35. KAPITEL

Ich brauchte noch einmal eineinhalb Tage, bis mein Körper sich ganz erholt hatte. In dieser Zeit entwickelten sich Roth und Cayman zu einer Art Kumpanen, weil sie für meine Unterhaltung sorgten, gleichzeitig aber darauf achteten, dass ich das Bett nicht verließ.

Am Ende hatte ich jeden Film mit Will Ferrell gesehen, der jemals gedreht worden war.

Gemeinsam überlegten wir, wie wir nun weitermachen sollten. Nach allem, was wir herausfinden konnten, hatte ich mich wiederholt in der Nähe aller Infizierten aufgehalten, aber bekanntlich keinen von ihnen geküsst. Jedenfalls traf das auf Dean und Gareth zu, während es sich bei dieser Frau aus dem Club im Palisades ganz anders verhalten hatte. Und trotzdem war sie ebenfalls tot. Wer sonst noch alles betroffen sein mochte, konnten wir überhaupt nicht sagen. Es gab so viele Ungereimtheiten, und wir hatten keine Ahnung, wen wir dazu befragen sollten.

Es war eine große Erleichterung für mich, dass wir so was wie einen Plan hatten, auch wenn der nicht sehr detailliert und bis zum Ende durchdacht war. Aber wenn Ruhe herrschte, weil Roth unterwegs oder Cayman im Sessel eingeschlafen war, musste ich unwillkürlich an alles denken, was ich verloren hatte.

Und das war wirklich eine ganze Menge.

Auch wenn die Wächter sich am Ende gegen mich gestellt hatten, waren sie doch mein Clan und damit das gewesen, was für mich einer Familie am nächsten kam. Ich hatte Zayne verloren, aber wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich war, musste ich akzeptieren, dass es dazu schon lange vor diesem verhängnisvollen Kuss gekommen war. Streng genommen hatte ich ihn bereits in dem Moment verloren, als ich mich auf eine Beziehung zu ihm einließ. Denn da wusste ich bereits, wie es enden würde. Wie erwartet hatte ich Zayne wehgetan, unsere Freundschaft war zerstört, und ich war mir sicher, dass er mich jetzt verabscheute, nachdem ich mich von ihm genährt hatte. Er musste von mir angewidert sein, weil er mir vertraut hatte und ich dieses Vertrauen auf eine Weise hintergangen hatte, die weit darüber hinausging, dass ich einen anderen Jungen geküsst hatte.

Ich hätte ihn beinahe umgebracht.

Bislang hatte der Schmerz kein bisschen nachgelassen, und ich war mir nicht sicher, ob das überhaupt jemals der Fall sein würde. Es war so, als hätte ich einen Arm oder ein Bein verloren.

Und meine Freunde? Sam? Stacey? Sie konnte ich auch nicht mehr erreichen. Und ich wusste nicht einmal, ob ich sie womöglich infiziert hatte und sich bei ihnen nur noch keine Symptome gezeigt hatten. Nicht zu wissen, was mit ihnen los war, machte mich fertig. Gott, es war so viel vermasselt worden.

In diesen düsteren Momenten, wie ich gerade jetzt einen erlebte, wollte ich mich einfach nur noch zusammenrollen und mich in etwas absolut Sinnloses verwandeln. Ich war erst siebzehn, aber mein Leben war praktisch schon vorbei. Vielleicht lag ja etwas ganz Neues vor mir, aber es war mit Sicherheit nicht das Leben, das ich mir vorgestellt hatte.

Roth kam ins Wohnzimmer und hielt eine Schüssel mit Käsebällchen in den Händen. Er ließ sich neben mir aufs Sofa plumpsen, warf mir einen Blick zu und stopfte sich eine Handvoll Käsebällchen in den Mund. Nur er konnte etwas so Fettiges und Krümeliges essen und dabei immer noch sexy aussehen.

Verdammter Dämon.

Die Situation zwischen uns war … angespannt. Vieles war gesagt worden, aber einiges wartete noch immer darauf, ausgesprochen zu werden. In gewisser Weise hatte er mir alles erklärt, aber ich war nicht davon überzeugt, dass ich mir seine schmerzhaft schönen Worte bloß eingebildet hatte. Ich wusste einfach nicht, was ich damit anfangen sollte. Konnte ich Roth vertrauen? Und ihm guten Gewissens einen Platz in meinem Herzen überlassen? Es war schwierig, denn in mir drin herrschte im Augenblick nur noch ein riesiges Chaos.

„Was geht ab?“, fragte er, griff in die Schüssel und holte ein ziemlich großes Käsebällchen heraus.

Ich zuckte mit den Schultern und sah zu Cayman. Der saß da und starrte auf den Fernseher, wo gerade Buddy – Der Weihnachtself lief.

Er bot mir das Käsebällchen an, ich nahm es und steckte es mir in den Mund. Krümel fielen mir in den Schoß. Roth sagte nichts, und ich wusste, er wartete.

Ich schlang die Arme um meine Beine und legte das Kinn auf die Knie. „Ich möchte Stacey sehen.“

Er verzog den Mund. „Das halte ich für keine kluge Idee.“

„Ich muss sie und Sam sehen, weil ich sichergehen will, dass ich sie nicht infiziert habe“, machte ich ihm klar. Überraschenderweise achtete Cayman jetzt darauf, was wir redeten. „Ich kann jetzt wieder Auren wahrnehmen, ich werde es den beiden ansehen können.“

„Apropos Auren“, entgegnete Roth. „Ich möchte, dass du wieder Bambi an dich nimmst. Auch wenn sie sich auf deine Fähigkeit auswirkt, macht sie dich auf jeden Fall stärker.“

Ich wollte sie zurücknehmen, und vielleicht würde ich das auch machen. Aber erst wollte ich wissen, ob durch sie meine Seelen saugende Fähigkeit auf einem Terminator-Level gelandet war. „Früher oder später werde ich Bambi zurücknehmen, aber im Moment halte ich es für wichtiger, wieder Seelen sehen zu können.“

„Das ist richtig“, warf Cayman ein und rekelte sich wie eine Katze. „Aber zu deinen Freunden zu gehen wäre dumm. Die Wächter werden nur darauf warten.“

„Das kann sein, aber ich muss wenigstens Stacey sehen“, beharrte ich. „Sie ist meine beste Freundin. Ich muss wissen, ob ich ihr irgendwie wehgetan habe. Ich … ich ertrage diese Ungewissheit nicht.“

Cayman verdrehte die Augen. „Manchmal frage ich mich, ob du nicht in Wahrheit zur Hälfte Mensch bist.“

„Halt die Klappe“, tadelte Roth ihn und rieb sich über die Wange. „Okay, ich verstehe, was du meinst. Wir machen es, aber wir müssen uns beeilen und sehr vorsichtig sein. Und dann müssen wir uns überlegen, was wir als Nächstes machen.“

Erleichtert lockerte ich den Griff um meine Beine. Wenn ich dann noch Zayne sehen könnte … aber das war unmöglich.

Cayman seufzte leise. „Apropos was wir als Nächstes machen. Ich habe gehört, dass Hawaii ziemlich entspannend sein soll. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich könnte einen Urlaub am Strand gut gebrauchen.“

Am nächsten Tag, einem Freitag, fuhren wir zu Stacey nach Hause. Ihre Mom war nicht daheim, ihr kleiner Bruder würde mindestens bis um fünf Uhr am Nachmittag in der Kita bleiben. Also schlichen wir uns nach drinnen, um auf Stacey zu warten.

Ins Haus zu kommen war kein Problem, da ich wusste, dass Stacey immer für alle Fälle einen Reserveschlüssel unter dem riesigen Blumentopf auf dem hinteren Patio versteckt hielt. Ich musste nur den Schlüssel hervorholen, und schon konnten wir die Wohnung betreten.

Ein Hauch von Apfel und Kürbis stieg mir in die Nase. Staceys Mom hatte eine Vorliebe für diese Duftspender, die man an eine Steckdose anschloss, damit es daheim so duftete wie an einem warmen Herbstnachmittag.

Roth folgte mir, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mir dabei auf den Hintern starrte. Die Kleidung, die er und Cayman für mich „besorgt“ hatten, bestand nur aus Teilen, die ich normalerweise gar nicht trug. Enge Kleider, hautenge Jeans, in die ich nur hineinkam, wenn ich mich hinlegte, Lederhosen und Sweater, die wie eine zweite Haut saßen.

Heute trug ich eine weiße Jeans und einen schwarzen Sweater, die mir das Gefühl gaben, als müsste ich mir jeden Moment alles vom Leib reißen und an der nächsten Stange zu tanzen anfangen.

Ich sah über die Schulter und bemerkte sein Grinsen. „Würdest du bitte vorgehen?“, fragte ich.

„Für kein Geld der Welt“, gab er amüsiert zurück.

Nach einem giftigen Blick in Roths Richtung beeilte ich mich, ins Wohnzimmer zu kommen. Stacey musste jeden Augenblick hier sein, und mit etwas Glück war Sam auch dabei. Als wir ein halbes Dutzend Mal durch die Nachbarschaft gefahren waren und nach möglichen Gefahren Ausschau gehalten hatten, waren Roth und ich zu dem Schluss gekommen, dass es besser war, ihr nichts davon zu sagen, dass wir sie besuchen wollten. Geparkt hatten wir schließlich drei Häuserblocks entfernt, allerdings waren wir nicht mit Roths Porsche gefahren, weil er den Wagen für zu auffällig hielt. Stattdessen hatte er sich Caymans Wagen ausgeliehen.

Cayman fuhr einen alten Mustang. O ja, ein total unauffälliges Auto.

Ich setzte mich auf die vorderste Kante der Couch und faltete die Hände im Schoß.

Roth hielt sich am gasbefeuerten Kamin auf. „Sollen wir mal verdorben sein und es auf der Couch da treiben?“

Erschrocken sah ich ihn an.

„Oder auf dem Küchentresen.“ Er zwinkerte mir zu. „Oder im Schlafzimmer. Dann wäre das nicht nur verdorben, sondern richtig schmutzig.“

Meine Wangen begannen zu glühen, er fing an zu lachen. „Du solltest dein Gesicht sehen.“

„Du bist pervers“, gab ich zurück und verkniff mir ein Grinsen.

Roth zuckte mit den Schultern. „Das ist wirklich nicht das Schlimmste, was man mir an den Kopf werfen kann.“

„Es ändert nichts daran, dass es wahr ist“, murmelte ich, woraufhin er wieder lachte.

Ich hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde, und sprang auf, aber Roth kam mir zuvor und war als Erster an der Wohnzimmertür.

Stacey kreischte im Flur. „Wer ist …? Roth, du hast mir einen riesigen Schreck eingejagt!“

„Tut mir leid“, säuselte er.

„Wo bist du gewesen? Wo ist Layla? Wie bist du …?“ Sie unterbrach sich, da sie an der Wohnzimmertür angekommen war.

Ich lächelte, als ich sie sah, und bekam mit einem Mal weiche Knie. Ich verspürte unendliche Erleichterung. Ihre Aura war so wie immer – ein sanfter Grünton. Keine absolut reine Seele, aber es war alles in Ordnung mit ihr. Ich verstand zwar nicht, wie das möglich sein konnte, weil ich doch ständig in ihrer Nähe gewesen war. Aber im Moment zählte nur, dass es ihr gut ging.

Als sie mich sah, ließ sie ihren Rucksack fallen. „O mein Gott, Layla! Wo bist du gewesen? Ich war so in Sorge um dich!“ Sie lief auf mich zu, aber ich nahm die Hand hoch, um sie aufzuhalten. „Was ist?“, fragte sie verwundert und blieb stehen.

„Komm mir nicht zu nah. Ich … na ja, ich weiß nicht, ob das für dich sicher ist.“

Sie zog die Augenbrauen zusammen und sah zwischen Roth und mir hin und her. „Warum sollte das nicht sicher für mich sein? Und wo zum Teufel bist du überhaupt gewesen? Alle waren in Sorge um dich. Sam meint, diese Kirchenleute hätten dich entführt, und Zayne war …“

„Was ist mit ihm?“, fiel Roth ihr ins Wort und machte einen Schritt auf Stacey zu. Seine Stimme klang angespannt.

Vor Schreck trat Stacey einen Schritt zurück und schluckte. „Er ist ein paarmal hier vorbeigekommen und hat gefragt, ob ich was von Layla gehört habe. Mehr nicht.“

Mein Herz schlug gegen die Rippen wie ein wildes Tier, das aus einem Käfig zu entkommen versuchte. „Hat … War er normal?“

Diese Frage ließ sie noch verwirrter dreinschauen. „Ja. So wie immer. Nur sehr besorgt und aufgeregt.“ Sie warf Roth einen fragenden Blick zu. „Was ist los, Leute?“

„Wann war Zayne das letzte Mal hier?“ Dass Roth ihn nicht Stony nannte, zeigte mir, wie ernst die Lage war.

„Gestern. Etwa um diese Zeit. Er kommt jeden Tag vorbei, seit …“

Fluchend drehte sich Roth zu mir um. „Ich habe dir gesagt, dass das keine kluge Idee ist. Wir müssen gehen.“

„Wartet!“, brüllte Stacey und stampfte mit dem Fuß auf. „Kein Mensch geht hier irgendwohin, solange ich nicht weiß, was los ist!“

„Wir haben noch Zeit“, sagte ich zu Roth. „Im Moment höre ich nicht, dass da irgendjemand versucht, die Haustür einzutreten.“

„Ja, im Moment.“ Er drehte sich zu mir um und stand verkrampft da. „Ich weiß, du willst darüber nicht nachdenken. Ich glaube ja selbst nicht, dass er dir absichtlich wehtun würde. Aber das kann ich nicht über die Wächter sagen, die ihm folgen werden. Und du kannst davon ausgehen, dass sie ihm dicht auf den Fersen sind.“

„Das weiß ich auch, Roth. Ich bin nicht blöd. Mir ist klar, dass wir bald gehen müssen, aber Stacey verdient es, zu erfahren, was los ist.“

„Allerdings“, stimmte sie mir zu. „Mir ist egal, ob du der Kronprinz bist. Setz dich einfach hin und halt die Klappe, okay?“

Roth zog verblüfft die Brauen hoch, dann lachte er. „Du kannst froh sein, dass ich dich mag.“

„Jeder mag mich“, konterte sie, atmete tief durch und drehte sich zu mir um. „Was ist passiert?“

„Du solltest dich lieber hinsetzen“, empfahl ich ihr.

Einen Moment lang schien sie mir widersprechen zu wollen, aber dann nahm sie Platz. Ich schilderte ihr in groben Zügen, was geschehen war, wobei ich auf den Käfig und die Folter nicht näher einging. Diese Dinge wollte ich nicht noch einmal durchleben. Als ich zum Schluss kam, war Stacey kreidebleich.

„Mein Gott, Layla, ich … ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Ich würde dich ja in den Arm nehmen, aber wenn ich dir zu nahe komme, flippst du aus, nicht wahr?“

Ich biss mir auf die Lippe. „Ich kann dir nicht genau sagen, wie ich die Leute infiziert habe. Aber es … es muss an mir liegen.“

Tränen standen ihr in den Augen. „Nein. Ich weigere mich, das zu glauben. Das steckt nicht in dir, auch wenn du keine Ahnung hast, wie es passiert.“

Ich lächelte sie an und wünschte mir, ich könnte sie umarmen. „Danke, aber ich …“

„Das ergibt keinen Sinn“, redete sie weiter und schüttelte energisch den Kopf. „Wieso bin ich nicht infiziert? Oder Sam? Du hast dich immer in unserer Nähe aufgehalten, aber nicht bei den anderen.“

„Das wissen wir nicht“, sagte Roth. „Aber wir werden versuchen, es herauszufinden.“

Mit den Handrücken wischte sie über ihre Wangen, schniefte und ließ die Arme sinken. „Und was willst du machen? Du kannst doch nicht einfach weggehen.“

„Das muss ich aber, Stacey.“ Mir wurde übel bei dem Gedanken. „Mindestens so lange, bis ich weiß, was mit mir nicht stimmt.“

„Und was ist mit der Schule? Du kannst dann keinen Abschluss machen. Highschool, Layla.“

„Ich glaube, das weiß sie“, warf Roth spöttisch ein. „Aber danke, dass du sie noch mal darauf aufmerksam machst.“

Ihre Unterlippe zitterte. „Entschuldige, aber das ist eine wirklich große Sache. Was willst du denn aus deinem Leben machen? Wie willst du …?“

„Das wird sich alles finden“, unterbrach er sie nachdrücklich.

Ich seufzte. „Ich kann dazu noch gar nichts sagen. Vielleicht kann ich meinen Abschluss ja doch noch bekommen und Collegekurse online absolvieren, bis sich das hier geklärt hat.“

Stacey stand aus ihrem Sessel auf und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht fair.“

Nein, fair war das wirklich nicht.

Unruhig lief sie im Zimmer auf und ab. „Wir müssen doch irgendwas tun können. Das kann doch nicht dein einziger …“

Auf einmal versteifte sich Roth, fluchte leise und drehte sich abrupt zu mir um. Ich war schon aufgesprungen, weil es nur einen Grund für diese Reaktion geben konnte.

„Was ist denn?“, fragte Stacey und schaute sich um.

„Ein Wächter ist in der Nähe“, sagte Roth. „Er ist sehr nah.“

Ich ballte die Fäuste, statisches Knistern tänzelte über meine Haut. „Was hast du gesagt, wann Zayne üblicherweise hier vorbeikommt?“

„Etwa um die Zeit, manchmal auch ein bisschen später.“ Stacey riss die Augen auf. „Er würde dir nichts tun, Layla.“

„Ich weiß“, erwiderte ich und konnte nur hoffen, dass wir uns beide nicht irrten. Ich hatte keine Ahnung, wie Zayne jetzt über mich dachte, nachdem ich ihm so wehgetan hatte.

„Ein Wächter wird wissen, dass wir hier sind. Er wird unsere Anwesenheit spüren.“ Roth drehte sich weg, seine Miene wirkte angespannt. „Das wird …“

Eine Tür flog auf, Stacey kreischte vor Schreck. Es war die Tür, durch die wir ins Haus gekommen waren und die wir hinter uns abgeschlossen hatten. Man hätte meinen können, dass uns jemand bis zur Tür gefolgt war, aber Zayne war äußerst geschickt darin, ein Schloss zu knacken. Dass er es war, wusste ich, weil der schwache Geruch nach Winterminze mit meinen Sinnen spielte.

Plötzlich stand Roth vor mir, aber ich ging um ihn herum. Ich hatte nicht vor, mich zu verstecken. Gerade als mein Herz einen Satz machte, fiel ein Schatten auf den Eingang zum Wohnzimmer, und dann stand Zayne da.

Ich hatte das Gefühl, dass er mich sofort gefunden hätte, selbst wenn hundert Leute hier dicht gedrängt im Zimmer gestanden hätten. Sein Blick erfasste mich, und das Erste, was mir an ihm auffiel, war seine Aura. Sie war immer noch weiß und wunderschön, aber sie wirkte etwas matt, so wie eine Glühbirne kurz vor dem Erlöschen. Außerdem sah er schrecklich aus.

Dunkle Schatten unter seinen Augen wirkten wie Tintenflecken auf der Haut. Er war unrasiert, wirkte angespannt. Hatte ich ihm das angetan, als ich ihm einen Teil seiner Seele nahm?

Zayne machte einen unsicheren Schritt nach vorn, es wirkte, als könnte er nicht näher kommen. „Layla“, sagte er. Das eine Wort klang gebrochen, so wie ein Bogen, der überspannt wurde und zerbrach. Müde ließ er die Schultern sinken.

„Ist dir jemand gefolgt?“, fragte Roth.

Aber Zayne starrte mich nur an. Sein Gesicht war blass, seine Brust hob und senkte sich mit jedem tiefen Atemzug.

Roth stieß ein tiefes Grollen aus. „Ist dir jemand gefolgt?“

Stacey machte einen großen Schritt nach hinten. „Ich glaube, ich sollte euch besser ein bisschen aus dem Weg gehen.“

Schließlich schüttelte Zayne den Kopf. „Nein.“

Seine Antwort konnte Roth nicht beruhigen. „Wie kannst du dir da sicher sein?“

„Sie haben keinen Grund, mir zu folgen“, sagte er und zwinkerte ein paarmal. „Mein Gott, Layla, ich … Es tut mir so leid.“

Erschrocken legte ich mir eine Hand auf die Brust. „Wieso entschuldigst du dich? Ich bin doch …“

„Ich weiß, was sie mit dir gemacht haben.“ Dann sah er Roth an. „Keine Ahnung, was du getan und wie du ihr geholfen hast. Aber ich danke dir für alles. Dafür werde ich mich niemals bei dir revanchieren können. Niemals.“

Hoppla …

Sogar Roth schien davon überrumpelt zu sein. Er erwiderte nichts, sondern nickte nur. Zayne drehte sich wieder zu mir um und schüttelte den Kopf. Mein Herz verkrampfte sich.

Als es an der Haustür klopfte, stellten sich mir die Nackenhaare auf.

„Das wird wohl kein Wächter sein, oder?“, fragte Stacey. „Ich glaube, die würden wohl nicht erst noch anklopfen.“

Zayne ließ mich nicht aus den Augen. „Nein, die würden nicht anklopfen. Aber ich kann euch versichern, dass sie mir nicht folgen. Sie … sie glauben, dass sie tot ist.“

Roth zog die Oberlippe hoch, Fangzähne kamen zum Vorschein. Er ging auf Zayne zu, und obwohl er genau wusste, dass Zayne für nichts verantwortlich war, wollte er wegen der Sache Blut vergießen … das Blut eines Wächters … irgendeines Wächters.

Ich fasste nach seinem Arm und hielt ihn auf. „Tu das nicht. Du weißt, es ist nicht seine Schuld. Geh nicht auf ihn los. Bitte.“

Er betrachtete Zayne, als wollte er dessen Eingeweide als Fingerfarben benutzen. Dann drehte er sich zu mir um, beugte sich vor und sagte: „Nur weil du mich darum gebeten hast. Nur deshalb.“

Zayne kniff die Augen zu. Erneut wurde angeklopft.

„Ähm … ich werde mal nachsehen, wer das ist“, erklärte Stacey.

„Ich komme mit“, meinte Roth. Als er an Zayne vorbeiging, warf er ihm einen warnenden Blick zu. „Ich hoffe für dich, dass ich es nicht bereuen werde, dass ich dich weiteratmen lasse.“

Ein Muskel zuckte an seinem Kiefer, doch Zayne erwiderte nichts. Als Roth und Stacey das Zimmer verlassen hatten, atmete ich tief durch.

„Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll“, flüsterte ich und schlang die Arme um meine Taille. „Aber es tut mir so leid, dass ich dir wehgetan habe. Ich wollte das nicht. Ich weiß, das macht es nicht ungeschehen, aber …“

„Hör auf …“, unterbrach mich Zayne. Für einen Moment versagte ihm die Stimme. „Hör auf, dich zu entschuldigen, Layla. Dich trifft keine Schuld. Du verstehst nicht. Es ist so viel geschehen.“ Er unterbrach sich und kam einen Schritt näher. „Mir ist egal, was du mir angetan hast und was passiert ist. Es hat nichts mit dir zu tun. Es kann nichts mit dir zu tun haben.“

„Zayne“, flehte ich ihn leise an.

„Es ist ein Geist im Haus“, sprach er weiter. Im ersten Moment dachte ich, ich hätte mich verhört. „Es ist Petr. Geoff hat ihn mit einer Überwachungskamera erwischt, kurz nachdem … O Gott … was mein Clan … dein Clan dir angetan hat …“ Er schluckte angestrengt, und ich hätte schwören können, dass ihm Tränen in den Augen standen. „Sie glauben, du bist tot. Sogar Nicolai war sich nicht sicher, ob er Roth noch rechtzeitig dazuholen konnte. Aber ich wusste, du bist nicht tot. Ich hätte es hier gespürt.“ Mit der Hand klopfte er auf seine Brust. „Ich würde es merken, wenn ein Teil meines Herzens fehlen würde.“

Mir stockte der Atem. Die Stimmen im Flur wurden lauter, Stacey und Roth kamen zurück ins Wohnzimmer, hinter ihnen der große, schlanke Sam. Die Luft wurde mir aus der Lunge gepresst, als hätte mir jemand einen Tritt gegen die Brust verpasst.

Mir zitterten die Knie, und ich machte einen Schritt nach hinten, weil mein Gehirn nicht verarbeiten wollte, was meine Augen sahen. Aber es ließ sich unmöglich leugnen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz zerplatzen wollte.

Zayne zog die Brauen zusammen und war ganz auf mich konzentriert. „Layla?“

Das Zimmer schien sich um mich zu drehen. Beiläufig nahm ich wahr, dass Roth sich neben mich stellte. Aber all mein Denken und Fühlen war auf Sam fokussiert.

Er stand in der Tür, hatte den Kopf zur Seite geneigt und machte einen neugierigen Eindruck. Alles an ihm sah normal aus, jedenfalls nach den Maßstäben des „neuen Sam“. Die kunstvoll zerzauste Frisur, die modische Kleidung, das leuchtende Selbstbewusstsein, das er förmlich vor sich herzutragen schien. Sam hatte sich verändert.

Aber das war alles andere als normal.

Er lächelte noch etwas breiter, seine Augen funkelten. „Layla? Ist alles in Ordnung?“

Seine Stimme fühlte sich an, als würde jemand Nägel über meine Haut ziehen. Ich schnappte nach Luft, und auf einmal … o mein Gott … auf einmal verstand ich. Alles ergab auf einmal einen schrecklichen Sinn. Ich hatte es bis jetzt bloß nicht erkannt.

„Ich weiß es“, flüsterte ich entsetzt.

Verwirrt sah Stacey mich an, während sie die Arme verschränkte. „Was weißt du?“

„Ah“, säuselte Sam. „Dir dämmert was. Wird auch Zeit. So langsam bekam ich nämlich Zweifel, was deine Intelligenz angeht, Schwester.“

Es war, als würde ein eisiger Hauch ins Zimmer wehen, als Roth ebenfalls verstand und leise zu fluchen begann.

Sam sah zu Roth, aber die Gewalttätigkeit, die der Kronprinz ausstrahlte, schien ihn nicht zu kümmern. Ich hatte schon vor einer Weile geglaubt, meine Welt sei zerstört worden, doch das war ein Irrtum gewesen. Sie wurde genau in diesem Moment zerschmettert.

Sam hatte keine Aura. Nichts, gar nichts. So wie bei Roth war da nur eine gewaltige Leere. Bei Roth war das zu erwarten gewesen, aber nicht bei Sam.

Sam hatte keine Seele.

Aber das war noch nicht alles. Ein Mensch verlor nicht mal eben seine Seele. Entweder er hatte eine Seele, oder er hatte keine. Wenn er keine hatte, war er tot – ein Geist. Nur etwas Nichtmenschliches konnte leben und trotzdem keine Seele haben. Oder etwas absolut Besessenes.

Zayne hatte gesagt, dass man im Anwesen einen Geist entdeckt hatte, den Geist von Petr. Petr hatte all diese Dinge getan, für die man mich verantwortlich gemacht hatte. Ich erinnerte mich an die Worte der Alten. Wir hatten ihre Erklärungen komplett falsch gedeutet. Wonach wir suchten, hatte sich tatsächlich die ganze Zeit vor unseren Augen befunden. Es war jemand, der sich immer in meiner Nähe aufhielt und mit einem Großteil der Leute Kontakt hatte, mit denen ich auch zu tun hatte. Als ich erfahren hatte, dass die Frau aus dem Club in den Palisades gestorben war, da hatte ich kurz davon gesprochen, dass die einzige andere Erklärung die war, dass die Lilin mir auf Schritt und Tritt folgte. Aber die Möglichkeit hatte ich gleich darauf wieder verworfen und stattdessen mir selbst die schlimmsten Dinge unterstellt.

In jener Nacht, die so unendlich weit zurückzuliegen schien, hatte Paimons Ritual sehr wohl funktioniert. Meine Unschuld war nie der Schlüssel für den Erfolg des Zaubers gewesen. Cayman hatte genau richtiggelegen, als er sagte, dass eine fleischliche Sünde genügt haben musste. Mein Blut war in dieser Nacht vergossen worden, es hatte sich durch den Boden gefressen, und im Keller der Schule hatte sich ein Kokon befunden, der Teil des Rituals war – mein Blut hatte vergossen werden müssen.

Bambi hatte meine Fähigkeiten beeinflusst, aber nur zum Guten, wie mir jetzt klar wurde. Sie hatte mich nicht dazu veranlasst, den Leuten um mich herum die Seele auszusaugen. Sie hatte mir geholfen, weil ich mit all diesen schrecklichen Dingen gar nichts zu tun hatte. Trotzdem fühlte ich mich deswegen nicht erleichtert.

„Jeder hat gedacht, du bist diejenige. Dein Clan hat es geglaubt, die Lieben deines Lebens ebenfalls.“ Sam lachte, und es hörte sich genauso an wie Sams Lachen. Es war auch Sams Lachen. Aber wer in dieser Haut steckte, war nicht der Junge, den ich kannte. „Du hast es sogar selbst geglaubt. Das ist schon richtig traurig. So tief ist mangelndes Selbstbewusstsein noch nie gesunken.“

„Sam …“ Stacey keuchte und presste sich eine Hand auf die Brust. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht. „Was redest du da?“

Seine Pupillen weiteten sich so sehr, dass seine Augen wie Stücke aus Obsidian aussahen. Seine Gesichtszüge blieben unverändert. Nein, seine Seele hatte Sam nicht verloren. Er war auch nicht besessen. Es war noch viel schlimmer, denn was vor uns stand, war längst nicht mehr Sam.

Sam war … die Lilin.

– ENDE –

Die Dark-Elements-Reihe von Jennifer L. Armentrout wird demnächst fortgesetzt.

Lest jetzt eine ganz besondere Bonusszene aus Zaynes Perspektive …

„DARF ICH?“

Layla stürmte vor mir davon.

Ich starrte auf die Tür und widerstand dem instinktiven Drang, ihr zu folgen. Der Wunsch war da, weil Wächter nun einmal so reagierten. Wenn etwas vor uns weglief, setzten wir zur Verfolgung an. Aber in diesem Fall gab es einen weitaus wichtigeren Grund für das Verlangen, und der hatte nichts mit dem zu tun, was ich war.

Oder was Layla war.

Mir war in diesem Moment auch völlig egal, was sie im Arbeitszimmer meines Vaters gesucht hatte.

Eigentlich war sie nicht vor mir davongelaufen, sondern hatte mich hier zurückgelassen, und das gefiel mir nicht. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie früher so etwas gemacht hatte. Jedenfalls nicht, bevor er – dieser Roth – aufgetaucht war.

Nein, mir gefiel dieser ganze Mist überhaupt nicht.

Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und atmete laut in der Stille des Zimmers aus. Vor meinem geistigen Auge tauchte ohne jede Anstrengung das Bild von Layla im BH auf – was auch für jede andere verdammte Sekunde galt, seit ich sie gesehen hatte.

O Gott, sie war so … wunderschön. Aber nicht, dass mir das erst aufgefallen wäre, nachdem ich sie so gesehen hatte. Das hatte ich schon vor langer Zeit erkannt.

Ich ließ den Blick zur Decke wandern.

Keine fünf Sekunden brauchte ich vom Arbeitszimmer bis nach oben in ihr Schlafzimmer. Ich klopfte nicht an, sondern stieß einfach die Tür auf – und da stand sie. Was für ein perfektes Timing.

Cardigan und Strümpfe hatte sie bereits ausgezogen, jetzt trug sie nur noch ihre Shorts und das dünne Tanktop, das per Gesetz hätten verboten werden müssen. Hitze brodelte dicht unter meiner Haut, während ich sie ansah. Es war nicht das Gefühl, das ich verspürte, kurz bevor ich mich wandelte. Es war ein anderes Lodern, ein hitzigeres, das aus größerer Tiefe kam.

Ich trat ein und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Was willst du jetzt noch?“

Ihr Tonfall klang weniger tadelnd als vielmehr … verwirrt, was mich wiederum ratlos machte. „Gar nichts.“ Ehe ich mich davon abhalten konnte, ging ich zu ihrem Bett und setzte mich hin. Ich streckte die Beine aus, dann klopfte ich mit der Handfläche auf das Bett. „Komm her.“

„Zayne …?“ Ratlos sah sie mich an. Ihr rosiger Mund war einen winzigen Spaltbreit geöffnet. „Du bist heute Nacht echt nervig.“

Das stimmte.

Ich wusste das, aber ich … ich konnte mich einfach nicht von ihr fernhalten und war es so verdammt leid, genau das jeden Tag zu versuchen. „Das bist du jede Nacht.“ Wieder klopfte ich aufs Bett. „Hör auf, dich so seltsam zu benehmen.“ Als sie immer noch wie angewurzelt dastand, zog ich die Augenbrauen hoch. „Kommst du jetzt her?“

Fünf Sekunden. Wenn sie sich in fünf Sekunden nicht von der Stelle rührte, würde ich gehen.

Sie rührte sich von der Stelle.

Layla holte tief Luft, dann kletterte sie zu mir ins Bett und schluckte sichtlich angestrengt. Wir hatten so was schon tausendmal gemacht, aber heute war es anders. Alles war anders.

Ich musste einen klaren Kopf kriegen. „Schöne Shorts.“

„Kannst du aufhören zu reden?“

Unwillkürlich musste ich lachen. „Du hast heute Nacht eine seltsame Laune. Hat das mit dem Keksteig zu tun?“

Sie drehte sich auf die Seite, ihr Mund war auf gleicher Höhe mit meinem. Es passierte nur selten, dass sie mir so nahe kam. Ich fragte mich, ob es ihr überhaupt bewusst war. Unsere Blicke trafen sich, wir sahen uns in die Augen.

Ohne Vorwarnung musste ich plötzlich an den Moment denken, als mir klar geworden war, dass ich mehr für Layla empfand, als mein Vater es beabsichtigt hatte und der gesamte Clan es wollte. Es geschah am Abend des 23. März, als wir in den Räumen unter dem Anwesen Ausweichtechniken übten. Schon den ganzen Abend über war sie nicht bei der Sache gewesen. Ich wusste das, weil sie sich die ganze Zeit auf meinen Mund konzentrierte, wenn ich ihr Anweisungen erteilte. Schon vor einer Weile war mir aufgefallen, dass sie mich anders ansah, aber ich hatte alles unternommen, um nicht darüber nachzudenken, um es nicht zur Kenntnis zu nehmen und um mich nicht damit zu beschäftigen. Ich hielt es schlichtweg für verkehrt, darauf zu reagieren. Nicht weil sie eine Halbdämonin war oder wegen der Dinge, zu denen sie fähig war, sondern weil es immer meine Aufgabe gewesen war, für ihre Sicherheit zu sorgen. Mit ihren allzu lange auf mir ruhenden Blicken und ihrem gelegentlichen Erröten brachte sie diese Sicherheit nämlich in Gefahr.

Aber nach dem Training tat sie das Gleiche wie tausendmal zuvor, indem sie meine Hand nahm, ihre Finger mit meinen verschränkte und sie drückte. Als sich dann unsere Blicke trafen, war mir nicht mal klar, was passierte. Unsere ganze gemeinsame Zeit lief innerhalb von Sekunden vor meinem geistigen Auge ab, und als ich den Händedruck erwiderte, konnte ich nur noch daran denken, dass diese Geste sich wie ein Kuss anfühlte. Dieses Gefühl hatte mir schreckliche Angst gemacht, weil ich damals gewollt hatte, dass es ein Kuss wäre.

Das war jetzt fast zwei Jahre her.

Und ich wollte es noch immer.

Layla drehte sich auf den Rücken.

Fühlte sie, was zwischen uns war? Unsere Geschichte? Wie sich unsere Zukunft änderte und wie keiner von uns – weder mein Vater noch der Clan oder sonst irgendjemand, auch nicht Roth – etwas dagegen tun konnte? Oder hatte sich für sie schon etwas geändert?

Sofort erfasste mich Panik. Was, wenn sich durch ihn etwas für sie geändert hatte? Was, wenn es zu spät war? Sosehr ich diesen Gedanken auch verabscheute, konnte ein Teil von mir es dennoch verstehen. Vielleicht hatte ich zu lange gewartet. Ich hatte ihre Schönheit, ihre Güte und ihr unerschütterliches Vertrauen in mich für selbstverständlich gehalten. Ich hatte alles für selbstverständlich gehalten, was sie betraf.

Mein Mund war wie ausgedörrt. „Was ist los, Layla, Biene?“

„Gar nichts“, flüsterte sie so leise, dass sie kaum zu hören war.

„Blödsinn.“ Ich drehte mich auf die Seite und stützte mich auf meinen Arm, damit ich sie ansehen konnte. Kein guter Zug. Oder vielleicht doch. Wir waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, und ich ließ den Blick von ihren geröteten Wangen bis zum tiefen Ausschnitt ihres Tanktops wandern. Meine Fingerspitzen kribbelten, weil sie sie berühren wollten, weil sie …

Ich zwinkerte, dann sah ich wieder klarer und konnte glauben, was sich da meinen Augen bot. Nicht zum ersten Mal stellte ich fest, dass sich Bambi gern einen Ruheplatz suchte, an dem der dämonische Hausgeist nichts zu suchen hatte.

Und es war auch nicht das erste Mal, dass ich auf die Schlange eifersüchtig war. Wie verrückt musste ich eigentlich sein, um so etwas zu denken?

Als mein Blick über den Schwung der Schlange – und damit über den Schwung von Laylas Brust – glitt, musste ich seltsamerweise zugeben, dass diese verdammte Tätowierung wunderschön war.

„Es gefällt ihr wohl, sich so hinzulegen, oder?“ Meine Stimme kam mir sehr rau vor.

„Ich nehme an, es ist schön weich.“ Ihre Brust hob sich, da Layla erschrocken einatmete. „Gott“, ächzte sie. „Manchmal muss ich einfach …“

Ich legte einen Finger an ihr Kinn, im gleichen Moment erwachte tief in mir eine ungeheure Begierde. Die Urgewalt dieses Verlangens brachte mich völlig aus dem Konzept. „Das klingt überzeugend.“ Ich wollte … zum Teufel, ich wusste genau, was ich wollte. „Ich möchte wetten, dass das ein weiches Ruhekissen ist.“

Ich zwang mich wegzusehen, stattdessen konzentrierte ich mich auf den Ring, den sie an einer Kette um den Hals trug. Ich strich über die kalten Kettenglieder. „Warum trägst du immer noch diese Halskette?“

Nach kurzem Zögern antwortete sie: „Ich … ich weiß nicht.“

Doch das war eine Lüge. Ich wusste, warum sie die Kette nach wie vor trug. Sie stellte eine Verbindung zu ihrer Mutter dar – ebenso wie zu diesem verdammten Kronprinzen aus der Hölle.

Er hatte hier nichts verloren, entschied ich, während ich den Verlauf der Kette mit den Fingern nachzeichnete, vom zarten Schlüsselbein bis dorthin, wo der Ring ruhte. Ich hielt einen Moment lang inne, mein Puls ging viel zu schnell.

Was ich dann tat, war alles andere als schlau. Ich war mir sicher, dass diese verdammte Schlange nichts für mich übrighatte, aber ich konnte meine Finger nicht davon abhalten, über ihre Haut zu gleiten, bis sie sich ganz nahe an Bambis Kopf befanden.

Insgeheim hatte ich damit gerechnet, dass sich der Hausgeist von der Haut lösen würde, um mich ins Gesicht zu beißen. Umso fassungsloser war ich, als sich Bambi so bewegte, dass ich sie berührte.

Erst dann wurde mir klar, dass ich damit auch Layla berührte. Meine Haut stand in Flammen. Eine Gänsehaut bahnte sich ihren Weg über meinen Körper, während ich Layla in die Augen sah. Diese blassen Augen schlugen mich immer wieder aufs Neue in ihren Bann. So erging es mir schon seit Langem, nur dass ich jetzt etwas in ihnen entdeckte, das ich noch nie gesehen hatte. Ein loderndes Feuer.

Ich zeichnete die feinen Schuppen rund um Bambis Nasenlöcher nach und staunte über die Struktur, die ich dabei ertasten konnte. Das verwirrte mich und entlockte mir ein Lächeln. Es war keine raue Oberfläche, aber ich konnte fühlen, dass die Schlange ein separates Wesen war, verbunden mit Laylas Haut.

„Es fühlt sich nicht so an, wie ich es mir vorgestellt hätte. Die Haut ist ein wenig erhaben, aber sie wirkt wie eine richtige Tätowierung.“ Ich musste das sagen, obwohl es genauso idiotisch war, als hätte ich meinen Kopf gegen die Wand gedonnert. Es war doch klar, dass sie das längst wusste. Ganz bestimmt hatte sie dieses Tattoo schon berührt.

Ich verkniff mir ein Stöhnen, als mir dieses Bild durch den Kopf ging. Das würde ich auch nie wieder aus meinem Gehirn verbannen können.

Layla schloss die Augen und machte den Mund noch etwas mehr auf. Bei Gott und allen Dämonen der Hölle! Ich wusste, ihr Mund musste das Zarteste sein, was es auf der Welt gab.

„Gefällt es ihr?“, fragte ich.

Layla nickte.

„Dir auch?“, hakte ich nur eine Sekunde später nach.

Sie sah mich an und verfolgte, wie ich den Finger zur schmalen Spitzenborte am Saum ihres Tanktops wandern ließ.

Ich wollte … nein, ich musste alles sehen, alles, was Layla jetzt war, doch ich wartete. Meine Frage machte es eigentlich klar, fand ich. Wenn sie Ja sagte, dann musste sie wissen, was ich für sie fühlte – etwas, das ich so noch nie für irgendjemanden empfunden hatte. Natürlich wusste ich, was Lust war, doch bei ihr mischte sich unter diese Lust noch etwas viel Stärkeres.

Wenn sie Nein sagte, würde ich auf der Stelle gehen. Auch wenn es mich umbringen würde, mein Entschluss stand fest.

Aber Layla sagte nicht Nein.

„Ja“, hauchte sie, aber für meine Sinne war es wie ein Donnerschlag, der jede einzelne Zelle erzittern ließ.

Ich atmete tief ein, da ich nicht länger warten konnte. So wie ein Kind, das tagelang die Geschenke angestarrt hatte, die unter dem Weihnachtsbaum lagen, konnte ich die Vorfreude nicht mehr ertragen. Ich sah Layla in die Augen, suchte nach einem Hinweis darauf, ob sie unsicher war und zögerte. „Darf ich den Rest der Schlange sehen?“

Sie setzte zu einer Antwort an, aber kein Ton kam ihr über die Lippen. Schließlich nickte sie nur.

Für mich war Weihnachten.

Meine Hand zitterte, als ich nach dem Träger des Tops griff. Ich hoffte, dass es Layla nicht auffiel, und schob den Träger nach unten. Es kostete mich ungeheure Willenskraft, ihr das Top nicht einfach herunterzureißen. Der andere Träger rutschte ebenfalls runter bis zu ihrem Handgelenk. Dann schickte ich ein Stoßgebet zum Himmel, bevor ich Layla eingehend betrachtete.

Mir stockte der Atem, der Arm, auf den ich gestützt lag, fühlte sich mit einem Mal so schwach an, als könnte er mich nicht mehr lange tragen. Ich folgte dem Verlauf von Bambi, aber die Schlange nahm ich gar nicht wahr. Ich sah nur Layla und prägte mir ihr Bild genau ein.

„Layla“, brachte ich leise stöhnend heraus.

Noch nie hatte ich so etwas Schönes gesehen. Das dämonische Tattoo und Laylas Körper waren eine überwältigende Kombination.

Ich konnte mich einfach nicht zurückhalten und verfolgte genau den Verlauf der Schlange zwischen Laylas Brüsten hindurch bis hinunter zu den Rippen, wo Bambi sich um ihren Oberkörper gewickelt hatte. Das Gefühl ihrer Haut, ihr angestrengtes Atmen und die Art, wie sie den Rücken durchbog, reichten aus, dass ich endgültig den Verstand verlor.

Aber wen störte das?

Mein Herz und meine Seele hatte ich doch schon längst an Layla verloren.