Grace ging von Theo aus nicht auf direktem Weg nach Hause. Sie machte einen Umweg, den sie sich schon vorher ausgedacht hatte. Das verschaffte ihr Zeit zum Nachdenken, und vielleicht konnte sie sogar wieder ein anderer Mensch werden konnte – die Grace, die mit Robbie verheiratet war. Sie hätte mit dem Auto zu Theo fahren können, aber Autos waren leicht zu erkennen, wenn sie in einer Straße in der Nähe parkten. So hinterhältig war sie geworden, dachte sie. Aber Grace brauchte diesen Spaziergang nach Hause auch. Sie musste einen Teil des Adrenalins loswerden, das noch durch ihren Körper summte, nachdem er sie berührt hatte. Sie würde weniger als eine halbe Stunde brauchen, und sie wollte die frische Frühlingsbrise spüren, die sie daran erinnerte, dass das, was sie tat, real war. Sie wollte sich nicht zu sehr wohlfühlen. Denn das hier hatte nichts mit einem guten Gefühl zu tun, nicht im Geringsten.
Sie trafen sich inzwischen fast jeden Nachmittag. Sie gingen zu Fuß durch den Brandon-Hill-Park, weil er in der Nähe lag, weil es dort schön war und weil es schmale, hügelige Wege und kleine abgeschiedene Nischen gab – meist mit einer Bank und einer spektakulären Aussicht –, wo sie ein paar Minuten allein sein konnten. Am Fuß der Treppe, die zum Cabot Tower hinaufführte, lagen ein Teich und ein Aussichtspunkt, den sie oft aufsuchten. Der Ort war so imposant, wirkte so erhaben und seiner selbst sicher, und er strahlte so etwas Friedliches aus. Sie saßen meist auf einer der in einem dunklen Türkiston gestrichenen Bänke und schauten hinaus auf die Bäume, Terrassen, Kirchtürme und die offene Landschaft jenseits der Stadt, und es fühlte sich wirklich so an, als befänden sie sich in einer anderen Welt. Vielleicht erschien es deswegen entschuldbar, dachte Grace. Dieses Gefühl, dass das, was sie mit Theo hatte, ein anderes Leben war, dass sie sich hier wirklich in einer anderen Verkörperung und an einem anderen Ort befanden. Vielleicht war sie überhaupt nur deswegen dazu in der Lage.
Sie redeten über alles, was man sich vorstellen kann. Theo erzählte ihr davon, wie er in Florida aufgewachsen war. In Miami hatte es ein Klein-Havanna gegeben – die Männer spielten weiter Domino und verkauften Zigarren, und die Menschen sprachen weiter über Politik und waren über die Lage in Kuba auf dem Laufenden. Aber niemand, sagte er, hätte viel für Fidel Castro übrig gehabt. Theo erzählte Grace, warum er nach dem Tod seiner Eltern nach England wollte, ein Land mit so viel Geschichte. Er hatte nie vorgehabt, zu bleiben, dann aber festgestellt, dass er die Landschaft von Somerset liebte, die exzentrische Art der Engländer, die Geschichte der Bauwerke von Bristol.
Auch Grace sprach über ihre Kindheit und erzählte ihm von ihren Gefühlen nach dem Tod ihrer Mutter, davon, wie sie Elisa kennengelernt hatte, und von ihrer schwierigen Beziehung zu ihrem Vater. »Ich habe beschlossen, mich eine Weile von ihm fernzuhalten«, vertraute sie Theo an. »Es ist der Alkohol – ich kann es nicht ertragen, ihn so zu sehen.« Sie redeten über Politik, über Bücher, über Länder, die sie besucht hatten, und wohin sie vielleicht als Nächstes reisen wollten. Aber sie sagten nicht, mit wem. Und sie erwähnten Robbie nicht. Dieses Thema war tabu.
Sie gingen spazieren, sie unterhielten sich, sie gingen verrückte Risiken ein. Während sie gingen und redeten, beugte er sich manchmal hinunter, um sie zu küssen oder den Arm um sie zu legen. Oder sie hielten sich an den Händen, und jeder … jeder, sagte sich Grace, hätte sie sehen können. Aber sie konnte nicht anders. Sie fühlte sich von ihm angezogen wie eine Motte vom Licht. Vielleicht würde sie sich die Flügel verbrennen, aber das kümmerte sie nicht mehr. Und wenn sie über die Hügelkuppe gingen, konnte sie das leuchtend gelb gestrichene Haus in der Gorse Lane wie einen Leuchtturm strahlen sehen. Sie würden hinuntergehen, und es käme näher und näher … Und sie wussten beide, was sie dort erwartete.
Manchmal – wenn es regnete oder sie das Warten nicht ertrugen – blieben sie einfach zu Hause und liebten sich, verbrachten lange, wohlige Nachmittage im Bett, und Grace wünschte sich, sie würden niemals enden. Sie liebte es, wie er dachte, und sie liebte seinen Körper – ihn zu spüren, ihn zu berühren, die Verbindung zwischen ihnen. Er war ihr bester Freund und war ihr Liebhaber geworden. Es war eine wunderbare Zeit. Aber sie wusste auch, dass es gestohlene Zeit war. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie je etwas anderes daraus werden sollte.
Grace stieg nun wieder die Treppe zum Brandon Hill hinauf – diesmal auf dem Heimweg. An der Ecke der Park. An diesem Punkt blickte sie immer zurück, auf den Weg, den sie gekommen war, zurück zur Gorse Lane und den hohen Reihenhäusern von Clifton, bevor sie über den schattigen Weg nach Hause ging. Hier war ihr Wendepunkt. An diesem Nachmittag bemerkte sie die Narzissen unter den Bäumen auf dem sanft ansteigenden Hügel, die bald aufblühen würden, und hörte das Vogelgezwitscher, das auf reizende Art versuchte, den fernen Verkehrslärm zu übertönen – was ihm erstaunlicherweise auch gelang. Sie passierte den von Weiden umstandenen Teich. Er wirkte immer noch leblos und war verschlammt und von Dornenranken überwuchert, aber Theo hatte ihr erzählt, dass es hier im Sommer von gelben Sumpfschwertlilien, Sumpfdotterblumen, Fröschen, Kröten, Wassermolchen und glitzernden Libellen, die dicht über der Oberfläche dahinhuschten, vor Aktivität nur so wimmelte. Jetzt gab es hier hauptsächlich Grauhörnchen und Vögel, aber später im Jahr würden das Heidekraut und die Wiesenblumen Schmetterlinge und Bienen anlocken. Würde sie im Sommer hier sein? Grace konnte es nicht sagen. Sie ging weiter, bis sie die grauen und zitronengelben dreistöckigen Reihenhäuser aus georgianischer Zeit auf der Queens Terrace sehen konnte. Sie ging auf Brandon Steep zu. Sie konnte es nicht sagen, weil sie es einfach nicht wusste.
Sie nahm inzwischen keine Patienten für den Nachmittag mehr an. Sie vermutete, dass auch Theos Arbeit zu kurz kam. Er ging immer noch ins Krankenhaus, er absolvierte weiter seine Wochenend- und Abendtermine, aber er sah müde und abgespannt aus. Sein Gesicht war hagerer als früher, und er machte einen gehetzten Eindruck. Theo und sie ertranken ineinander. Grace ging am Brandon Cottage mit seinen Butzenfenstern und der königsblauen Tür vorbei und warf einen Blick auf die Plakette. Home of the Bristol Savages 1907–1920. Das klang leicht bedrohlich, aber Theo hatte ihr erklärt, dass es sich dabei um eine 1904 von Malern gegründete Künstlervereinigung handelte.
Grace gefiel Theos gehetzte Miene nicht. Ihr gefiel nicht, was passierte. Es war zu viel, zu extrem, ein Wahnsinn, der so nicht weitergehen konnte. Das war nicht das richtige Leben, sagte sie sich noch einmal, während sie an der hohen Steinmauer mit den seltsamen, skurrilen Skulpturen von Meerjungfrauen und Fischen, die jemand darauf angebracht hatte, und an der kleinen Holztür vorbeiging. Wie Alice im Wunderland. Es war ein unhaltbarer Zustand. Aber die ganze Zeit über und trotz alledem sehnte sie sich nach seinem Blick, seiner Stimme, seiner Berührung. Sie hungerte auch jetzt danach, obwohl sie gerade erst von ihm fortgegangen war. Und es ging immer so weiter. Es war, als könnten sie nicht genug voneinander bekommen.
Grace umrundete das Rathaus, bis sie vor der Vorderfront stand. An dem beeindruckenden Platz erhob sich nicht nur der elegante Halbbogen des Rathauses selbst, sondern auch die Bibliothek und die kantige Kathedrale. In dem Wassergraben und dem Wasserfall vor dem Rathaus badeten Tauben und schüttelten ihre Flügel. Viele Menschen standen vor dem Eingang der Kathedrale. In Bristol traf man immer auf Touristen, und Grace mochte das Gefühl, hier zu leben, sich unter ihnen verlieren zu können. Es ist eine Illusion, Grace, erklärte sie sich streng. Sie machte es wie Theo: Sie versuchte etwas vorzutäuschen.
Manchmal, wenn ihr die Zukunft so furchteinflößend erschien, dass sie in Panik verfiel, fragte Grace ihn: »Was sollen wir nur tun?« Er war doch derjenige, der immer eine logische Antwort auf alles hatte. Aber er zuckte nur mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Grace. Ich weiß es einfach nicht.« Und so ging es weiter.
Nach dem Abendessen sprang Robbie auf, um abzuräumen. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Bleib sitzen«, sagte er. »Ich mach das schon.«
So war das jetzt. Robbie war nett zu ihr – was furchtbar für sie war. Besonders wegen des Grundes dafür: Er war nett zu ihr, weil sie immer krank war. Oder behauptete, es zu sein. Sie konnte nicht mit ihm schlafen, weil sie Kopfschmerzen oder einen verdorbenen Magen hatte. Genau wie Theo nahm sie ab. Wenn sie in den Spiegel sah, wirkten ihre Augen beinahe eingefallen. Sie war zwar immer schlank gewesen, aber jetzt hing die Kleidung praktisch an ihr herunter. Sie versuchte, es zu verbergen, aber das fiel ihr schwer. Sie konnte nicht essen. Sie konnte nicht essen, weil …
»Danke, Schatz.« … Weil Grace’ Adrenalin inzwischen vollkommen verpufft war und sie sich nur noch erschöpft fühlte. Sie konnte nicht glauben, wie viel Energie sie den ganzen Tag über gehabt hatte, aber sie wusste, dass es morgen genauso sein würde. Der Gedanke an Theo trieb sie vorwärts.
Während Robbie die Teller abräumte, warf Grace ihm einen misstrauischen Blick zu. Sie hatten sich an ihren unsicheren Waffenstillstand gehalten. Zu ihrer großen Erleichterung war nicht von Familien und Babys die Rede gewesen. Und sie konnte nicht behaupten, dass dieses Thema für sie momentan im Vordergrund stand.
Robbie kam wieder ins Zimmer. Er sah sie stirnrunzelnd an.
»Was?«
»Du musst zum Arzt, Gracie«, sagte er. »Das geht doch jetzt schon seit Wochen so. Dir fehlt irgendwas.«
»Ein Arzt kann mir nicht helfen.« Wie auch? Ihr Problem war, dass sie in einen dunkeläugigen Zauberer verliebt war, der zufällig der beste Freund ihres Mannes war. Dagegen halfen keine Pillen, oder?
»Woher weißt du das? Er könnte dich wenigstens untersuchen. Tests machen oder so. Komm und setz dich.« Er zupfte an ihrer Hand und zog sie zum Sofa.
Grace ließ sich von ihm stützen. »Bestimmt nur irgendein Virus«, sagte sie. »Mir geht’s bald wieder besser.« Aber ihr war klar, dass sie ihn nicht ewig abwimmeln konnte. Es musste sich etwas ändern.
Später lag Grace im Bett und war schon fast eingeschlafen, während Robbie sich auszog. »Noch was«, sagte er plötzlich.
»Hm?«
»Etwas richtig Merkwürdiges.«
»Bitte?« Sie schlug ein Auge auf.
»Ich hab Theo gesehen.«
»Was?« Grace setzte sich im Bett auf. Das war’s dann also. Er hatte sie gesehen. Er wusste Bescheid. Grace spürte die aufsteigende Panik in der Magengrube.
»Ja. Na, du weißt doch, dass er gesagt hat, er würde eine Weile verreisen.« Robbie nahm seine Brille ab. Ohne sie wirkte er immer viel verletzlicher.
Grace nickte.
»Das war komisch, weil ich auch versucht habe, ihn anzurufen. Aber anscheinend ist er nicht nur weg, sondern auch nicht erreichbar.«
»Hm.« Sie wartete.
»Und wie’s aussieht, ist er wieder da.«
»Wieder da«, wiederholte sie. »Oh … gut.« Was sollte sie jetzt sagen? Vorschlagen, dass sie ihn einluden? Sie mochte sich nicht einmal annähernd vorstellen, wie grauenvoll das werden würde.
»Und trotzdem hat er uns nicht besucht. Keine SMS, kein Anruf, nichts.« Robbie stieg aus der schwarzen Hose, die er bei der Arbeit trug. Er hatte sich nicht umgezogen, als er am Abend nach Hause gekommen war. Schnell schlüpfte er ins Bett und streckte die Arme nach ihr aus.
»Vielleicht ist er ja noch nicht dazu gekommen«, murmelte Grace. Sie schmiegte sich in ihrer gewohnten bequemen Stellung in seine Arme. Ihr war es fast lieber, wenn sie sich stritten. Zumindest war das ehrlicher.
»Ja, aber …« Robbie schüttelte den Kopf. »Ich hab ihn angerufen. Ich hab ihm SMS geschrieben. Verdammt noch mal, Gracie, es ist, als gäb es mich für ihn nicht mehr.«
So hob den Kopf und schaute ihn an. Er sah so unglücklich aus, dass Grace plötzlich am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Sie selbst hatte ihm das angetan. »Vielleicht hat er ja nur viel zu tun«, sagte sie. »Oder er hat eine neue Freundin.« Es war schrecklich, ihn anzulügen. Sie wollte nur, dass er sich besser fühlte.
»Glaub ich nicht«, sagte er. Er streckte sich aus und knipste die Nachttischlampe aus.
So war es besser. Wenigstens konnte er jetzt ihr Gesicht nicht sehen. »Du hast ihn gesehen?«, fragte sie vorsichtig.
»Ja. In der Nähe der Kathedrale.«
Was hattest du an der Kathedrale zu suchen?, hätte sie am liebsten gekreischt, weil das ihr üblicher Heimweg war. Aber sie hielt sich zurück. Mit einem Mal schien ihr Glück – das Glück aller drei – an einem seidenen Faden zu hängen. Und sie hatte keine Ahnung, was sie dagegen tun sollte.
»Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte sie stattdessen. Ihre Stimme klang vollkommen ausdruckslos.
»Hab ich versucht. Ich saß im Auto und habe aus dem Fenster gerufen. Aber ich glaube, er hat mich nicht gehört. War viel los auf der Straße.«
»Hast du angehalten?«, fragte sie.
»Klar. Ich habe bei der nächsten Gelegenheit geparkt und bin zurückgegangen, um nach ihm zu suchen.« Er hielt inne.
»Und?«
»Er war verschwunden.«
Grace drehte sich um, weg von ihm. Der Zauberer, dachte sie. Immer so gut darin, sich in Luft aufzulösen. Theo und Robbie hatten nicht miteinander geredet – aber irgendwann mussten sie es tun. Theo konnte seine Freundschaft mit Robbie nicht einfach auslaufen lassen. Und doch … gäbe es eine andere Möglichkeit?
»Ich hab keine Ahnung, was da los ist, Gracie«, murmelte Robbie und drehte sich ebenfalls zum Schlafen um.
Gott sei Dank. Sie hätte nicht mehr länger über Theo reden können. Aber sie würde etwas unternehmen müssen. Sie würde Theo erzählen, was passiert war, und sie würden sich etwas einfallen lassen. Sie mussten. Sonst … Sie schloss die Augen.
»Ich geh bei ihm vorbei«, brummte Robbie in die Dunkelheit hinein, »und ich werde es verdammt noch mal rauskriegen.«