30. KAPITEL

Gareth war in der letzten Nacht an einer Überdosis gestorben. Sein Vater hatte den Leichnam am Morgen in der Garage gefunden, als er zur Arbeit fahren wollte. Gerüchten zufolge hatte er Alkoholdämpfe geschnüffelt.

Über der Schule lag eine bedrückte Stimmung. Deans Tod war schon eine schlimme Nachricht gewesen, aber jetzt auch noch Gareth – der bei allen beliebte Gareth? Jeder kannte ihn, und auch wenn sein kontinuierliches Abgleiten in die Drogensucht viele vor den Kopf gestoßen hatte, war doch immer noch die Hälfte aller Mädchen hinter ihm her gewesen, und die Hälfte aller Jungs hatte so sein wollen wie er.

In allen Klassen redeten die Lehrer über den Vorfall, sprachen von einem tragischen Unglück und hielten nach dem Unterricht Vorträge über Drogen und die damit verbundenen Gefahren. Ich dagegen wusste, es hatte damit nichts zu tun.

Das war auch Stacey und Sam klar.

Und Roth ebenfalls.

Nicht, dass Drogen harmlos wären, aber das hier hatte mit Drogensucht und ähnlichen Dummheiten nichts zu tun. Gareth war infiziert worden. Man hatte ihm sein Leben und seine Seele weggenommen. Jetzt hatten wir es mit einem weiteren Geist zu tun, während Gareth für alle Ewigkeit in der Hölle gefangen war.

Diese Erkenntnis machte mir zu schaffen, selbst wenn doch noch irgendwo eine Lilin auftauchen sollte.

Roth kam zu mir, als ich auf dem Weg in die Cafeteria war. Mit ihm allein zu sein machte mich ohne Ende nervös. Ich wusste, das hing mit Zayne und mir zusammen … und mit Roth.

„Ich habe noch keinen Geist wahrnehmen können“, sagte er und schob die Hände in die Taschen seiner zerrissenen Jeans. „Du?“

Ich schüttelte den Kopf. Bambi bewegte sich zwischen meinen Brüsten und bekam sofort eine ernste Warnung von mir zu hören, sich ja nicht bis zum Gesicht vorzuwagen. Sobald Roth in der Nähe war, zeigte sie sich gern. Ein bisschen war sie wie diese nervigen kläffenden Hunde, die um Aufmerksamkeit buhlten.

„Wird wohl nur noch eine Frage der Zeit sein, bis der Geist sich blicken lässt. Bleibt es dabei, dass wir uns am Wochenende den Zirkel ansehen?“, fragte ich. Als er bestätigend nickte, lehnte ich mich gegen die Wand. Der Flur war so gut wie menschenleer. Ich hob den Kopf und bemerkte, dass Roth mich aufmerksam beobachtete. „Können wir irgendwas für ihre Seelen tun? Irgendeine Chance, sie zu befreien?“

Roth drehte sich so, dass ich ihn im Profil sah. „Nur wenn du dich mit dem Boss auf einen Deal einlassen willst. Aber davon würde ich dir abraten.“

Ich setzte zum Protest an, doch er legte mir einen Finger auf die Lippen, damit ich schwieg.

„Ich weiß, du willst ihnen helfen, Shortie“, sagte er und lächelte mich schief an. „Aber wenn eine Seele erst mal da unten gelandet ist, wird es sauschwer, sie zurückzuholen. Und damit meine ich keine langwierigen Verhandlungen. Wenn der Boss etwas hergibt, dann will er etwas Gleichwertiges dafür zurückerhalten. Wenn du also eine Seele zurückholen willst, wird der Boss dafür eine andere Seele einfordern. Auf solche Deals willst du dich ganz bestimmt nicht einlassen, weil du dann nämlich diese Last auf deinen Schultern mit dir herumträgst.“

Er hatte zwar recht, aber ich trug schon jetzt einiges auf meinen Schultern mit mir herum.

„Du hast auf meine SMS und Anrufe nicht reagiert“, wechselte er einen Moment später das Thema und lehnte sich gegen die Wand. Den Kopf hielt er gesenkt. „Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.“

„Ach, wirklich?“, gab ich zurück und zog die Brauen hoch.

„Ja.“ Leicht mürrisch sah er mich an. „Warum wundert dich das so?“

Ich zuckte die Achseln. Er hatte während unserer zwangsweisen Beurlaubung und während der Feiertage einige Male versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen, aber ich war nicht darauf eingegangen. Es hätte sich verkehrt angefühlt. Dass ich mit Zayne zusammen war, bedeutete nicht, dass ich mit keinem anderen Typen mehr reden durfte. Bloß war Roth kein gewöhnlicher „anderer Typ“, sondern viel, viel mehr als das.

„Du bist jetzt mit Zayne zusammen, oder?“, erkundigte er sich, als hätte er in diesem Moment meine Gedanken gelesen.

War ich das wirklich? Wir nannten uns bislang nicht offiziell Freund und Freundin, aber wir gingen so miteinander um. „Ich will wirklich nicht mit dir über ihn reden.“

Er schürzte die Lippen. „Versprich mir wenigstens, dass ihr vorsichtig seid.“

Verwundert sah ich ihn an. „Das klingt so, als wolltest du mich darauf hinweisen, dass wir die Kondome nicht vergessen sollen.“

„So habe ich das nicht gemeint, und das weißt du auch“, sagte er.

Unsere Blicke trafen sich, und mir war klar, worauf er hinauswollte. „Ich bin vorsichtig.“ Auch wenn das eine glatte Lüge war.

Er ließ den Kopf gegen die Wand sinken und atmete tief durch. Einen Moment lang sah ich ihn an, wie er mit verschränkten Armen dastand. Er kam mir in jeder Hinsicht angespannt vor, dabei hatte ich ihm noch nicht mal etwas von der Frau aus dem Club im Palisades gesagt.

„Hast du Hunger?“, fragte er leise. „Wir sollten besser reingehen, bevor Stacey und Sam auf die Idee kommen, den freien Tisch zu benutzen, um Babys zu machen.“

„Wir haben noch einen Geist gefunden“, sagte ich leise.

Verdutzt riss er die Augen auf. „Was?“

„Letzte Woche. Zayne und ich haben einen Exorzismus durchgeführt“, erklärte ich ihm.

Er stieß sich von der Wand ab. „Warum hast du mir nichts davon gesagt?“

„Es war die Frau aus dem Club im Palisades, Roth.“ Ich zuckte leicht zusammen, als er mich wütend anfunkelte. „Die Frau, von der ich mich genährt habe.“

„Ganz sicher?“

„Ja, ganz sicher. Es war die Frau.“ Mit beiden Händen rieb ich mir übers Gesicht. „Sie ist doch von dort weggegangen, oder nicht?“

Roth nickte. „Ja, das schwöre ich dir, Layla.“

„Aber wie kann sie dann sterben? Angeblich war es ein Herzinfarkt, aber sie war kerngesund. Was ist, wenn es meine Schuld war? Wenn ich sie infiziert habe? Was ist, wenn ich all diese Leute infiziert habe?“

„Hey, hey, langsam. Wie kommst du denn jetzt auf so was?“ Roth trat einen Schritt auf mich zu. „Glaubst du das etwa schon länger?“

„Nein“, sagte ich kopfschüttelnd. „Ich frage mich das schon seit einiger Zeit. Zayne ist der Meinung, dass es nichts mit mir zu tun hat. Aber wir haben bis jetzt noch keinen Beweis für die Existenz einer Lilin gefunden, keine konkreten Hinweise, überhaupt nichts. Und jeder, der infiziert wurde, hat sich irgendwann in meiner Nähe aufgehalten.“

„Und wie soll das passiert sein? Bist du etwa rumgelaufen und hast wahllos Leute geküsst? Falls ja, bin ich verdammt sauer, dass du mich ausgelassen hast.“

Ich warf ihm einen verärgerten Blick zu. Schließlich war es ja nicht so, als hätte ich ihn in letzter Zeit nicht geküsst. „Nein, nein, das habe ich nicht. Und ich weiß auch nicht, wie es passiert sein soll. Das ist ja genau der Punkt, den ich nicht begreife.“ Ich sagte ihm das, weil ich glaubte, dass er mir nichts verschwieg. Schließlich hatte er das auch nicht bei den Dingen getan, die ich nicht hatte hören wollen. „Meinst du, es hat mit mir zu tun?“

Einen Moment lang stand er völlig reglos da und schaute mich an. Ich war mir nicht mal sicher, ob er überhaupt atmete. Schließlich beugte er sich vor und legte die Hände auf meine Schultern. Es war kein fester Griff, aber er hatte etwas Tröstliches. Ich machte die Augen zu.

„Hör auf“, flüsterte er mir zu, „sinnlose Fragen zu stellen.“

Mehr sagte er nicht, dann nahm er die Hände von meinen Schultern und ließ sie sinken. Sein Schweigen war beunruhigend, mal abgesehen davon, dass ich von ihm keine Antworten auf meine Fragen bekam.

Am Abend, an dem wir uns auf den Weg zu diesem Club in Bethesda machten, roch die Luft nach Schnee. Es war kalt, die Luft war klar.

Die Fahrt zum Club verbrachten wir größtenteils schweigend. Roth saß in seinem Porsche, den er auf dem Parkplatz gegenüber einer Schule abgestellt hatte. Kaum waren Zayne und ich mit dem Impala vorgefahren, stieg er aus.

Ich sah an mir herab und rümpfte die Nase.

Roth war so angezogen, als sei er auf dem Weg zu einem Zirkel voller Hexen. Er trug Lederhose und dunkles Shirt, ein Outfit, das für Gefahr und Chaos stand. Meine Jeans und der blaue Rollkragenpullover standen dagegen mehr für Plätzchenteig und Selbstgestricktes.

„Ich hätte wohl besser etwas Passenderes anziehen sollen“, merkte ich an.

„Ich finde, du sieht gut aus.“

Dankbar lächelte ich Zayne an. „Lieb von dir, aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass ich aus der Menge rausstechen werde.“

„Das machst du doch immer.“ Sein Grinsen verschwand, als Roth zum Wagen kam. Missmutig kurbelte Zayne das Fenster runter. „Was ist?“

Unbeeindruckt schaute Roth in den Wagen. „Das wurde auch Zeit. Ich warte jetzt schon so lange auf euch, dass mir ein Sechstagebart gewachsen ist.“

Zayne verdrehte die Augen, während ich nach dem Club suchte. Im ersten Moment dachte ich, wir wären hier falsch. Aber der Club befand sich in einem Nobelhotel mit verspiegelten Scheiben und mit Skulpturen, die aussahen wie von einem Fünfjährigen modelliert.

„Ich wünschte wirklich, ich könnte mitkommen“, erklärte Zayne und nahm die Hände vom Lenkrad. „Mir gefällt nicht, dass du allein da reingehst.“

„Sie geht mit mir rein“, warf Roth amüsiert ein, während er gegen den Wagen gelehnt dastand. „Sie ist nicht allein.“

„Du zählst nicht.“

Es wurde wirklich Zeit, aus dem Wagen auszusteigen. Ich machte die Beifahrertür auf, aber Zayne griff nach meiner Hand. „Pass gut auf dich auf“, sagte er.

„Mach ich.“ Ich zögerte und hatte das Bedürfnis, mich mit einem Kuss von ihm zu verabschieden, aber der Gaffer, der uns durchs offene Fenster beobachtete, hielt mich davon ab.

„Wie süß.“ Roth stieß sich vom Wagen ab. Sein Tonfall war amüsiert, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände. „Keine Sorge, Stony. Sie ist in guten und fähigen Händen. Ich glaube, du weißt, wie gut und fähig diese Hände sind.“

Ein wütender Ausdruck erschien auf Zaynes Gesicht. „Ach, fick dich doch.“

Roth grinste breit. „Also, was das angeht …“

„Komm ja nicht auf die Idee, den Rest von diesem Satz auszusprechen“, fuhr ich ihn an und warf die Wagentür zu. Über das Dach des Impala hinweg sahen wir uns an. „Ich meine es ernst.“

Er zog eine Braue hoch, dann winkte er Zayne zu. Ich drehte mich weg und lief los. Doch im nächsten Augenblick war Roth auch schon neben mir. „Das war nicht nötig“, ermahnte ich ihn.

Roths Schultern waren angespannt. „Wie du meinst. Aber das ist jetzt auch nichts, worauf wir uns konzentrieren müssen.“

„Es geht nicht darum, ob wir uns darauf konzentrieren müssen oder nicht.“ Wir überquerten die fast menschenleere Straße, was etwas eigenartig war, schließlich war es gerade mal acht Uhr. „Es gibt keinen Grund, solche Dinge zu ihm zu sagen.“

An der Tür angekommen, sah er mich an. „Wirklich nicht, Layla?“

Unsere Blicke trafen sich, und in diesem Moment war es so, als hätte sich sein Schutzschild abgeschaltet. Wut, Enttäuschung, Sehnsucht und Hilflosigkeit – das alles war in seinen bernsteinfarbenen Augen zu erkennen. In der nächsten Sekunde drehte er sich weg und gab mir ein Zeichen, in die Lobby zu gehen. „Bringen wir’s hinter uns.“

Sein schroffer Tonfall ließ mich nach Luft schnappen, aber dann straffte ich mich und ging entschlossen an ihm vorbei in die Lobby des Hotels, das einen sehr modernen und geschmackvollen Eindruck machte. Silberne Deckenlampen sorgten für genügend Licht im Eingangsbereich, doch es fühlte sich irgendwie so an, als würde das Gebäude sich uns entgegenstrecken, so als suche es Schutz und Trost. Mir sträubten sich die Nackenhaare.

Ich folgte Roth zum Aufzug, dann fuhren wir schweigend bis rauf in den dreizehnten Stock.

Als wir den langen Flur betraten, war ich das reinste Nervenbündel. Einerseits hatte das natürlich damit zu tun, dass wir uns gleich unter ein Rudel Hexen von der unfreundlichen Sorte mischen würden. Andererseits keimte ein Funken Hoffnung in meiner Brust. Vielleicht konnte die Alte uns ja etwas erzählen, das meine Befürchtungen widerlegte und Zaynes Meinung bestätigte.

Gerade wollte ich Roth fragen, ob wir hier überhaupt richtig waren, da bogen wir um eine Ecke, und vor uns sah ich einen Eingang zu einem Restaurant oder Club. Die Glasscheiben der zweiflügeligen Tür waren bronzefarben getönt, darauf befand sich ein kreisförmiges Design. Durch die Scheiben hindurch konnte ich menschliche Gestalten erkennen, die an Tischen saßen.

„Bist du bereit?“, wollte Roth wissen.

„Klar.“

Er warf mir einen zweifelnden Blick zu, öffnete die Türen und ließ mich eintreten. Als Erstes fiel mir auf, wie normal hier alles war. Völlig normal, und zwar nach menschlichen Maßstäben. An einem Empfangspult blieben wir stehen. An den Tischen saßen Paare, lachten und unterhielten sich. An der hinteren Wand befand sich eine gut sortierte Bar, an der sich Gäste drängten. Aus Deckenlautsprechern drang leise Jazzmusik. Keiner hier war in schwarzer Kluft erschienen. Und ich war genau richtig angezogen. Ich würde niemandem ins Auge stechen.

„Was hast du erwartet?“ Er lachte mir leise ins Ohr, und ich begann mich zu fragen, ob meine Antwort „Jedenfalls nicht so was“ nur ein Gedanke war oder ob ich die Worte laut ausgesprochen hatte.

„Hast du noch nie davon gehört, dass man nicht aufgrund von Äußerlichkeiten urteilen soll?“ Er nahm meine Hand und hielt sie noch etwas fester umschlossen, als ich ihn aufgebracht ansah. „Wie ich schon sagte, Shortie: Lass dich nicht vom äußeren Anschein täuschen. Außerdem musst du in meiner Nähe bleiben.“

Eine schlanke Frau kam zu uns. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, das oberhalb der Knie endete. Die Haare hatte sie zu einem eleganten Nackenknoten zusammengefasst. „Es tut mir leid. Ohne Reservierung können Sie keinen Tisch bekommen.“

Roth lächelte sie an. „Woher wissen Sie, dass wir nicht reserviert haben?“ Er sah zum Pult, dort lag kein Buch. „Sie kennen doch gar nicht unsere Namen.“

„Ich weiß, dass Sie nicht reserviert haben.“ Sie hob das Kinn ein wenig an und betrachtete uns frostig. „Und ich weiß auch, was Sie beide sind. Wenn Sie das Gebäude heil und unversehrt verlassen möchten, schlage ich vor, dass Sie …“

„Rowena“, meldete sich ein Mann zu Wort, der plötzlich hinter ihr auftauchte. „Die beiden werden erwartet. Lassen Sie sie durch.“

Wir wurden erwartet? Ich sah zu Roth, aber an dessen regloser Miene war nichts abzulesen.

Der Frau schien das nicht zu gefallen, trotzdem machte sie uns Platz. Der Mann nickte uns zu. „Kommen Sie mit, sie erwartet Sie bereits.“

Das war alles schon ein bisschen unheimlich. Als wir hinter dem Mann, der Mitte vierzig zu sein schien, durch den Saal gingen, unterbrachen die anderen Gäste … oder besser gesagt: die Hexen … das, womit sie beschäftigt waren, und starrten uns hinterher. Einige vergaßen darüber, die Gabel weiter zum Mund zu führen, andere drehten sich nur nach uns um. All die starren Mienen und die argwöhnischen Blicke verrieten deutlich, dass man über unsere Anwesenheit nicht gerade glücklich war.

Mit einem Mal war es gar nicht mehr so schlimm, dass Roth meine Hand hielt, auch wenn es mir ein wenig das Gefühl gab, ein Weichei zu sein. Ich war im Nahkampf ausgebildet, nicht im Abwehren von Zaubern.

Der Mann führte uns an der Bar vorbei in einen abgeteilten Bereich des Clubs. Dort gab es nur einen Tisch mit einer großen, halbkreisförmigen Couch. Insgesamt sechs Frauen saßen auf dieser Couch und standen auf, als wir hereinkamen. Sie gingen an uns vorbei, ohne uns eines einzigen Blicks zu würdigen.

Überhaupt nicht seltsam.

Die Couch sah nun leer aus, aber als wir uns dem offenen Bereich näherten, entdeckte ich auf einmal noch eine Frau. Heilige Scheiße, sie sah aus wie die Hüterin der Gruft persönlich. Die Frau war alt … so alt, dass ich nicht so ganz begriff, wie sie immer noch leben und atmen konnte.

Schneeweiße Haarbüschel reichten bis auf ihre schmalen, zerbrechlichen Schultern. Tiefe Falten durchzogen ihr Gesicht, und ihre Augen … sie waren milchig weiß. Komplett milchig weiß.

Die alte Frau lächelte, dabei wurden die Furchen in ihrer Haut so tief, dass ich dachte, das Gesicht müsste jeden Moment in sich selbst zusammenfallen. „Was hast du erwartet?“ Für eine so alte Frau war sie stimmlich noch gut bei Kräften. „Etwa eine junge Frau? Du suchst doch die Alte, oder nicht?“

„Ja, genau“, antwortete ich, da mir meine Stimme nicht länger den Dienst versagte.

„Eine Alte ist alt und weise … oder einfach nur alt. So oder so wandele ich schon seit vielen Jahren auf dieser Erde“, redete sie weiter, hob eine schmale, blasse Hand und gab uns ein Zeichen, dass wir uns hinsetzen sollten. „Und heute sehe ich zum ersten Mal einen Kronprinzen.“

Roth setzte sich hin und zog mich neben sich. „Es ist mir eine Ehre, Alte.“

Sie hob ihr Kinn ein wenig an. „Und ich hätte auch nie gedacht, dass ich den Tag erlebe, an dem ich das Kind eines Wächters und unserer wahren Mutter zu Gesicht bekomme. Aber das bist du: Liliths eigen Fleisch und Blut.“

Ich hatte keine Ahnung, was ich erwidern sollte.

Die Alte beugte sich so weit vor, dass ich Angst bekam, sie könnte vornüberkippen und vor unseren Augen zu Staub zerfallen. „Was du fürchtest, Kind, ist verkehrt. Manches Böse, meine Kinder, ist einfach unverzichtbar.“

Roths Blick wirkte auf mich, als wollte er fragen: „Na, hab ich’s nicht gleich gesagt?“ Ich war klug genug, den Mund zu halten.

„Ich weiß, wieso ihr zwei hier seid.“ Ihr Lachen klang wie das Scheppern alter, trockener Knochen. „Ich weiß, ihr seid hier, weil ihr nach der Lilin sucht.“

Mein Herz machte einen Satz, und ich fand, dass Ehrlichkeit die beste Strategie war. „Ja, wir müssen die Lilin finden.“

„Am liebsten schon vorgestern“, fügte Roth hinzu. „Ich weiß, ihr wollt alle eine Lilith haben, aber ihr wisst, welche Kettenreaktion die Lilin auslösen wird.“

„Ah, ja. Die Alphas.“ Sie fuchtelte mit den Händen. „Mich wundert, dass sie nicht schon längst eingetroffen sind, um mit ihren mächtigen Schwertern alles zu zerteilen, was ihrer Ansicht nach dieser Erde unwürdig ist. Habt ihr schon einmal einen Alpha gesehen, Kinder?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich war einmal in … in ihrer Nähe, aber gesehen habe ich keinen.“

„Ich auch nicht“, antwortete Roth. „Aus mehr als offensichtlichen Gründen.“

Die Alte musste erneut lachen. „Das ist wahr. Wäre das der Fall, würdest du jetzt nicht hier sitzen, nicht wahr? Ach ja, die Alphas. Sie stellen für uns alle eine Bedrohung dar. Vielleicht sogar für die Menschen. Sie teilen alles nur in Schwarz und Weiß ein. Für sie gibt es keine Grauzonen. Kein Mitgefühl. Sie sind die wahren Monster.“

Ich setzte eine ausdruckslose Miene auf, während sie weiterredete. Die Alphas waren buchstäblich jedermanns Schreckgespenst. Und auch wenn ein Teil von mir sich zu ihnen hingezogen fühlte, machten sie mir gleichzeitig Angst.

„Zurück zur Lilin“, versuchte Roth behutsam das Thema zu wechseln.

„Ungeduldig, junger Prinz? Das solltest du nicht sein.“ Die Alte kicherte. „Keine Lilin hat bei uns Zuflucht gesucht, falls es das ist, was du denkst. Was du suchst, befindet sich genau vor dir, Prinz. Das weißt du. Es ist der wahre Grund, warum du aus der Hölle aufgestiegen bist.“