6. Kapitel

Am nächsten Morgen versuchte Elisa noch einmal, Grace anzurufen. Es war noch früh. Philip schlief – inzwischen im Bett – seinen Rausch aus, und Elisa hatte bereits Frühstück gemacht und die Küche aufgeräumt. Sie war unruhig und wusste nicht, warum. Lag es daran, dass sie an Duardo und an Kuba gedacht hatte? Oder lag es an Grace?

Ihre Stieftochter ging ans Telefon. Ihre Stimme klang ungewöhnlich verhalten.

»Alles in Ordnung, Grace?«, fragte Elisa sie. »Du bist nicht böse?«

»Doch, war ich.«

»Und jetzt?« Grace klang nicht wie sie selbst. Aber Elisa konnte den Unterschied nicht benennen. Es war nicht einfach, dieses Mädchen zu verstehen, war es noch nie gewesen.

»Kann ich dich in fünf Minuten zurückrufen?« Grace zögerte. »Ich muss nur noch … was erledigen.«

»Natürlich.«

Elisa blieb am Telefon stehen und vertrieb sich die Zeit, indem sie die Telefonbücher und das Adressbuch kurz abstaubte. Sie zog die Mäntel glatt, setzte sich auf die kleine gepolsterte Bank und wartete. Sie erinnerte sich noch ganz deutlich an den Tag, an dem sie einander zum ersten Mal begegnet waren. An den Tag, als Grace mit ihren ernsten grauen Augen und ihrem nussbraunen Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war, zum ersten Mal vor ihr stand.

»Sie ist erst neun«, hatte ihr Vater gesagt.

»Ja.« Aber mit den Augen einer Sechzehnjährigen, dachte Elisa. Warum schaute ein neunjähriges Kind dermaßen traurig?

»Anscheinend will sie unbedingt Spanisch lernen.« Er lachte – vielleicht über die Unwahrscheinlichkeit dieser Vorstellung.

»Und warum nicht?« Zum ersten Mal hatte Elisa den Vater des Mädchens richtig angesehen. Auch er sah traurig aus. Er war nicht alt – erst in den Vierzigern –, aber seine Schultern waren schon gebeugt wie unter einer Last, und um seine blauen Augen lagen Schatten der Müdigkeit.

Er schien entschlossen, es zu erklären. Er sprach von der Schwester seiner Frau, die in Madrid lebte, und einer Familientragödie. An dieser Stelle fiel Elisa auf, wie er die Stimme senkte und dem Kind einen entschuldigenden Blick zuwarf, aber sie war diplomatisch genug, um nicht nachzuhaken. Außerdem wolle er seiner Tochter eine so breite Bildung wie möglich bieten. »Damit sie etwas aus ihrem Leben machen kann«, schloss er.

Elisa zog eine Augenbraue hoch. »Spanisch ist da ein guter Anfang«, sagte sie sanft.

Sie hatte erwartet, dass das Mädchen nach ein paar Wochen entspannter werden würde. Die meisten ihrer Schüler waren am Anfang nervös, aber das dauerte nicht lange. Sie brachte es immer fertig, ihnen die Befangenheit zu nehmen. Aber diese Kleine war anders.

Obwohl sie eine Art hatte, konzentriert die Stirn zu runzeln, und obwohl Elisa nicht an ihrem Lernwillen zweifelte, fiel es ihr offensichtlich schwer, sich länger mit einer Sache zu beschäftigen. Ihre Augen wurden glasig, sie starrte aus dem Fenster. Wenn Elisa den Ton ihrer Stimme veränderte, kam sie mit einem Ruck zu sich und war wieder bei der Sache. Und es war fast unmöglich, ihr ein Lächeln zu entlocken. Also, was hatte es auf sich mit dieser Tragödie, die in ihrer Familie geschehen war? Warum war das Mädchen so traurig? Elisa beschloss, es herauszufinden.

Es dauerte ein Vierteljahr, in dem sie sie nach der Schule unterrichtete, bis es endlich so weit war. Sie sprachen in einfachem Spanisch über die Familie des Mädchens. Hast du Geschwister? Wer wohnt in eurem Haus?, und so weiter. Einfache Grundlagen. Da brach das Mädchen in Tränen aus.

»Grace. Mein Liebes.« Elisa war sofort wieder ins Englische gewechselt. »Was ist? Bitte sag es mir.«

Und da war es aus ihr herausgesprudelt. Ein Unfall. Ein Todesfall. Ein Mädchen ohne Mutter.

Das arme Kind. Sofort war ihr Elisas Herz zugeflogen. Der Verlust ihrer eigenen Familie ging ihr immer noch nahe, und ihre eigenen Gefühle waren immer noch verletzt – obwohl sie schon viel länger so empfand. Als sie vor zwanzig Jahren mit ihren Eltern nach England gekommen war, in ein fremdes Land, wo eine andere Sprache gesprochen wurde und die Gebräuche oft schwer zu verstehen waren, und das zu einer Zeit, zu der sie noch unter ihrem gebrochenen Herzen litt, da hatten sie zu dritt eine kleine, sichere Einheit gebildet. Doch als sie dann kurz hintereinander ihre Eltern verlor, hatte Elisa das Gefühl gehabt, ihr sei jegliche Unterstützung weggebrochen. Genauso musste es diesem Mädchen ergehen, das so früh seine Mutter verloren hatte. Elisa wusste wenig über den Vater, der Grace nach den Unterrichtsstunden abholte, aber jetzt beobachtete sie ihn genauer und erkannte seinen Schmerz.

Elisa gewann Grace lieb. Sie war ein süßes Mädchen, und es war eine Herausforderung, dieses ernste Gesicht zum Lächeln zu bringen. Elisa verwöhnte sie nach der Schule mit Kostproben spanischer Tapas und machte sie mit der kubanischen Musik bekannt. Einmal, als sie schon sechs Monate Unterricht bei ihr nahm, brachte sie ihr sogar ein paar Rumba-Schritte bei … aber das war nicht gut. Für Elisa war die Rumba tot und begraben. Sie konnte nicht daran denken, ohne dass sich eine schreckliche Traurigkeit in ihrem Herzen einnistete.

Elisa hätte nicht erklären können, was es war, das sie zu Grace hinzog. Was sie verband, war nicht nur das Schicksal, dass beide ihre Mutter verloren hatten. Das Mädchen hatte eine Art, an sie zu appellieren, und Elisa konnte nicht anders, als darauf einzugehen. Zu Hause stimmte etwas nicht – so viel war klar –, und Grace strahlte eine Bedürftigkeit aus, die Elisa erkannte, obwohl sie sie nicht benennen konnte. Vielleicht weckte Grace bei Elisa einen Mutterinstinkt, der noch nie zuvor angesprochen worden war. Oder Elisa spürte, dass sie dem Mädchen mehr gab als nur Spanischstunden, ja vielleicht sogar einen Traum nährte.

Grace’ Vater blieb Elisa ein Rätsel. Er war höflich, charmant sogar. Er trug immer gut geschnittene Anzüge, was sie vermuten ließ, dass er Geschäftsmann und wahrscheinlich erfolgreich war. Aber sie hatte das Gefühl, er nehme sie kaum wahr, diese Frau, die seiner Tochter Spanisch beibrachte. Obwohl er Grace liebte, da war sie sich sicher. Wenn er sie abholen kam, betrachtete er sie mit zärtlichem Blick. Er hielt die Hand des Mädchens und strich ihr über das nussbraune Haar. Doch etwas stimmte nicht. Und Elisa spürte, dass es von Grace selbst ausging. Sie zuckte nicht vor ihm zurück, aber sie zeigte ihm auch keine Zuneigung. Und man sollte doch meinen, dass ein Mädchen, das seine Mutter verloren hatte, sich umso mehr an den Vater klammern würde, der noch da war, oder?

Dennoch … Elisa sah auf das Foto ihrer Stieftochter, das neben dem Telefon auf dem Tisch stand. Sie nahm es in die Hand und betrachtete es genauer. Als es aufgenommen wurde, war Grace ungefähr elf gewesen, immer noch ernst, aber erwachsener. Die Zöpfe waren jetzt kürzer und ihre Züge klarer. Ihr Gesicht hatte die kindliche Rundheit verloren. Und heute? Manche würden sie schön nennen. Auf jeden Fall strahlte sie eine bemerkenswerte Gelassenheit aus. Gott sei Dank hatte sie zu lachen gelernt. Damals hatte Elisa nicht geahnt, dass diese Familie einmal ihre eigene werden würde. Sie hatte nicht gewusst, dass die beiden ihr helfen würden und sie ihnen. Oder dass die beiden sie einmal ungewollt daran hindern würden, dorthin zu gehen, wo sie doch unbedingt sein wollte …

Im Rückblick war leicht zu erkennen, wie es so gekommen war. Elisa seufzte und warf einen Blick auf das Telefon, aber es schwieg hartnäckig. Also erlaubte sie sich, an diese Zeit zurückzudenken.

Es ging auf Weihnachten 1983 zu, und Grace hatte sogar noch trauriger gewirkt als sonst. Vielleicht war ihre Mutter ja um diese Zeit des Jahres gestorben? Behutsam hatte Elisa sie ausgefragt. »Was hast du? Macht dir etwas Sorgen, Liebes?«

Und da war alles aus ihr herausgebrochen. Grace und ihr Vater würden zu Weihnachten allein sein. Es würde schrecklich einsam werden. Grace konnte den Gedanken daran nicht ertragen. Und plötzlich rief sie, als hätte sie eine geniale Idee: »Sie werden doch auch allein sein, oder, señora? Würden Sie zum Weihnachtsessen zu uns kommen?«

»Ach, du meine Güte, nein.« Elisa hatte lachend abgelehnt, aber sie hatte sich geschmeichelt gefühlt. Die beiden waren ihr ans Herz gewachsen. Während ihrer wöchentlichen Stunden plauderte sie mit Grace oft über ihr Leben, und Elisa hatte das Gefühl, dass sie langsam anfing, das Mädchen zu verstehen.

»Warum nicht?« Grace’ große graue Augen schwammen in Tränen. »Haben Sie etwas anderes vor?«

»Nein, aber …« Ihr fiel kein wirklich zufriedenstellendes Aber ein. »Ich gehöre nicht zu deiner Familie, Liebes. Dein Vater würde mich bestimmt nicht dabeihaben wollen. Besonders nicht zu Weihnachten.«

Grace hatte sie lange angesehen und schien das zu akzeptieren. Aber am nächsten Tag bekam Elisa einen Anruf – von Grace’ Vater. Er kam schnell zur Sache. Würde sie in Betracht ziehen, an Weihnachten mit ihnen zu Mittag zu essen? Sie würden nur zu dritt sein. Für Grace würde es schwierig, weil … Nun ja. Es würde einfacher werden, wenn noch jemand da wäre, jemand, mit dem Grace sich gern unterhielt. »Es wäre mir eine Ehre«, sagte er. »Grace hat Sie wirklich ins Herz geschlossen. Ich weiß, das ist eine ungewöhnliche Bitte, aber die Umstände …«

»Also gut. Danke.« Elisa war sich bewusst, dass die Umstände ungewöhnlich waren. Und schon damals hatte sie das Gefühl gehabt, Grace nicht enttäuschen zu dürfen. Vielleicht, wenn sie ein eigenes Kind gehabt hätte … Grace hatte offenbar diese Lücke in Elisas Herz für sich beansprucht.

Also fand sie sich in einem, wie es ihr vorkam, außerordentlich prachtvollen Haus in der King Street ein und half dabei, das Weihnachtsessen zuzubereiten. Philip war sehr witzig gewesen. Er hatte eine geblümte Schürze getragen und mit einem riesigen Truthahn und Massen von Gemüse gekämpft, als versuche er, Grace für seine Unzulänglichkeiten auf anderen Gebieten zu entschädigen – etwas in dieser Art. Das Essen war köstlich gewesen. Danach hatten sie ein paar altmodische Gesellschaftsspiele gespielt, die Elisa noch nie untergekommen waren. Elisa und Philip hatten zusammen eine Flasche Wein getrunken, und ja, er war sehr aufmerksam und sehr unterhaltsam gewesen. Auch Grace hatte glücklicher ausgesehen und lachend ihre Geschenke bestaunt. Fast wie ein normales kleines Mädchen an Weihnachten, war es Elisa durch den Kopf gegangen.

Elisa vermutete, dass der Wein sie beide entspannt hatte, und sie spürte nichts von der Verlegenheit, die sie befürchtet hatte. Als Grace schließlich zum Schlafen nach oben ging, wollte Elisa aufbrechen, und Philip begleitete sie zur Tür. Er half ihr in ihren Mantel und erbot sich, ein Taxi für sie zu rufen, aber sie lehnte ab. Es war Weihnachten, und sie wollte lieber zu Fuß gehen.

»Es war wunderbar, dass Sie hier waren«, sagte er.

Wunderbar. Das war ein großes Wort. Elisa sah zurück zu der prächtigen, geschwungenen Treppe, dem Salon und der Küche dieses eleganten Hauses. Es war sehr schön, aber war es für Grace und ihn allein nicht viel zu groß? Sie lächelte, nickte und beschäftigte sich damit, ihren Mantel zuzuknöpfen.

»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Ich hoffe sehr, dass wir das wiederholen können.«

Wiederholen? Elisa war verlegen. Was genau erwartete er von ihr? »Ich habe mich gut unterhalten«, sagte sie ehrlich. »Danke für die Einladung.« Doch sie wussten beide, dass die Einladung von Grace ausgegangen war.

Und so fing es an – obwohl Elisa nicht richtig hätte erklären können, was »es« war. Auf jeden Fall ähnelte es keiner Beziehung, die sie je gehabt hatte. Elisas kleine Aufmerksamkeiten gegenüber Grace wurden belohnt – mit einem Abendessen, mit einer Schachtel Pralinen, einem Blumenstrauß. Bald aßen sie in dem Haus in der King Street sonntags regelmäßig zusammen zu Mittag – ein scheußlicher Tag, um allein zu sein, wie Philip sagte. Einmal erwähnte Elisa einen Film, der in dem bunten Hippodrom-Theater gezeigt wurde, und Philip schlug vor, mit ihr dort hinzugehen. Und eines Sonntags im Sommer fuhren die drei mit dem Zug nach Weston-super-Mare – eine Fahrt, die Elisa schmerzlich an ihren Vater erinnerte.

In diesem Herbst hatte Tante Beatriz aus Havanna angerufen. In Kuba stehe es furchtbar schlecht, sagte sie. Sie habe es bei allen anderen versucht. »Könntest du uns helfen?«

»Wie?« Aber Elisa wusste natürlich Bescheid. Die Familie brauchte Geld. Zwei der Cousins hatten keine Arbeit, und eine Cousine hatte ein neugeborenes Baby. Kuba durchlebte eine schwere Zeit. Naturgemäß hatten sie ihre Verwandten um Unterstützung gebeten.

Elisa begann, kleine Geldsummen zu schicken. Tante Beatriz war eine gute Frau: Sie hätte sich nicht an sie gewandt, wenn es nicht nötig gewesen wäre. Aber Elisa erklärte ihr, dass sie selbst nicht viel habe, und das stimmte. Die Miete für ihr kleines Apartment war gerade wieder erhöht worden, und sie hatte kürzlich zwei ihrer Privatschüler verloren.

Als Nächstes rief ihre Cousine Ramira an und teilte ihr mit, Tante Beatriz wäre an Leukämie erkrankt und hätte nicht mehr lange zu leben. Natürlich war sie medizinisch behandelt worden – das Gesundheitssystem in Kuba war kostenlos. Das war Elisas Meinung nach eine der großen Errungenschaften der Revolution für das Volk, aber jetzt hatte man ihre Tante zum Sterben nach Hause entlassen. Die Familie steckte finanziell immer noch in Schwierigkeiten, und nun musste sie sich auf diesen neuen Verlust einrichten. Sie wussten nicht mehr aus noch ein. Tante Beatriz hatte darum gebeten, Elisa noch einmal sehen zu können, und sie wollten ihr den Wunsch nicht abschlagen. Ob sie eine Möglichkeit sähe …

Elisa wollte ihre Geldsorgen lindern, und sie hätte ihre Tante vor ihrem Tod gern noch besucht – aber sie konnte sich das unmöglich leisten, und sie hatte nichts mehr, was sie verkaufen konnte. Sie wusste sich keinen Rat.

An diesem Sonntag bei Philip und Grace wollte Elisa gerade die Bratkartoffeln auftragen – glücklicherweise spielte Grace gerade draußen im Garten –, als sie an ihre Mutter und dann an Tante Beatriz dachte, und ehe sie sich’s versah, fielen Tränen in die Pfanne und ließen das heiße Öl aufspritzen.

»Elisa, meine Liebe.« Philip schnappte sich einen Topfhandschuh und nahm ihr die Pfanne ab. Dann führte er sie an den großen Bauerntisch und drückte sie auf einen Stuhl. Er schenkte ihr ein kleines Glas Wein ein und reichte ihr sein eigenes Taschentuch, ein großes, weißes Quadrat aus Baumwolle, das mit PH bestickt war, eine Geste, die ihr fast unerträglich persönlich erschienen war. Es war auch schrecklich altmodisch, und er war so freundlich – was sie erst recht zum Weinen brachte.

»Wir sind doch Freunde, oder?«, sagte er. »Erzählen Sie mir, was los ist.«

Stockend brach es aus ihr heraus. Dass sie ihrer Familie helfen wolle, aber nicht die Mittel hatte. Dass sie sich danach sehne, zurückzukehren und alle ein letztes Mal wiederzusehen, bevor ihre Tante starb. Dass ihre Eltern ihr fehlten. Und dann, herrje … »Ich fühle mich so allein«, hatte sie geschluchzt.

»Na, na.« Er hatte verlegen ihre Schulter getätschelt, und sogar diese kleine Berührung machte ihr bewusst, wie wenig körperlichen Kontakt zu anderen Menschen sie im Moment hatte – und wie sehr ihr das fehlte.

Ein paar Minuten vergingen, dann bekam Elisa ihre Gefühle wieder unter Kontrolle. Sie benahm sich töricht. Wenn sie nicht helfen konnte, sollte sie es ihnen einfach sagen. Sie würden vollstes Verständnis dafür haben, wenn sie ihnen gestand, dass sie sich einen Besuch nicht leisten konnte. Sie waren ihre Familie, aber sie führte jetzt ein anderes Leben. Sie sollte sich deswegen nicht so aufregen. Aber sie wusste, dass es nicht nur das war.

»Wissen Sie, was ich glaube, meine liebe Elisa?«, sagte Philip und strich sich übers Kinn. Seine blauen Augen blickten besorgt, aber freundlich.

Elisa schüttelte den Kopf. Manchmal sehnte sie sich nach jemandem, der ihr das Denken abnahm, der zur Abwechslung an ihrer Seite stand, nach jemandem zum Anlehnen, vermutete sie.

»Sie brauchen jemanden, der für Sie sorgt«, sagte er.

Elisa war so verblüfft, dass sie ihn einfach nur anstarrte.

Philip kniete auf den Terrakottafliesen vor ihr nieder.

Ach du lieber Himmel. Elisa streckte eine Hand aus. »Bitte nicht. Bitte nicht, Philip.«

»Ich bin älter als du«, sagte er. »Aber ich habe eine Tochter, die dich schon jetzt als Mutter betrachtet.«

Das war kein ausreichender Grund … Elisa wollte etwas sagen, aber er hob die Hand, damit sie schwieg. »Ich kann dir versichern, dass sie so denkt.«

»Und ist das der einzige Grund, Philip?« Elisa konnte nicht glauben, dass das passierte. Sie hätte es sich nie träumen lassen, und sie hatte ihn bestimmt nicht dazu ermuntert.

»Natürlich nicht. Ich habe dich tatsächlich sehr gern«, sagte er. »Vielleicht magst du mich ja auch? Wenigstens ein bisschen?«

Elisa nickte. »Natürlich«, gab sie schüchtern zurück. »Ich mag Sie, Philip.« Aber sie musste unwillkürlich an Duardo denken. Das hier war so weit von seinen leidenschaftlichen Liebeserklärungen entfernt, dass ihr fast zum Lachen zumute war. Doch sie durfte diesen Mann, der so aufmerksam, so großzügig war, nicht auslachen. »Aber das ist nicht genug für das, was Sie offenbar vorschlagen.«

Er nickte. »Nicht alle Ehen sind gleich, liebe Elisa«, sagte er. »Wir haben ein großes Haus. Aber es ist leer – außer an den Tagen, an denen du hier bist.«

»Also, wirklich …«

»Verstehst du, Grace und ich waren so einsam«, sagte er. Er lächelte wehmütig. »Und dann haben wir dich getroffen.«

»Philip.« Elisa legte ihm sanft eine Hand auf den Arm. »Das reicht nicht. Es tut mir leid. Aber das ist nicht genug.«

»Ich bin einsam.« Es stimmte, er sah noch immer oft traurig aus. »Und ich glaube, du bist manchmal auch einsam.«

Was ebenfalls stimmte, aber …

»Grace und ich – wir brauchen dich. Und ich will dir helfen. Ich möchte, dass du es im Leben leichter hast, dass du nicht zu arbeiten brauchst, wenn du nicht willst, und dass du nach Kuba fährst, um deine Verwandten zu besuchen. Und deine Tante siehst, bevor sie stirbt.« Er seufzte. »Das heißt, solange du zu uns nach Bristol zurückkommst.«

»Aber Philip …« Aber ich liebe Sie nicht, wollte sie sagen.

»Ich weiß, dass ich nichts von Liebe gesagt habe«, erklärte er. »Aber ich glaube, Liebe kann wachsen. Und wenn nicht … Es gibt etwas, das wichtiger ist als Liebe.«

»Etwas anderes?« Das konnte sich Elisa nicht vorstellen. Was konnte wichtiger sein als die Art Liebe, die sie und ihren Duardo verbunden hatte?

»Freundschaft.« Er nahm ihre Hand. »Und Vertrauen. Loyalität. Gemeinsamkeit. Bitte, denk wenigstens darüber nach, Elisa. Mehr verlange ich nicht.«

Also hatte sie darüber nachgedacht. Sie hatte an Kuba und Duardo gedacht und an ihre Familie, die noch dort lebte. Sie hatte über Grace und Philip nachgedacht und schließlich über ihr einsames Leben in ihrem kleinen Apartment. Zwei Wochen später verblüffte sie sich eines Tages fast selbst, indem sie ja sagte. Sie liebte diesen Mann nicht – jedenfalls noch nicht. Aber sie mochte ihn gern. Und er hatte recht. Freundschaft war wichtig, und Liebe konnte wachsen.

Endlich klingelte das Telefon. Es war Grace.

»Er ist, wie er ist«, erklärte sie ohne Vorrede und nahm ihren Gesprächsfaden auf, wo er abgerissen war. »Und er ist, was er ist.« Alkoholiker, meinte sie. »Ich versuche ständig, ihn zu überreden, sich Hilfe zu suchen«, sagte Elisa. »Aber er muss auch wollen. Vielleicht könntest du …«

»Ich bin es leid, es zu versuchen.«

Elisa war sich nicht sicher, aber sie meinte zu hören, dass Grace den Tränen nahe war.

»Aber … warum?« Elisa wollte nicht wissen, warum Grace es leid war, es zu versuchen. Sie fragte sich, warum er überhaupt zu trinken angefangen hatte. »Warum ist er so unglücklich? Ist das Leben so schrecklich?« Manchmal hätte sie aus Frustration am liebsten den Kopf gegen eine Backsteinmauer geschlagen. Er sollte nach Kuba fliegen. Dann würde er herausfinden, wie hart das Leben sein konnte. »Liegt es an mir?«, fragte sie. »Ist es meine Schuld?« Er hatte schon getrunken, bevor sie geheiratet hatten, obwohl sie das nicht gewusst hatte. Damals war es ihm noch leichter gefallen, es geheim zu halten, und damals hatte er noch die Kontrolle gehabt. Jetzt beherrschte der Whisky ihn.

»Natürlich nicht.« Grace’ Stimme klang ausdruckslos. »Er bestraft sich selbst.«

Elisa schwieg, um das zu verdauen. So etwas hatte Grace noch nie gesagt. Sie hatte immer nur mit den Schultern gezuckt und von Schwäche und Suchtpersönlichkeit gesprochen. Elisa wusste, dass viele Menschen das Leben schwer fanden. Wenn jemand keinen religiösen Glauben hatte, dem er sich in schwierigen Zeiten zuwenden konnte, gab es anderes. Manche gestalteten sich mit Interessen und Hobbys ein erfülltes Leben. Sie dachte an ihr Zimmer oben. Für einige stellte intensive Arbeit eine genügend große Herausforderung dar, und andere fanden in engen Familienbanden die Unterstützung, die sie brauchten. Aber nicht wenige … Spieler, Alkoholiker, Menschen mit Essstörungen oder Drogenabhängige, wandten sich einer Substanz oder einer Aktivität zu, die die Macht über ihr Leben und ihre Persönlichkeit übernahm. Die ihnen helfen konnte zu vergessen.

Elisa seufzte. Sie hatte es im Internet recherchiert. Sie war nicht mehr jung, aber sie hatte sich in dieser Technologie gleich so wohl gefühlt wie ein Fisch im Wasser. Robbie hatte ihr alles beigebracht, was sie wissen musste. Es gab viele Studien über das Thema Suchtpersönlichkeiten – sie hatte auch eine Wikipedia-Seite dazu gefunden und bei verschiedenen Gelegenheiten mit Grace darüber diskutiert. Aber das jetzt? Das war etwas Neues. »Wofür?«, flüsterte sie. »Wofür sollte er sich denn bestrafen wollen?«

»Schuld«, sagte Grace, »ist etwas sehr Starkes.« Und dann veränderte sich ihre Stimme abrupt. »Hör mal, Elisa, ich muss Schluss machen, gleich kommt eine Freundin vorbei, und …«

»Ja, ja, natürlich, Liebes. Bis bald.« Schuld? Elisa legte den Hörer auf.

Sie hatte Grace und ihrem Vater geholfen – natürlich. Aber sie hatten sie auch unterstützt. Sie hatten ihr ein ganz neues Leben geboten. Man brauchte sie ja jetzt nur anzusehen, mit ihrem Laptop, ihren Gemeindetreffen und all den Freunden, die sie dabei gefunden hatte. Und dann war da noch Grace. Die besondere Beziehung zu ihrer Stieftochter bedeutete ihr viel.

Doch etwas stimmte nicht mit Grace, und das wusste sie, genauso wie sie es damals bei ihrer ersten Begegnung gewusst hatte. Elisa beschloss, sie bei der nächsten Gelegenheit zu besuchen und herauszufinden, was genau das war.