ob das stimmt. Und selbst wenn, hast du Vanessa trotzdem nicht umgebracht.“ Er fuhr sich durchs Haar. „Und diese Frau auch nicht.“

„Aber sie ist tot. Seltsamer Zufall, oder?“ Mir trat kalter Schweiß auf die Stirn. Der verheerende Gedanke der letzten Nacht kam mir in den Sinn. „Was ist, wenn …“

In diesem Moment spürte ich es.

Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf. Der Gestank nach etwas Unnatürlichem schlich sich wie tückischer Rauch in den Raum. Die Katze machte einen Buckel, wie ich ihn nur von Katzenbildern zu Halloween kannte, fauchte und versteckte sich unter dem Bett.

„Verdammt.“ Zayne kniete sich hin und machte die Tasche auf. „Wir haben einen Geist.“

„Natürlich haben wir den“, murmelte ich und fühlte mich durch und durch taub.

Ich hatte diese Frau umgebracht, dabei ihre Seele genommen und sie zu einer Ewigkeit in der Hölle verdammt. Wie sollte sie sonst ein Geist geworden sein? Die Wahrscheinlichkeit, dass sie der Lilin in die Finger gefallen sein könnte, war astronomisch gering.

Und dafür hätte erst mal klar sein müssen, dass die Lilin tatsächlich existierte …

Die Temperatur im Schlafzimmer sank so weit, dass ich meinen Atem in Form von weißen Wölkchen sehen konnte, die aus meinem Mund aufstiegen.

„Layla.“

Der Geist war ganz in der Nähe. Der Geist, den ich erschaffen hatte.

„Layla“, fuhr Zayne mich an und stand gleich wieder dicht neben mir. „Ich brauche dich hier bei mir. Hast du verstanden? Das wird nicht einfach werden, deshalb brauche ich dich hier bei mir. Bist du bei mir?“

Die Luft wich aus meiner Lunge. Reiß dich zusammen. Ich verdrängte Panik und Entsetzen und zwang mich zu einem Nicken. Ich musste mich konzentrieren. „Ja, ich bin da.“

„Gut.“ Zayne sah auf die offene Badezimmertür. „Unser Geist ist nämlich auch da.“

Eine dunkle Masse füllte den Durchgang aus, sie war in etwa so groß wie Deans Geist. Eine Schattenperson. Das Ding rührte sich nicht, sondern stand einfach nur da und beobachtete uns.

Zayne drückte mir ein Bündel getrockneten Weihrauch in die Hand, dann zündete er ihn an. Stechender Geruch breitete sich im Zimmer aus, als sich dichte Rauchwolken verteilten. „Egal, was du machst, lass den Weihrauch nicht fallen. Wenn das passiert, wird der Exorzismus sofort unterbrochen.“

Das hörte sich nicht kompliziert an. „Okay.“

Der Geist kam näher, das Zimmer verwandelte sich in einen Kühlschrank. Wind kam auf und wehte durch den Raum. Kleidung flog aus dem Schrank, die Lampe kippte um, und ich wurde von einem Kissen am Arm getroffen.

Zayne machte einen Schritt nach vorn, in der einen Hand die Flasche mit Weihwasser, in der anderen ein kleines Glas Salz. „Bleib zurück, ich will nicht, dass du irgendwas davon abbekommst.“

Ich ging ihm aus dem Weg, während der Rauch mir die Luft nahm. In dem Augenblick stieß der Geist einen schrillen Ton aus, der sich wie eine Kombination aus dem Jaulen einer Hyäne und dem Kreischen eines Babys anhörte. Der Geist ging auf Zayne los. Der stand eben noch vor mir, doch keine Sekunde später wurde er gegen die Wand am anderen Ende des Zimmers geschleudert. Die Wasserflasche hielt er immer noch in der Hand, aber das Glas mit dem Salz rollte über den Boden und befand sich damit hinter dem Geist.

O verflucht!

Der Geist zischte mich an, was sich zwar verzerrt, aber doch weiblich anhörte. Das Zischen ging in ein Heulen über. Zayne war wieder auf den Beinen, seine Haare waren zerzaust, aber er hatte noch immer seine menschliche Gestalt. Er holte mit der Flasche aus und spritzte das Wasser auf den Geist. Es schoss nicht durch den Schatten hindurch, sondern wurde von ihm aufgenommen, woraufhin er sich so sehr aufblähte, dass er mich an dieses nervtötende Kind aus Charlie und die Schokoladenfabrik erinnerte.

Als der Geist sich auf Zayne konzentrierte, lief ich zu dem Glas, aber meine Beine wurden mir unter dem Leib weggerissen, und ich landete laut ächzend auf dem Rücken. Irgendwie gelang es mir dabei, den Weihrauch weiter festzuhalten. Ich drehte den Kopf zur Seite und entdeckte das Salzgläschen, das keinen halben Meter von mir entfernt auf dem Boden lag.

Der Geist lachte boshaft, während ich mich auf die Seite rollte, das Glas zu fassen bekam und mit einer Hand den Deckel aufschraubte. Dabei strichen mir eisige Finger über den Nacken. Die Gänsehaut, die das bei mir auslöste, war so heftig, dass ich beinah aufgeschrien hätte.

„Schleuder das Salz auf den Geist“, brüllte Zayne, um den tosenden Wind zu übertönen.

Während ich gegen den Luftstrom ankämpfte, wusste ich, ich würde mir das raffinierte Salz nur selbst ins Gesicht schleudern, wenn ich auf Zaynes Anweisung hörte.

Ich zwang mich dazu, aufzustehen, hielt den Weihrauch krampfhaft fest und machte Schritt um Schritt auf den Geist zu. Anstatt das Salz in die Luft zu werfen, drückte ich einfach das geöffnete, volle Glas in die Gegend, in der sich möglicherweise der Bauch der Kreatur befand.

Die Reaktion erfolgte augenblicklich.

So als würde ein gespanntes Gummiband reißen, wurde ich nach hinten geschleudert. Gleichzeitig stieß der Geist einen Schrei aus, der einem Albträume bereiten konnte. Ich landete mitten auf dem Bett, der Weihrauch wollte mir aus der Hand rutschen. Ich hielt ihn so fest umklammert, wie ich nur konnte, damit der qualmende Kram nicht auf der Bettwäsche landete, was den Exorzismus unterbrochen und vermutlich das Stadthaus in Brand gesetzt hätte.

Der Geist explodierte und löste sich in feine Rauchschwaden auf, die sich so schnell verflüchtigten, als wäre ein Vakuum im Raum entstanden, das alles Böse mit sich riss. Allmählich kehrte Ruhe ein, der Druck des Abnormen ließ nach, und die Luft ließ sich wieder leichter atmen.

Ich schaute zu Zayne.

Er sah aus, als hätte er eine Weile in einem Windkanal zugebracht. „Alles in Ordnung?“

„Ja“, krächzte ich und setzte mich hin. Der Weihrauch war von selbst ausgebrannt und verglimmt. Sehr praktisch. „Wow.“

„War das so, wie du es erwartet hast?“

Ich dachte darüber nach, in dem Moment lugte die Katze unter dem Bett hervor. „Es war ganz okay, aber meinen Spruch hätte ich ja doch ganz gern losgelassen.“

Kopfschüttelnd kam Zayne zu mir und half mir hoch. Er nahm den Weihrauch, warf ihn in die Tasche und machte sie zu. „Wir müssen sofort von hier verschwinden, bevor jemand auf die Idee kommt, dem Lärm auf den Grund zu gehen.“

Ich war ganz seiner Meinung.

Ein letztes Mal streichelte ich die Katze, dann verließen wir zügig das Haus. Als wir im Impala saßen, war ich froh darüber, dass unsere Kleidung nicht den fiesen Geruch angenommen hatte. Ich sah Zayne an, der den Wagen anließ und ihn durch die schmale Gasse lenkte. Alles, was ich bis jetzt von mir ferngehalten hatte, ließ ich nun auf mich einstürmen.

Das Adrenalin strömte immer noch durch meine Adern, was jeden meiner Gedanken rasiermesserscharf wirken ließ.

Wir waren zurück auf der Landstraße, die Zayne als Abkürzung nach Alexandria genommen hatte, und endlich fühlte ich mich in der Lage, etwas zu sagen. „Wir können nicht ignorieren, was wir entdeckt haben.“

Er warf mir einen flüchtigen, forschenden Blick zu. „Was meinst du damit?“

„Na, ich meine, wer diese Frau war. Und dass ich ihr das angetan habe.“ Meine Worte versetzten mir selbst einen Stich. „Ich muss mich mehr von ihr genährt haben als gedacht.“

Zaynes Knöchel traten weiß hervor, so fest hielt er das Lenkrad umklammert. „Wäre das der Fall gewesen, hättest du das sofort festgestellt. Es muss dafür eine andere Erklärung geben.“

„Und welche?“, wollte ich wissen und ballte die Fäuste. „Die einzige Erklärung wäre die, dass die Lilin mir gefolgt ist und ihr die Seele genommen hat.“

„Dann ist es so passiert.“ Er presste die Lippen aufeinander. „So muss es gewesen sein.“

Ich starrte ihn an. Tränen brannten mir in den Augen. Es war einfach herzzerreißend, wie entschlossen er war, mich um jeden Preis zu verteidigen. „Was ist … was ist, wenn es gar keine Lilin gibt?“

„Was?“

Mein Magen rebellierte, aber ich musste meine Angst in Worte fassen, musste loswerden, was mich belastete. „Was ist, wenn es keine Lilin gibt, Zayne? Wenn wir das nur glauben und wenn die Hölle das auch nur glaubt, aber in Wahrheit gibt es sie gar nicht?“

„Das ergibt keinen Sinn.“

„Doch, das tut es“, flüsterte ich, während die Bäume am Fahrbahnrand an uns vorbeihuschten. „Überleg doch mal. Niemand weiß eigentlich ganz genau, was erforderlich war, um das Ritual zu vollenden. Es geht nur darum, wie wir das wahrnehmen. Was ist, wenn ich meine Unschuld hätte verlieren müssen? Habe ich aber nicht. Wenn sich Cayman also geirrt hat, dann hat das Ritual nicht gewirkt, weil es gar nicht wirken konnte. Und Abbot hat sogar gesagt, dass es eine Lilin oder etwas Ähnliches war. Ich habe ihn das in der Nacht sagen hören. Deshalb hat er wahrscheinlich den anderen aus dem Clan befohlen, mich im Auge zu behalten. Er hat den gleichen Verdacht.“

„Wenn das Ritual nicht funktioniert hat, wie konnten dann Liliths Ketten zerreißen?“

„Keine Ahnung, vielleicht hängt es mit irgendwas zusammen, das ich tue. Immerhin bin ich ihr Kind. Überleg doch mal. Die Lilin und ich können das Gleiche: eine Seele nehmen. Wir machen es bloß auf unterschiedliche Art.“ Die Worte sprudelten fast so schnell aus mir heraus, wie Zayne den Wagen fuhr. „Und wo, bitte schön, ist diese dämliche Lilin? Wieso haben wir sie noch nie gesehen? Und wieso hat Roth sie nicht zu Gesicht bekommen? Sie soll sich angeblich in der Schule aufhalten, aber entdeckt hat sie bislang keiner. Allerdings bin ich auch in der Schule. Ich war immer in der Nähe, wenn jemand infiziert wurde. Wer weiß, wie viele Leute ich noch infiziert habe, von denen wir nur nichts mitbekommen haben?“

„Und was ist mit dem Kokon im Keller? Und mit den Nachtkriechern?“

„Niemand weiß, wieso die da sind und was in dem Kokon gesteckt hat. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass irgendwas Dämonisches geschieht, weil ich in der Nähe bin. Denk nur an den Zombie im Heizungskeller. An Raum, den Dämon, der von Roth erledigt wurde.“

Zayne schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht fassen, dass du so etwas überhaupt nur sagst.“

„Und ich kann nicht fassen, dass du dich weigerst, das Offensichtliche zu sehen!“

„Shit.“ Er lenkte den Wagen an den Straßenrand und trat auf die Bremse. Als wir mit quietschenden Reifen zum Stehen kamen, wurde ich nach vorn geschleudert, aber mein Gurt hielt mich fest. Zayne drehte sich aufgebracht zu mir um, seine blauen Augen funkelten. „Aber du hast dich nicht von Dean genährt! Oder Gareth! Du bist dafür nicht verantwortlich, Layla.“

„Vielleicht muss ich mich ja gar nicht nähren, um ihre Seelen zu nehmen. Wer will das wissen?“ Meine Kehle war wie zugeschnürt. „Meine Fähigkeiten haben sich schließlich verändert. Ich kann keine Auren mehr sehen, aber Gefühle anderer wahrnehmen. Vielleicht hat sich auch die Art verändert, wie ich Seelen nehme.“

„Das ist doch lächerlich. Hörst du dir eigentlich zu, wenn du redest?“

„Hörst du mir zu?“, konterte ich. „Was ich sage, ist nicht unmöglich, und das weißt du auch.“

Als er nichts erwiderte, löste ich den Sicherheitsgurt. Ich konnte nicht länger in diesem Wagen sitzen. Ich durfte mich nicht in Zaynes Nähe aufhalten, wenn meine Gefühle so explosiv waren. Das Verlangen, mich zu nähren, war vorhanden, es brodelte dicht unter der Oberfläche, was mir gerade noch gefehlt hatte.

Ich machte die Wagentür auf, ignorierte Zaynes Protest und lief los. Nach ein paar Metern stand er plötzlich vor mir und versperrte mir den Weg. „Du musst dich beruhigen“, redete er auf mich ein.

„Nein, du musst mir zuhören! Du weißt doch, was im Haus passiert ist. Ich dachte ja, es hätte etwas mit Petr zu tun, weil ich seine Seele genommen habe, aber möglicherweise liegt es an mir.“ Mein Herz raste so sehr, dass ich glaubte, jeden Moment umfallen zu müssen. „Vielleicht hat Abbot ja recht, und ich merke selbst nichts von den Dingen, die ich anrichte.“

„Nein, du …“

„Du begreifst es einfach nicht!“ Der Wind pfiff um uns herum, doch davon bekam ich fast nichts mit. „Ich war wütend, als die Fensterscheiben explodierten, und ich war sauer auf Maddox, weil er mich so von oben herab angesehen hat. Gleich darauf wurde er von der Treppe geschleudert! Außerdem hast du genauso wie Danika gesagt, dass ich euch allen inzwischen mehr wie ein Hohedämon vorkomme!“

„Und wenn schon. Das heißt ja noch lange nicht, dass du durch die Gegend läufst, Leute umbringst und nichts davon weißt!“ Der Wind schien mir seine Worte ins Gesicht zu schleudern. „Ich kenne dich, Layla.“

Tränen stiegen mir in die Augen, und ich trat einen Schritt zurück. „Du willst nur nicht, dass es so ist, und deshalb bist du blind für alles, was …“

„Ich bin nicht blind.“ Abrupt machte er einen Satz auf mich zu und packte mich an den Schultern. „Wenn ich dich anschaue, weiß ich genau, was ich sehe. Wenn ich dich anfasse, weiß ich genau, womit ich es zu tun habe. Und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass du mir unter keinen Umständen wehtun würdest. Und deswegen bin ich sicher, dass du nicht diejenige bist, die all diese Dinge zu verantworten hat.“

Ich schüttelte den Kopf. „Du kannst nicht …“

Er schnitt mir das Wort ab, zog mich an seine Brust und hob mich ein Stück hoch, sodass ich den Boden nur noch mit den Zehenspitzen berührte. Ich riss die Augen auf, als mir im Bruchteil einer Sekunde klar wurde, was er vorhatte und welches Risiko er eingehen wollte, um zu beweisen, dass er die Wahrheit sagte und dass er aus gutem Grund von meiner Unschuld überzeugt war. Ich wollte den Kopf noch wegdrehen, aber es war zu spät.

Zayne küsste mich.