Am nächsten Morgen kam Robbie zu spät los zur Arbeit. Er konnte nichts finden – kein sauberes Hemd, die Papiere nicht, die er mitnehmen musste, seine Schlüssel. Grace hatte ihn noch nie so durcheinander erlebt.
»Wir haben eine Besprechung«, erklärte er ihr.
»Davon hast du nichts gesagt.«
Er hielt inne. »Wir haben überhaupt nicht viel geredet, was, Gracie?«
»Nein.« Sie stritten sich nicht oft. Und wenn, dann hatten sie sich bisher immer an ihre Regel gehalten, sich vor dem Schlafengehen zu versöhnen. »Keine bösen Träume«, sagte Robbie immer. »Keine schlechten Gedanken. Du und ich. Wieder ein Herz und eine Seele.«
Aber diesmal hatten sie sich nicht vertragen. Was bedeutete, wie Grace mit einer Art dumpfer Gewissheit klar wurde, dass es wichtig war. Es war zu dem Thema geworden. Statt sich zu versöhnen, statt einander anzuschreien oder aus Zimmern zu stürmen, hatte zwischen ihnen eine schreckliche, steife Höflichkeit geherrscht. Grace hasste das. Es verletzte sie viel stärker als offene Feindseligkeit. Und Theo hatte sich nicht gemeldet. Es kam ihr vor, als wären er und das, was zwischen ihnen geschehen war – so lebendig, so elektrisierend – ein Trugbild gewesen wie einer seiner Zaubertricks. Vielleicht hatte sie sich in ihm getäuscht, dachte Grace. Er war ein Zauberer. Vielleicht hatte er immer vorgehabt, sie hinters Licht zu führen.
»Hör mal, Gracie«, sagte Robbie. »Können wir später reden? Richtig reden, meine ich.«
»Natürlich.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu und er auf sie. Er breitete die Arme aus. »Waffenstillstand?«
»Waffenstillstand«, sagte sie und schmiegte sich an ihn. Wie gut sich das anfühlte! Sie war verrückt, verrückt, das aufs Spiel zu setzen. Sich überhaupt vorzustellen, dass es da draußen etwas Besseres geben könnte als das.
Er küsste sie leicht auf den Mund.
»Robbie?«
Von der Tür her, wo ihre Lederhandtasche an einem Messinghaken hing, war ein Summen zu hören.
»Hm?«
»Ach, nichts.« Grace warf einen Blick zu ihrer Tasche. Er hatte recht. Sie sollten später reden.
»Du hast eine SMS bekommen«, sagte er. »Und ich muss los.« Er sah ihr in die Augen. »Es tut mir leid. Okay?«
Bestimmt nicht von Theo. Sie war sich sicher, dass Theo keinen Kontakt zu ihr aufnehmen würde. »Mir auch«, sagte sie. Es tat ihr leid, dass sie so unfreundlich gewesen war. Aber es tat ihr nicht leid, was sie fühlte. Sie konnte nichts dagegen tun, wie sie empfand. Sie würde einfach versuchen müssen, es Robbie begreiflich zu machen.
Sie brachte ihn zur Tür und zum Auto und winkte ihm nach, als er die Straße entlangfuhr. Dann rannte sie los, um auf ihrem Handy nachzusehen.
Die Nachricht war doch von Theo. Kann ich dich sehen?, hatte er geschrieben. Keine xxx für Küsse.
Einen Moment lang starrte Grace einfach nur auf das Display. Dann flogen ihre Finger wie von selbst über die Buchstaben. Wann? Eine halbe Sekunde. Sie wusste, dass sie sogar eine Unterhaltung per SMS in die Länge ziehen wollte. Sie wusste, dass sie sich etwas vorgemacht hatte. Das pulsierende Begehren war noch da. Eine vier Wörter lange Nachricht hatte es zum Leben erweckt. Was in Gottes Namen würde erst passieren, wenn sie ihn wirklich wiedersah?
Sie verabredeten sich für den Nachmittag in einem Café am Fuß der Christmas Steps, einer steilen alten Gasse. Es lag weit genug vom Haus und von Robbies Büro entfernt und war die Art von Lokal, wo sie höchstwahrscheinlich nicht zufällig auf einen Bekannten treffen würden. Und selbst wenn, dachte sie, waren sie einfach nur Freunde, die zusammen Kaffee tranken. Jedenfalls für alle anderen.
Rasch lief Grace die mit Kopfsteinen gepflasterten Stufen hinunter. Die Gasse stammte aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, und es gab dort viele kleine Läden, die diesem Teil der Altstadt seinen besonderen Charakter verliehen: der Briefmarkenladen, der Apfelweinladen, Flicks Videoverleih, das Geschäft für Blech- und Holzblasinstrumente und Harry Blades Salon mit seinen Postern und Stickern – der coolste Friseur von ganz Bristol. Am unteren Ende der Gasse lag das Café. Grace holte tief Luft und schob die Tür auf.
Drinnen war es warm und dunstig und roch nach frischem Kaffee und Mandelgebäck. Freunde, die zusammen einen Kaffee tranken, ja. Grace setzte sich vom Fenster weg, damit sie von draußen niemand sehen konnte. Es fing schon an. Das Lügen und Täuschen. Was hatte Robbie noch gesagt? Welche Netze wir doch spinnen, wenn erstmals wir auf Täuschung sinnen …
Wie aus dem Nichts tauchte Theo auf und glitt auf den Platz ihr gegenüber. »Danke, dass du gekommen bist.« Er nahm ihre Hände.
Sie spürte eine Wärme, einen Ruck. Es war also nicht verschwunden. Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Ich konnte nicht widerstehen.«
Er nickte. »Ich auch nicht.«
Langsam ließ Grace seine Worte in sich einsinken. Sie vermutete, dass er aus dem Krankenhaus kam, wo er an den meisten Nachmittagen eine Stunde lang die Kinder auf der Kinderstation unterhielt. Es war eine gute Übung, hatte er Grace und Robbie erklärt, eine Chance, seine Tricks für die Erwachsenen zu verbessern, die schwerer abzulenken und stärker darauf aus waren, ihm auf die Schliche zu kommen. Aber Grace wusste, dass mehr dahintersteckte. Es war einfach nett von ihm. Die Leute redeten über Kinder in Not, und viele spendeten Geld für Wohlfahrtsorganisationen für Kinder. Theo schenkte ihnen seine Zeit und sein Geschick. In einer Zeit, in der sie es am meisten brauchten, brachte er sie zum Lachen.
»Ich hab mich gefragt, ob sich inzwischen dein schlechtes Gewissen gemeldet hat«, sagte er.
»Hat es.« Grace sah auf ihre miteinander verschlungenen Hände hinunter, auf ihre blasse Haut neben der karamellfarbenen von Theo. Er hatte geschickte Hände. Empfindsame Finger. Hände, die viele Tricks und Illusionen vollführen konnten, die Menschen vor Rätsel stellen konnten – bei Hochzeiten, Privatpartys, bei Kennenlernaktionen und Firmenveranstaltungen, bei denen es um Vertrauensaufbau und Teambuilding ging. Vertrauensaufbau, dachte sie. Das war ein Witz. Theo arbeitete immer noch nur nebenberuflich als Zauberer, aber er war bekannt – zumindest in Bristol –, denn sein Repertoire als Zauberer machte ihn zusammen mit seinem mehr als guten Aussehen – dem dunklen, welligen Haar, schrägen Wangenknochen und diesen schwarzen Augen – sehr attraktiv. Und Grace war anscheinend auch nicht immun gegen seinen Charme.
»Aber du bist trotzdem gekommen.« Er sah sie immer noch forschend an.
»Ich wollte hören, was du sagst.« Sie entzog ihm ihre Hände. »Ich dachte, du würdest dich eher per SMS melden. Als nichts kam, war ich mir nicht sicher …« Was ich tun sollte? Was ich denken sollte? Wie ich damit umgehen sollte? Tatsächlich war Grace sich in keiner Hinsicht mehr sicher gewesen. Theo hatte ihre Welt aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie fühlte sich so unsicher wie mit neun Jahren.
»Du hast gedacht, ich hätte kalte Füße bekommen.« Sein Blick durchbohrte sie.
Sie nickte.
»Ich will ehrlich zu dir sein, Grace.«
Gut, dachte sie.
»Ich hätte mich zurückgezogen, wenn ich es gekonnt hätte.«
»Ich auch.«
»Aber es ging nicht. Ich wollte nur …« Er unterbrach sich. »Ich wollte nachdenken.«
Grace dagegen hatte versucht, nicht zu denken. Sie brauchte ihn nicht zu fragen, worüber er nachgedacht hatte, aber sie wollte wissen, zu welchen Schlüssen er gekommen war.
»Kaffee?«
»Bitte.«
Erstaunlich leichtfüßig für einen so großen Mann stand er auf und ging an die Theke. Sie sah ihm nach. Grace wurde bewusst, dass er nicht einmal zu fragen brauchte, was für einen Kaffee sie wollte, so gut kannte er sie.
Er kam mit zwei Tassen Cappuccino zurück und stellte sie auf den Tisch.
»Und was war das Ergebnis des ganzen Nachdenkens?«, fragte sie ihn.
Er runzelte die Stirn. »Grace.«
Sie liebte die Art, wie er ihren Namen aussprach. Sie zog ihren Kaffee heran und trank vorsichtig einen Schluck.
»Wir müssen dieses Problem logisch angehen«, erklärte er. Er legte die Hände mit den Fingerspitzen zusammen.
»Logisch!« Grace lachte humorlos. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Das ist keine mathematische Gleichung, Theo.« Sie nahm leichtsinnigerweise einen größeren Schluck von ihrem Kaffee und verbrannte sich den Gaumen. »Hier geht’s nicht um einen Klienten, der sich um seine Steuern drücken will.«
Theos andere Tätigkeit war in Grace’ Augen sogar noch erstaunlicher als seine Mitgliedschaft im Magischen Zirkel. Der Job, in dem er für eine Kanzlei in Bristol gearbeitet hatte, bis er allmählich mit der Zauberei genügend Geld verdiente, um sich selbstständig zu machen und stundenweise zu arbeiten, war der eines Steuerberaters. Grace hatte sich das nie richtig erklären können. Wahrscheinlich hatte sie bestimmte Vorstellungen von Männern, die mit Zahlen umgingen – zumindest, bis sie Theo getroffen hatte.
»Steuerberatung ist gar nicht so viel anders als Zaubern, wisst ihr«, hatte er Robbie und Grace einmal erklärt und ihre hochgezogenen Augenbrauen und ihr ungläubiges Schulterzucken ignoriert. »Es hat auch mit Logik und Beobachtung zu tun, mit Mustern und Wahrscheinlichkeiten. Es ist analytisch. Es erfordert Geduld und Übung.«
»Und Täuschung«, hatte Robbie hinzugefügt.
»Im Gegenteil.« Theo hatte eine schnelle Bewegung mit dem Handgelenk vollführt und ein schwarzes Taschentuch erscheinen lassen, das flach auf seiner Handfläche lag. »Steuerhinterziehung ist illegal, aber Steuern zu umgehen ist einfach nur vernünftig.«
»Und magisch?«, hatte Grace gefragt.
»Magie schließt etwas ein, das man nicht glauben oder verstehen kann. Eine besondere Macht, wenn ihr so wollt.«
Robbie schnaubte, aber Theo überging das. »Diese Macht bedeutet, dass du nicht siehst, was du zu sehen glaubst, dass deine Augen dich täuschen.« Er schloss die Handfläche, öffnete sie wieder, und das schwarze Taschentuch war verschwunden. »Also kann es keine richtige Täuschung sein. Wahre Täuschung kann es nur dann geben, wenn man den anderen nicht bewusst macht, dass es passieren wird.«
»Wahrlich kluge Worte«, hatte Robbie gesagt. »Auch bekannt als kompletter Blödsinn. ›Welche Netze wir doch spinnen‹ und so.«
»Was?«
»›Wenn erstmals wir auf Täuschung sinnen‹. Shakespeare, glaub ich.«
»Sir Walter Scott«, hatte Grace ihn verbessert.
Wahre Täuschung, dachte sie jetzt.
»Ich weiß.« Theo griff wieder nach ihren Händen. »Hier geht es um unsere Gefühle, und deswegen gefällt es dir nicht, ein Wort wie ›Logik‹ zu gebrauchen. Aber ein Problem ist es trotzdem, oder, Grace? Und wir müssen trotzdem eine Lösung finden.«
»Ja.« Damit hatte er recht. Aber Logik war viel zu rational.
Er gab ihre Hände frei. »Meine Position ist die: Ich liebe dich, und ich liebe Robbie.«
»Ich weiß.«
»Und was du außerdem wissen musst …«
Sie wartete. Wollte sie das wirklich hören?
»Dass ich nicht bedaure, was zwischen uns passiert ist.«
Blinzelnd sah sie ihn an. »Wirklich?« Ihr ging es genauso. Es war furchtbar, das zu denken, aber wenn sie eine Chance hätte, es zu wiederholen, würde sie es noch einmal tun. Ganz einfach.
»Es hat mein Leben verändert.« Sein Blick war düster und unergründlich, und doch vertraute sie ihm. Er war ein Zauberer, und Robbie sagte, er führe Leute hinters Licht, und dennoch vertraute sie ihm. »Du hast mein Leben verändert. Zum Teufel, Grace, du hast es so verändert, wie ich mir mein Leben wünsche.«
Meine Güte, das war starker Tobak. Genauso furchteinflößend wie aufregend. Grace hätte von Theo nicht weniger erwartet.
»Aber ich bin verheiratet«, sagte sie. Sie rührte ihren Kaffee um und trank noch einen Schluck. »Und zwar mit Robbie.« Denn, wie sie beide wussten, machte das alles noch so viel schlimmer.
»Genau. Und deshalb haben wir ein Problem.« Abrupt stand er auf und kippte seinen Kaffee in einem Zug hinunter. »Lass uns ein Stück gehen.«
Grace folgte ihm aus dem Café und musste sich selbst daran hindern, sich bei ihm einzuhaken. Das Schreckliche war, dass sie das noch hatte tun können, als sie nichts weiter als Freunde gewesen waren. Aber jetzt fühlte es sich mehr als seltsam an. Er wandte sich in Richtung Lewin’s Mead, zögerte aber und schlug den Weg zurück nach Colston Hall ein. Ihr fiel auf, dass er durch die Hintergassen ging. Er benahm sich schon vorsichtig, obwohl sie beide dabei waren, jede Vorsicht in den Wind zu schlagen.
Seite an Seite gingen sie Richtung Westen. Sie näherten sich dem Rathaus, und Grace fragte sich, ob er es spürte. Ihre Körper, die sich wie aus eigenem Willen einander zuneigten. Die Art, wie sie sich am liebsten an ihn gepresst hätte, mit ihm verschmolzen und eins mit ihm geworden wäre. Oh Gott!
»Ich will dich«, murmelte er. »Ich brauche dich.«
Grace schluckte.
»Wie lange haben wir Zeit?«
Was meinte er? Die Gedanken rasten durch ihren Kopf. Tage? Wochen? Monate?
»Wann musst du wieder zu Hause sein?«
Grace verstand. »In etwas über einer Stunde«, sagte sie, als hätte sie schon darüber nachgedacht, es schon ausgerechnet. Dann hätte sie eine Viertelstunde, bevor Robbie von der Arbeit nach Hause kam. Eine Viertelstunde, um zu duschen und sich darauf vorzubereiten, ihm etwas vorzuspielen. Grace konnte nicht glauben, dass sie so kaltschnäuzig sein konnte.
»Gut.« Theo hatte sie beide durch eine Nebenstraße und dann eine andere manövriert. Schließlich erreichten sie die Jacob’s Wells Road, und Grace begriff, dass sie unterwegs zu ihm waren. Natürlich. Was hatte sie denn gedacht?
Schon steckte sein Schlüssel im Türschloss seines sonnengelb gestrichenen Häuschens, und sie waren drinnen. Es war kleiner, als sie es in Erinnerung hatte, und, mein Gott, sie bekam keine Luft, es roch sogar nach ihm. Sie war schon ein- oder zweimal hier gewesen, und sie wusste, dass Robbie hier früher viel Zeit verbracht hatte, aber inzwischen kam Theo meist zu ihnen.
Im gleichen Moment, in dem die Haustür hinter ihnen zufiel, lag sie in seinen Armen, und er küsste sie. Alle Zweifel lösten sich in Luft auf, und es überkam sie wie schon einmal. Theo.
»Theo«, sagte sie.
»Grace.« Er nahm ihre Hand, und dann standen sie plötzlich im Schlafzimmer, wo sie noch nie gewesen war. Und dann … Und dann …
Es war langsamer als beim letzten Mal, sie ließen sich mehr Zeit. Sie sogen den Anblick und die Berührung ihrer Körper auf und erforschten einander. Grace strich mit den Fingern über seine karamellfarbene Haut, und sie küsste seinen Hals, seine Schultern, seine Brust und seinen Bauch, bis er sie stöhnend anflehte, damit aufzuhören. Als er endlich die Initiative ergriff, konnte sie es nicht mehr ertragen – am liebsten hätte sie seinen Namen herausgeschrien. Aber am Ende flüsterte sie ihn nur – wieder so, als läge darin alles, was ihr teuer war. »Theo.«
Anschließend kochte er Tee, den sie, im Bett sitzend, tranken. Der nachmittägliche Himmel wurde schon dunkler, was das Zimmer nur noch gemütlicher wirken ließ. Grace hatte das Gefühl, sie könnte für immer hierbleiben und in seinen Armen liegen. Die Vorhänge waren offen, und das Häuschen lag auf einem Hügel. Sie konnte die Dächer und Schornsteine gegenüber sehen und das ziemlich beeindruckende Gebäude der unabhängigen Schule für Jungen, das früher das Queen-Elizabeth-Krankenhaus beherbergt hatte. Sie wollte diesen kleinen friedlichen Hafen nicht verlassen und wieder in die Realität der Außenwelt zurückkehren, aber sie wusste, dass sie es tun musste. Liebe am Nachmittag, dachte sie. Sie sollte sich niederträchtig vorkommen. Dennoch … Sie ließ die Finger über seinen Rücken gleiten, und als sie die Augen schloss, fühlte sie alles beinahe noch einmal. Als laufe die Zeit rückwärts. In allen Einzelheiten.
»Nicht.« Er hielt ihre Hand fest. »Sonst muss ich dich noch einmal haben.«
Sie sah ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen an. »Du könntest es versuchen.« Aber sie wussten beide, dass sie nicht genug Zeit hatten.
Sie stand auf und ging ins Bad. Sie konnte nicht anders, sie untersuchte die Dinge auf der Ablage über dem Waschbecken, alles, was seiner Haut so nahe gekommen war wie sie, den Rasierschaum, das Aftershave, die Teerseife. Dann ging sie zurück und setzte sich auf die Bettkante. Auf einer Kommode am Bett stand das Bild eines Jungen mit einem Magierhut auf dem dunklen Lockenhaar.
Entzückt lachte sie auf. »Du?«
»Ich.«
»Hat so alles angefangen?« Sie beugte sich zu ihm und schlang eine seiner Haarsträhnen um ihren Finger.
Er nickte. »Ich glaub schon. Mein Onkel hat mir mal zu Weihnachten einen Zauberkasten geschenkt«, erklärte er. »Mit Zauberstab und allem.«
»Und allem?«, neckte sie ihn. »Süß.«
Er zog eine Grimasse. »Wie es aussieht, war ich von Anfang an süchtig danach. Am Wochenende bin ich immer vor meiner Familie aufgetreten. Die Woche über habe ich dann meine Technik perfektioniert.« Er ließ die langen braunen Finger spielen und zog eine Augenbraue hoch.
Grace konnte es richtig vor sich sehen. Sie begann, sich anzuziehen, um nicht in Versuchung zu geraten, noch einmal mit ihm ins Bett zu springen. »Was hat dich daran so angezogen?«
Sein Blick wurde träumerisch. »Ich schätze, ich wollte einfach die Leute beeindrucken.«
»Und waren sie das? Beeindruckt?«
»Darauf kannst du wetten.« Er lachte. »Aber es war mehr als das …« Er seufzte. »Ich wollte etwas verändern. Ich wollte feststellen, wie weit ich damit gehen konnte.«
»Damit?« Grace wusste, sie sollte gehen. Sie würde zu spät kommen. Aber es fiel ihr schwer, sich loszureißen.
»Der Illusion«, erklärte er. »Sehen, wie viel ich den Leuten vorspiegeln, was ich sie glauben machen konnte.«
Einen Moment lang schwieg Grace. »Und jetzt?«, sagte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Ist es noch genauso.«
»Ich muss gehen.« Sie stand auf.
Er rollte sich aus dem Bett und schnappte sich einen Frottee-Bademantel, der an dem Haken neben der Tür hing. »Grace«, sagte er, »wann hast du deinen nächsten freien Nachmittag?«
Ihr Herz machte einen Satz. Sie hatte das Gefühl, fliegen zu können. Lächerlich. »Donnerstag«, sagte sie. Sie brauchte nicht darüber nachzudenken.
»Kann ich dich sehen?«
Auch darüber brauchte sie nicht nachzudenken. »Ja«, sagte sie.
Immer noch hatten sie nicht darüber gesprochen, was sie tun würden, über das Problem und über die logische Lösung. Sie hatte versprochen, am Abend mit Robbie zu reden, aber daran konnte Grace gerade nicht denken. Sie war nicht in der Lage, über irgendetwas davon nachzudenken. Nicht, solange ihr Körper noch von seiner Berührung pulsierte. Nicht jetzt.