Kuba 2012
»Morgen nehm ich dich mit nach Cayo Levisa«, hatte Duardo gesagt. »Da warst du noch nie, Mami. Es ist ein Vorgeschmack aufs Paradies.«
»Cayo Levisa?« Hatte sie Geburtstag? In all ihren Jahren in Havanna war Rosalyn noch nie dort gewesen, obwohl sie gehört hatte, die Insel sei sehr schön. Sobald Duardo mit seinem Taxi erfolgreich im Geschäft war, hatte er sie zu allen möglichen Orten gefahren, an denen sie noch nie gewesen war. Rosalyn fühlte sich geschmeichelt und war gern mit ihm zusammen, ganz gleich, wo. Aber um die Wahrheit zu sagen, machte sie sich nicht viel aus Reisen, und jetzt im Alter noch weniger. Sie war ganz zufrieden damit, zu Hause in Havanna ihren eigenen Angelegenheiten nachzugehen. Sie wusste, dass Benzin teuer war – eine Supersteuer, sagten manche Leute, für Menschen wie ihren Sohn, die mit ihrem Auto das Taxigeschäft betrieben –, und so sah sie keinen Sinn darin, hierhin und dorthin zu flitzen. Aber sie fuhr mit Duardo, weil ihm das offensichtlich Freude machte.
»Also gut. Wenn du darauf bestehst, mein Sohn.« Sie verstand, was er ihr sagen wollte, obwohl es nicht nötig war, es auszusprechen. Sie wusste, wie gut er sich im Leben geschlagen hatte. Außerdem war sich Rosalyn nicht sicher, ob sie bereit für einen Vorgeschmack auf das Paradies war – dazu war noch Zeit genug, falls sie dieses Glück haben sollte. Wenn es so etwas gab, wäre Tácito bestimmt dort. Sie fragte sich, worüber ihr Sohn reden wollte. Er musste etwas auf dem Herzen haben.
Cayo Levisa war genauso, wie Duardo versprochen hatte. Sie nahmen eine Fähre über das glatte, türkisfarbene Meer, die sie auf einer behelfsmäßigen Plattform in einer kleinen Mangrovenpflanzung absetzte. Ein Holzsteg führte zum Strand, einem langen Streifen aus weißem, pudrigem Sand, hinter dem eine mit Büschen bewachsene Graslandschaft und Palmen lagen. Das Meer war ruhig, und die Sonne fing die kleinen Kräusel und Wellen der Flut ein. Sie ließen sich unter kleinen Sonnendächern aus gewobenen Palmblättern auf Liegestühlen nieder. Es war heiß, aber es wehte eine leichte Brise, sodass sich Rosalyn wohlfühlte. Sie musste zugeben, dass es hier jedenfalls ruhig war – und ganz anders als in Havanna. Sie lehnte sich zurück, spürte die Wärme der Sonne auf ihrer Haut und roch die salzige, durchdringende Seeluft, die hier frischer war als in der Stadt und in die sich der scharfe Duft nach Algen und trockenen Muschelschalen mischte.
Aber Duardo war unruhig. Er stand auf, rannte über den weißen Sand und tauchte in das glitzernde blaue Meer ein, als glaubte er, er könnte wieder ein kleiner Junge sein. Rosalyn schnalzte nachsichtig mit der Zunge und holte ihr Stickzeug hervor. Das Licht war hier gut, das musste sie schon sagen – ausnahmsweise strengte die Arbeit ihre Augen nicht an.
Minuten später tauchte Duardo glatt wie ein Seehund wieder aus dem Meer auf. Er grinste sie verlegen an, trocknete sich ab und ging zur Strandbar, die zwischen den Palmen hinter ihnen stand, um frischen Ananassaft für sie beide zu holen.
Als er damit zurückkam, schüttelte Rosalyn den Kopf. »Ich hab doch was zu trinken für uns mitgebracht«, sagte sie vorwurfsvoll. »Das hatte ich dir gesagt. In der Tasche da ist Limonade. Ich hab sie heute Morgen selbst gemacht.« Misstrauisch musterte sie das Glas Ananassaft. »Wie viel hast du dafür bezahlt?« Es steckten Strohhalme darin, als könnten sie nicht aus dem Glas trinken wie normale Menschen, als wären sie Kinder oder Touristen.
»Entspann dich, Mami«, sagte er. »Lehn dich einfach zurück, und genieß es. Es ist nada, nichts.«
Rosalyn versuchte zu tun, was er sagte. Aber der Saft fühlte sich an ihren Zähnen kalt an, und außerdem konnte sie sich nie entspannen, wenn es um Geld ging. Wer konnte das, wenn es schon einmal eine Zeit gab, in der er keins hatte?
»Und was ist das Problem?«, fragte sie ihn, als er sein Glas abstellte, sich auf die Liege legte und die Augen schloss, als wolle er schlafen. Keine Chance. Sie hatte selten erlebt, dass er ein solches Unbehagen ausstrahlte.
»Probleme«, sagte er. Er setzte sich auf und stieß einen schweren Seufzer aus. »Immer gibt’s Probleme. Neulich beim Abendessen zum Beispiel.«
»Beim Abendessen?« Sie wusste, welches Essen er meinte. Duardos Ankündigung, er wolle demnächst in den Ruhestand gehen, war nicht so aufgenommen worden, wie ihr Sohn es erwartet hatte. Federico hatte Luis angesehen, und der Junge hatte seinen Blick beinahe schuldbewusst erwidert, als hätten sie irgendein Geheimnis … Sie hatten alle ziemlich verhalten darauf reagiert. So etwas sah einer kubanischen Familie gar nicht ähnlich, und Rosalyns Familie schon gar nicht.
»Ich hatte mehr von ihm erwartet.« Duardo runzelte die Stirn.
Von Luis, meinte er. Sie wusste, Duardo wollte, dass Luis das Geschäft ausbaute und alle Veränderungen nutzte, die gerade im Land stattfanden und noch kommen würden. Das war eine großartige Chance. Er hatte erwartet, dass Luis etwas sagen würde …
»Wahrscheinlich stand er unter Schock«, sagte Rosalyn. »Er wusste sicher nicht, wie er dir danken sollte.« Sie nahm sich vor, mit Federico zu reden. Er wusste Bescheid. Ihr gegenüber würde er offen sein, wenn sie es richtig anfing. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Rosalyn alles gewusst, was in ihrem Haushalt vorging, niemand hatte Geheimnisse vor ihr gehabt. Jetzt hielten sie alle für zu alt, um ihr etwas anvertrauen zu können. Aber nicht Duardo. Er wollte seine Probleme immer noch mit seiner alten Mutter besprechen.
Bei ihren Worten hellte sich Duardos Miene auf. »Unter Schock, ja«, pflichtete er ihr bei. »Wahrscheinlich hast du recht. Er muss über vieles nachdenken. Für den Jungen ist das eine große Verantwortung.«
Rosalyn schob den Gedanken an diesen schuldbewussten Blick beiseite. Später. Sie würde sich später damit beschäftigen. »Und was noch?«, hakte sie nach.
Duardo schaute unbehaglich drein. »Jaquinda«, sagte er.
»Aha.« Also, das war jetzt keine Überraschung.
»Wir schlafen nicht mehr miteinander, verstehst du?«, bemerkte er beiläufig.
Hielt er sie für dumm? Natürlich wusste sie das.
»Sie hat einen anderen. Seit Jahren.«
Auch das wusste Rosalyn. »Macht es dir etwas aus, mein Sohn?«, fragte sie ihn.
»Früher hab ich gedacht, es würde mir nichts ausmachen.« Er rückte seinen Strohhut zurecht, der ihn vor der Sonne schützte und wie üblich schief auf seinem Kopf saß.
»Und jetzt?«
»Es kommt mir unehrlich vor, das ist alles.«
Rosalyn zuckte mit den Schultern. »Sie ist Federicos Mutter«, sagte sie. So war das in Kuba. Wo sollte Jaquinda sonst hingehen? Ihr Leben hatte sich verbessert, sie hatten mehr zu essen, und Duardo konnte mit seiner Mutter in seinem amerikanischen Auto ans Meer fahren. Aber sie mussten immer noch mit Menschen zusammenleben, die sie nicht liebten. Sie hatten immer noch nicht die Freiheit, nach der sie sich sehnten. Wann würden sie diese Freiheit haben? Wenn Männer und Frauen ungehindert auf der ganzen Welt herumreisen konnten, wenn sie alles, was sie sich wünschten, kaufen konnten, wo sie wollten, wenn sie eine Frau oder einen Mann so leicht ablegen konnten, wie man die Schale einer Papaya wegwarf, was dann? Wären sie dann glücklich? Sie beobachtete ihren Sohn genau. Sie hatte schon immer an klare Worte geglaubt. »Aber du musst dich doch nach einer Frau sehnen?«
»Manchmal.« Der Hut war ihm noch tiefer über die Augen gerutscht.
Jetzt war es Rosalyn, die seufzte. Sie schob ihr Stickzeug auf dem Schoß herum. Es war natürlich, dass ein Mann eine Frau wollte, aber Sex war in Kombination mit Liebe besser. Viel befriedigender, wie ein gutes selbst gekochtes Essen mit Huhn, weißem Reis und schwarzen Bohnen. Und er hatte das beste Vorbild gehabt. Tácito hatte nie eine andere Frau begehrt und sie nie einen anderen Mann.
»Vielleicht hättest du sie heiraten sollen«, meinte sie, »dann hätte sie wenigstens mehr Respekt vor dir.«
Duardo schwang die Beine über die Kante der Liege. Gute, starke Beine, dachte sie. Früher hatte sie gern getanzt, und auch auf diesem Gebiet schlug Duardo ihr nach. Tácito hatte es beim Shimmy und beim Cha-Cha-Cha mit jedem aufnehmen können, aber er war kein Mann gewesen, der sofort aufsprang, wenn Musik gespielt wurde. Duardo dagegen … Selbst als Junge hatte er schon nicht widerstehen können. Es lag ihm im Blut und war tief in seiner Seele verankert.
»Du weißt, warum ich das nicht tun konnte«, sagte er.
Sie schon wieder. Rosalyn zuckte kurz mit den Schultern und wandte sich wieder ihrer Handarbeit zu. Elisa Fernández García. Die einzige Frau, die je eine Bedrohung für Rosalyn gewesen war. Die einzige Frau, die in der Lage gewesen wäre, ihr ihren Sohn wegzunehmen, und die das auch getan hatte, zumindest eine Zeit lang.
Abrupt stand Duardo auf und ging davon, wieder in Richtung Meer. Wenn Rosalyn die Augen fast ganz schloss, versetzte das Glitzern der Sonne auf dem bewegten Wasser sie in die Vergangenheit zurück, und sie konnte sich vorstellen, er wäre wieder ein kleiner Junge. Wie hatte sie diesen Jungen geliebt! Sie hätte ihm alles gegeben. Tácito hatte das gewusst. Er hatte sie sogar gewarnt, aber sie hatte nicht auf ihn gehört. Das hätte sie tun sollen. Sie hätte sich zurückhalten und Duardo nicht jede Faser ihres Herzens schenken sollen.
Rosalyn rückte ihr Halstuch zurecht und lehnte sich ein wenig zurück, damit die Sonne ihr nicht in die Augen stach. Sie konnte nachvollziehen, dass er desillusioniert war. Sie hatte Verständnis dafür, dass er ein Mensch war, für den es nur alles oder nichts gab, und dass er von anderen das Gleiche erwartete. Aber wenigstens hatte Duardo schwer gearbeitet und es im Leben zu etwas gebracht. Man brauchte ihn jetzt nur anzusehen – er fuhr seine alte Mutter nach Cayo Levisa und kaufte ihr frischen piña-Saft. Und außerdem … Er hatte immer noch Zeit, die Liebe zu finden – er könnte noch zwanzig Jahre oder länger leben.
Sie sah ihm nach, während er ins Meer watete, in die Wellen sprang und dann hinausschwamm. Weiter draußen wurde das türkisfarbene Wasser dunkler wie die Mitte eines Edelsteins, und der Horizont in der Ferne war von einem grauen, scheckigen Purpur. Alles, was sie hörte, war das Rauschen, mit dem die Brandung auf den Sand und die Muscheln traf, das Strömen des Wassers und ab und zu Vogelgezwitscher.
»Kehr um«, flüsterte sie. »Schwimm nicht zu weit raus.« Sie wollte ihn nicht zurückhalten, das hätte sie nie getan. Sie wollte einfach, dass er seine Wurzeln achtete, sich daran erinnerte, was früher gewesen war, und in Sicherheit war.
Die Zeit verging. Gerade, als sie nach ihm rufen wollte – Duardo! Komm jetzt raus. Komm bitte raus! –, drehte er um. Rosalyn merkte, dass sie schon halb von ihrer Liege aufgesprungen und angespannt wie eine Straßenkatze war. Was war nur los mit ihr? Er war ein erwachsener Mann.
Braun wie kubanischer Kaffee und tropfend kam er aus dem Wasser, und seine Haut schimmerte in der Sonne. Er war immer noch ein schöner Mann, dachte sie, genau wie sein Vater. Und oh, sie war stolz auf ihn.
Er kam den Strand hinauf, blinzelte sich immer noch das Wasser aus den Augen und schnappte sich ein Handtuch.
»Du hast mir nie erzählt«, sagte Rosalyn, »warum sie nicht geblieben ist.«
»Bitte?«
»Das zweite Mal. Als Elisa Fernández García noch mal nach Kuba gekommen ist. Wolltest du sie nicht, mein Sohn?« Das wollte Rosalyn natürlich hören.
Er rieb sich das Haar trocken. Seine dunklen Locken wurden grau, aber sein Haar war bestimmt noch weich, und Rosalyn wünschte, sie könnte es berühren.
»Ich wollte sie.« Seine Stimme war leise. »Ich habe alles getan, was ich konnte, damit sie blieb.«
Wieder schnalzte Rosalyn mit der Zunge. Aha. Das Mädchen hatte eine zweite Chance gehabt, und trotzdem hatte sie sie weggeworfen. Das rechtfertigte ja wohl, was Rosalyn getan hatte, oder? »Sie war wohl nicht interessiert, was?«, fragte sie. »Hatte in England ein besseres Leben gefunden, ja?«
Er legte das Handtuch weg und sah sie an. »Ich glaube nicht, nein.«
Damit hatte Rosalyn nicht gerechnet. »Das zeigt, wie wenig sie an dich gedacht hat.« Sie konnte nicht anders. Es war gemein, und sie hasste es, ihn zu verletzen, aber die Bitterkeit war immer noch in ihr und legte ihr manchmal solche Worte in den Mund.
Duardo sah sie mit einer Miene an, bei der sie schreckliche Angst hatte, sie könnte Mitleid ausdrücken. »So war das nicht, Mami«, sagte er.
Es sah jedenfalls so aus. Was meinte er? Rosalyn beschäftigte sich weiter mit ihrer Handarbeit. »Menschen gehen fort«, sagte sie in einem Ton, der ihn besänftigen sollte. »Immer sind Menschen aus unserem Land fortgegangen.«
»Sie hat gedacht, ich wäre tot«, sagte Duardo.
»Und du hast ihr geglaubt?« Man höre sie an. Was eine Mutter alles aus Liebe tat.
»Ja.« Bildete Rosalyn sich das ein – oder musterte er sie eingehender?
Rosalyn beugte sich über ihre Stickarbeit und schenkte ihr mehr Aufmerksamkeit, als sie verdiente. »Aber als sie dann festgestellt hat, dass du noch am Leben bist …« Sie ließ die Worte so stehen. Mehr brauchte sie nicht zu sagen.
»Da hatte sie bereits ein Versprechen abgegeben.« Duardos Stimme klang jetzt todtraurig, und Rosalyn bedauerte, das Thema angesprochen zu haben. Immer wenn sie über Elisa redeten, trat sie ins Fettnäpfchen und sagte Dinge, die sie nicht hatte sagen wollen.
»Einem anderen Mann?«, vermutete sie.
»Einem anderen Mann und seiner Tochter. Der Mann hatte ihr Geld für ihre Familie gegeben. Deswegen musste Elisa zurück nach England. Alles andere wäre nicht fair gewesen.«
»Hm.« Rosalyn versuchte, ihre Stimme skeptisch klingen zu lassen, aber tatsächlich war sie sich eines seltenen Anflugs von Bewunderung für Elisa bewusst. Wenigstens hatte sie sich anständig verhalten.
Sie tippte auf die Uhr, die Duardo ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte. »Wir müssen die Fähre erwischen«, sagte sie zu ihm. Zu Hause waren die Hausarbeit zu erledigen und das Essen zu kochen. Nach dem Abendessen würde sie Federico beiseitenehmen und mit ihm reden. Geheimnisse waren gut und schön, aber Rosalyn würde nicht zulassen, dass man in ihrem eigenen Haus etwas vor ihr verbarg. Und sie würde sich auch nicht mit ihren eigenen Geheimnissen beschäftigen.
Sie sah aufs Meer hinaus. Die Wellen peitschten jetzt das türkisfarbene Wasser auf, und am Horizont stand ein rosiges Licht, das in Schwarz überging. Rosalyn fröstelte. Sie spürte, dass Veränderungen in der Luft lagen, und das gefiel ihr nicht – ganz und gar nicht.