Am Nachmittag des nächsten Tages wagte es Grace fast nicht, zu Theo zu gehen. Aber sie konnte nicht anders. Als sie den Brandon Hill hinaufstieg, spürte sie nicht die gewohnte Vorfreude, die Erregung bei dem Gedanken, was sie erwartete. Ausnahmsweise beschäftigte sie sich mit der Frage, was sie zu ihm sagen würde, und ihr körperliches Verlangen meldete sich nicht. Während sie rasch die Jacob’s Well Road entlangging, sah sie nach links und rechts und blickte auch über die Schulter, als sie in die Gorse Lane einbog. Sie hasste das. Trotz allem schien das gelbe Haus mit der Buntglas-Tür sie anzulächeln.
Theo öffnete ihr. Sie huschte hinein und sank in seine Umarmung. Einen Moment lang bekam sie keine Luft, doch dann nahm sie den beruhigenden Duft nach roten Äpfeln und Pfeffer wahr, der zu ihm gehörte, und sie spürte, wie sie sich zum ersten Mal, seit sie am Vortag hier gewesen war, allmählich entspannte.
»Was ist los, Grace?« Er küsste sie auf den Scheitel. »Warum bist du so nervös? Was ist passiert?«
Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Robbie hat dich gestern gesehen. Er kann nicht verstehen, warum du dich nicht bei ihm gemeldet hast. Er hat gesagt, er hätte dir SMS geschrieben und versucht, dich anzurufen.« Sie wartete auf seine Erklärung.
»Hat er, ja.« Er streichelte ihr Haar.
»Das hast du mir nicht erzählt.«
»Ich wollte dich nicht aufregen. So wie jetzt«, sagte er.
»Aber wie hast du darauf reagiert?«, fragte sie ihn.
»Ich habe seine Nachrichten ignoriert.« Er seufzte. »Was hätte ich ihm denn sagen sollen? Ich kann dich nicht treffen, Rob, tut mir leid. Ich bin zu beschäftigt mit meiner Affäre mit …«
»Nicht«, sagte sie.
»Komm, trink einen Tee.« Er nahm ihre Hand und führte sie in die Küche.
Der Raum war ihr im Lauf des vergangenen Monats vertraut geworden – die grünen Kacheln, der cremeweiße Herd, die Küchenschränke im Shaker-Stil und die Arbeitsplatte mit dem knalligen Mosaikmuster. Ein kleiner Holztisch mit zwei Stühlen stand da, und Grace setzte sich auf den, der dem Fenster am nächsten war. Sie sah hinaus auf den kleinen, mit Platten belegten Hof und die Steinmauer dahinter.
»Wenn es wärmer wird«, hatte Theo vor ein paar Tagen gesagt, »können wir in Liegestühlen da draußen sitzen und Cocktails trinken.« Sie hatte gelacht und entgegnet, sie könne es kaum erwarten, und sie hatte die Bilder geliebt, die seine Worte vor ihrem inneren Auge heraufbeschworen. Aber wie hätten sie solche Dinge tun können? Wie konnten sie überhaupt über die Zukunft nachdenken?
»Und wenn er herkommt, jetzt, heute Nachmittag?« Grace fühlte Panik in sich aufsteigen.
»Entspann dich. Wir machen einfach nicht auf.« Er lächelte. Doch es war kein glückliches Lächeln – nicht sein Lächeln von früher, wenn er die beiden besucht und den Abend mit ihnen verbracht hatte –, sondern sein neues, gehetztes Lächeln. Ja, es ist schrecklich, aber etwas Besseres bringe ich nicht zustande, sagte diese Art von Lächeln. Und Grace hasste es.
»Jedenfalls …« Er griff nach dem Wasserkocher, füllte ihn, schaltete ihn ein und ließ Teebeutel in zwei Tassen fallen – Grüntee mit Minze für sie, Assam für ihn. »Es kommt nur darauf an, dass du in diesem Moment hier bist. Wenn wir das nicht hätten …«
»Ach, Theo.« Grace verschränkte die Hände. »Das ist nicht gut. Wir können das nicht tun, oder?«
Er trat an den Tisch und setzte sich ihr gegenüber. »Was sagst du da, Grace?«
Sie streckte die Hand aus und berührte seinen Mund. »Wir müssen aufhören, uns zu treffen«, sagte sie leise. Das war die einzige Möglichkeit. Robbie und sie konnten nach West Sussex ziehen, um in der Nähe seiner Familie zu sein, wie er wollte. Sie würde das Baby bekommen, nach dem er sich sehnte. Und mit der Zeit würde sie Theo und die Gefühle, die er in ihr erweckt hatte, vergessen. Sie musste es.
Er griff nach ihrer Hand, küsste sie und ließ sie dabei nicht aus den Augen. »Weil du dir keinen anderen Ausweg aus unserer Lage vorstellen kannst«, sagte er.
»Du hast recht. Das kann ich nicht.« Ihre Stimme war leise und klang unglücklich. »Kannst du das?«
Theo hielt ihre Finger jetzt mit beiden Händen fest. Sie fühlte sich warm und umschlossen. Sicher. »Ich habe Robbie verloren«, sagte er. »Was immer jetzt noch passiert, ich hab ihn verloren.«
Er brauchte es nicht auszusprechen. Wenn sie ihn verließ, hätte er auch sie verloren. Also verlor er entweder beide, oder Robbie verlor sie beide – und sie war diejenige, die sich zwischen ihnen entscheiden musste. Was, soweit es Grace anging, eine unmögliche Wahl war.
»Aber du könntest deine Ehe kitten – ja? Glaubst du, das könntest du, Grace?«
Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Vielleicht.«
»Falls er das mit uns nie herausbekommt«, setzte Theo hinzu.
»Falls er es nie herausfindet«, pflichtete Grace ihm bei. Wenn er das mit Theo herausfand, würde er ihr nie verzeihen, und sie könnte ihm das nicht übel nehmen.
»Du könntest wieder leben wie früher? Du könntest zu Robbie zurückkehren und mich vergessen? Du könntest glücklich sein?«
Grace war sich da gar nicht sicher. Sie beobachtete ihn, sein geliebtes Gesicht, seinen geschwungenen Kiefer, seine schrägen Wangenknochen. Und sie sah, dass sie ihn verletzt hatte. »Wir müssten von hier fortgehen«, sagte sie. »Aber ich glaube, wir könnten es versuchen, ja.«
»Aber du würdest mich verlieren.« Er fasste ihre Hand fester. »Du weißt schon, dass wir nie mehr einfach nur Freunde sein können?«
Grace zitterte. Ja, das wusste sie. Aber sie hatte keine Ahnung, wie schwer das werden würde. »Ich sehe keinen anderen Ausweg«, sagte sie. »Ich kann ihm einfach nicht länger wehtun, Theo.«
Theo schwieg einen Moment lang und sah starr auf einen Punkt hinter ihr. »Du könntest jederzeit mit mir fortgehen«, sagte er schließlich.
»Was?«
»Wir könnten Bristol verlassen. Irgendwo anders leben. Du und ich, Grace.«
Sie starrte ihn an. »Du meinst, ich soll Robbie verlassen?«
»Das ist eine Möglichkeit«, sagte er. »Ehen zerbrechen manchmal. Und ihr habt schließlich keine Kinder. Wenn du mich liebst …«
Aber sie schüttelte schon den Kopf. Das war Wahnsinn, sie wollte nicht einmal ansatzweise darüber nachdenken. Wenn sie das täte, wäre die Versuchung zu groß. »Das könnte ich ihm nicht antun, Theo. Du und ich? Das würde ihn zerstören, das weißt du.« Es war undenkbar. Wenn Robbie es herausfand … Das wäre zu furchtbar. »Und wir beide würden nachher nie wieder mit uns selbst leben können. Kannst du dir das vorstellen? Wir wären so von Schuldgefühlen zerfressen, dass wir nicht mal genießen könnten, was wir hätten.« Sie war den Tränen nahe.
Er ließ ihre Hände los. »Dann geh«, sagte er.
»Aber …«
»Geh.«
Grace stolperte auf die Füße. So also würde es ohne ihn sein. Hätte sie geahnt, dass es sich so anfühlen würde, hätte sie nie zugelassen, dass es überhaupt anfing. »Wenn Robbie kommt …«, begann sie.
»Mach ich die Tür nicht auf.«
»Danke.«
Vor dem Haus holte Grace tief Luft und machte sich automatisch auf den Weg nach Hause. Sie schlug ihre übliche Route über den Brandon Hill ein, wandte sich in Richtung College Green und merkte dann, dass sie nach Clifton zurückging. Sie konnte noch nicht nach Hause gehen – sie konnte einfach nicht. Sie ging und ging. Eine Stunde lief sie weiter und fand sich dann auf der Bellevue Terrace wieder, am oberen Ende der Treppe, die zur Gorse Lane hinunterführte. Sie rannte auf Theos Tür zu.
Er machte ihr auf. Er sah nicht aus, als wäre er erstaunt darüber, sie zu sehen.
»Ich kann dich nicht verlassen«, erklärte sie. Und trat wieder ins Haus.