Keine Reaktion. Kein Laut von drinnen. Aber Elisa wusste, dass Theo da war. Er musste da sein. Sie hob die Klappe des Briefkastens hoch. »Theo!«, rief sie hinein. »Komm an die Tür, ja?« Nichts. Sie klopfte noch einmal. »Theo?« Lauter jetzt. »Ich weiß, dass du …«
»Elisa?«
Sie fuhr herum. Robbie stand mit verwirrter Miene neben ihr. »Was machst du denn hier?« Er schob sich die Brille auf der Nase hoch. »Ist er da?«
»Ich wollte ihm ein paar Handzettel bringen«, stammelte sie. Sie hielt den Plastikumschlag in der Hand. Oh, mein Gott. »Nein, er ist nicht da.«
»Nicht? Ich dachte, du hättest durch den Briefkasten mit ihm geredet.« Er legte den Kopf schräg.
Elisa überlegte schnell. »Nein, nein, ich hab nur nach ihm gerufen, um festzustellen, ob er da ist.« Sie lachte unsicher und fasste dann Robbies Arm. »Könntest du mich vielleicht nach Hause fahren, Robbie? Ich bin mit dem Bus gekommen, aber ich fühle mich gerade nicht so gut.« Es stimmte, mit einem Mal hatte sie so weiche Knie, als würde sie gleich umfallen.
»Klar kann ich das. Ist alles in Ordnung, Elisa? Was hast du? Möchtest du dich hinsetzen?« Er wirkte so besorgt, der arme, liebe Junge. Wie konnten die beiden nur?
»Ich glaube, mir geht’s gut, ja.« Tat es aber nicht. Sie stand noch völlig unter Schock.
Aber Robbie wollte offenbar noch nicht gehen. »Bist du sicher, dass er nicht zu Hause ist? Wenn er doch da ist, könntest du dich einen Moment hinsetzen.« Er hämmerte an die Tür. »Theo?«
»Nein, er ist nicht da«, erklärte sie bestimmt. Sie zog an seinem Arm. »Können wir gehen, mein Lieber? Es tut mir so leid, dass ich dir zur Last falle.«
»Ja, klar. Entschuldigung.« Er warf einen Blick auf den Plastikumschlag mit den Handzetteln, den sie immer noch in der Hand hielt. »Sie sind ziemlich gut geworden, finde ich. Willst du sie nicht durch den Briefschlitz werfen oder so?«
»Nein. Oh ja. Ja, natürlich.« Mit Robbies Hilfe schob sie den Packen durch den Schlitz. Sie hörte, wie er ein Stück rutschte, und dann das dumpfe Geräusch, mit dem er drinnen auf der Fußmatte landete. Aber sie hatte nur den Wunsch, Robbie von hier wegzulotsen. Seine Frau war nicht mehr im Haus, aber trotzdem musste er von hier verschwinden.
»Dann komm.« Er nahm ihren Arm. »Was für ein Glück, dass ich gerade vorbeigekommen bin. Das Auto steht gleich um die Ecke.« Er wies die Jacob’s Wells Road entlang, in die Richtung, in die Grace gegangen war.
Meine Güte, dachte Elisa. Wie war es möglich, dass er sie nicht gesehen hatte? Sie hatte das verwirrende Gefühl, als passiere alles zu schnell, als laufe das Leben gerade im Zeitraffer ab. Hatte sie recht, was Grace und Theo anging? Es musste so sein, sie spürte es in ihren Knochen. Und wenn sie jetzt darüber nachdachte, sah sie …
Als sie zur Hauptstraße kamen, sah Elisa sich um, aber von Grace war nichts mehr zu sehen. Inzwischen musste sie den Fuß des Hügels erreicht haben, vermutete Elisa, oder durch den Park gegangen sein. Jedenfalls war sie in Sicherheit. Sie stützte sich schwerer auf Robbies Arm und überlegte, was sie tun, was sie sagen sollte.
Auf dem ganzen Heimweg plauderte Robbie unaufhörlich mit ihr. Elisa antwortete, so gut sie konnte, und versuchte zu klingen, als sei alles in Ordnung. Hoffentlich würde er einfach denken, sie sei müde oder ihr sei unwohl. Auf den wahren Grund würde er nie kommen, da war sie sich sicher. Elisa lief ein Schauder über den Rücken.
»Danke, Robbie«, sagte sie, als er schließlich vor dem Haus in der King Street anhielt. »Ich bin dir sehr dankbar. Und merkwürdigerweise fühle ich mich schon viel besser.« Obwohl das nicht stimmte, ganz im Gegenteil.
»Kein Problem.« Er runzelte die Stirn. »Sag mal, hast du ihn in letzter Zeit gesehen?«
»Ihn?«, fragte sie schwach.
»Theo. Anscheinend war er verreist. Und jetzt ist er da, aber auch wieder nicht.« Er lächelte betreten. »Wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ja, Robbie, aber ich fürchte, ich habe keine Ahnung.« Was sollte sie sagen? »Vielleicht war er ja weggefahren, und …« Sie verstummte.
»Okay. Warte einen Moment.« Robbie sprang aus dem Auto und ging auf die andere Seite, um ihr die Tür zu öffnen.
»Danke.« Elisa schwang die Beine hinaus, schob sich aus dem Wagen und strich ihren Mantel glatt. »Möchtest du auf einen Kaffee reinkommen, mein Lieber?« Das würde schwierig werden, und sie hatte keine Ahnung, was sie zu dem armen Jungen sagen sollte, aber Höflichkeit war bei ihr ein Instinkt.
»Danke, aber ich sollte lieber nach Hause fahren.« Er stand schon wieder an der Fahrertür.
Elisa zögerte. »Wie geht’s Grace?« Sie hatte gewusst, dass sie nicht ganz auf dem Posten war, aber sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie die Zeichen nicht erkannt hatte.
»Ach, weißt du.« Kurz schwieg er. »Sie ist ein bisschen schlapp. Irgendein Virus, nehme ich an. Das wird schon wieder.«
Elisa nickte. Wann könnte sie Grace besuchen? Wann könnte sie mit ihr reden? »Grüß sie schön von mir«, sagte sie.
»Mach ich.« Er öffnete die Autotür, stieg ein und winkte ihr ein letztes Mal zu.
Elisa ging ins Haus und ließ sich in ihren Lieblingssessel fallen. Sie brauchte ein paar Minuten, bis sie auch nur die Kraft hatte, ihren Mantel auszuziehen.
Philip war in der Küche. Von dort zog ein ziemlich ungewöhnlicher Geruch heran, aber darüber konnte Elisa jetzt nicht nachdenken. Jedes Hobby, das sich Philip aussuchte, um sich abzulenken, war besser, als dass er trank.
»Geht’s dir gut, Schatz?«, rief er. »Was ist los?«
»Nichts«, sagte sie. »Alles in Ordnung.« Mit besorgter Miene kam er an die Tür. Aber sie konnte ihm das nicht erzählen – nicht nach dem, was er mit Nancy durchgemacht hatte.
»Eine Tasse Tee?«, schlug er vor.
»Wunderbar.« Elisa seufzte. »Und wie ist es gelaufen heute Nachmittag? Bei Ruth?«
»Sehr gut.«
Sie hörte zu, wie er in der Küche herumhantierte, den Kessel aufsetzte, Tee kochte und ihr erzählte, worüber er und seine Therapeutin am Nachmittag gesprochen hatten. Obwohl ihre Gedanken abschweiften. Zurück zu Grace, zurück zur Plaza de Armas im Jahr 1985, dazu, wie Liebe aussah.
»Und ich habe nachgedacht.« Er stellte das Tablett vorsichtig auf den kleinen Tisch vor sie hin. »Ich glaube, ich bin bereit, mit Grace zu reden. Ich glaube, das könnte helfen.«
»Mit Grace reden?« Sie starrte ihn an. »Worüber?«
»Ich will ihr sagen, dass ich aufgehört habe zu trinken. Ich möchte sie um Verzeihung bitten. Ich möchte, dass wir versuchen, von vorn anzufangen.«
»Oh, Philip.« Elisa legte ihm eine Hand auf den Arm. »Das ist gut. Sie wird …« Aber ihr Kopf war leer. Wie würde Grace reagieren? Wäre sie erfreut? Oder wären ihr Kopf und ihr Herz so voll von Theo, dass sie auf ihren Vater nicht so eingehen würde, wie er es verdient hatte?
»Sie war seit Wochen nicht hier«, sagte er. »Aber wer könnte ihr das verdenken?«
Das war Elisa auch aufgefallen. »Bist du dir sicher, dass du so weit bist?«, fragte sie.
Er nickte. »Ja. Und vielleicht hilft es mir. Ich kann sie ja nicht noch mal enttäuschen, oder, Elisa?«
Sie schüttelte den Kopf. Nein, das konnte er nicht. Aber zuerst musste sie selbst mit Grace reden. Sie durfte keine Zeit verschwenden. Und mit Theo. Jemand musste die beiden aufhalten. Und soweit sie erkennen konnte, was sie die Einzige, die dazu in der Lage war.
Später saß Elisa an ihrem Schreibtisch. Sie schloss die Augen und fühlte sich wieder auf die Plaza de Armas in Havanna und in das Jahr 1985 zurückversetzt. Sie versuchte, regelmäßig und langsam zu atmen.
»Elisa«, hatte er gesagt. »Du bist es.«
Verständnislos hatte sie ihn angestarrt. Aber du bist tot, war alles, was sie denken konnte. Und doch war er offensichtlich nicht tot. Duardo – ein älterer Duardo mit Furchen im Gesicht und Falten um die Augen, mit der Statur, dem Blick und dem Stirnrunzeln eines älteren Mannes, stand vor ihr. Älter, aber vollkommen lebendig.
»Aber …«, stammelte sie.
»Du hast mit meinem Sohn gesprochen.« Er machte einen Schritt auf sie zu und streckte die Hände aus. Diese Geste hatte etwas so Vertrautes, dass ihr fast das Herz stehenblieb. Sie erinnerte sie schmerzhaft an ihre Wurzeln, an Kuba, an zu Hause. »Du hast von England und Kuba geredet. Von deiner Familie hier in der Altstadt. Über die Sonne.« Scharf sog er den Atem ein. »Und über die Rumba.«
Elisa nahm immer noch jede Einzelheit seines Gesichts in sich auf. Seine Lippen, die kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen, seinen ernsten Blick. Natürlich, dachte sie, sein Sohn. Dann war sie doch nicht so dumm gewesen. Sie hatte es erkannt. Nur, dass … »Ich dachte, du bist tot«, erklärte sie.
Sein Blick wurde düster. »Elisa«, sagte er. Und dann lag sie in seinen Armen und hatte Mühe, überhaupt an irgendetwas zu denken.